WIEN / MIGRATION: Langer Tag der Flucht

von Dimitré Dinev, Gabi Peissl, EBF, 09.11.2023, Veröffentlicht in Archipel 330

Die Veranstaltung fand am 6. Oktober 2023 in der Wiener Brunnenpassage statt.[1] Alle präsentierten Organisationen waren von Menschen mit Flucht- und/oder Migrationserfahrung gegründet worden. Eines der wichtigsten Anliegen ist mehr Sichtbarkeit in der Gesellschaft und mehr politische Teilhabe im «Aufnahmeland» – unabhängig von Religion oder Herkunftsnation. [2]

Sabiha Moradi von der Interessensgemeinschaft afghanischer Schüler und Studenten IGASUS unterstrich die Schwierigkeiten junger Migrant·innen, die weder in der Herkunftscommunity noch in der neuen Lebenswelt Gehör für ihre Anliegen finden. «Jungen Menschen traut man nichts zu, den Frauen noch weniger». Daher baut der Verein eigene Strukturen auf. Gesucht werden Mentor·innen, Praktikumsstellen und Jobs – also Chancen für die jungen Afghan·innen, sich beweisen zu können. Gleichzeitig werden Workshops zur politischen Teilhabe angeboten. Unter anderem die Teilnahme an einem Vernetzungstreffen auf europäischer Ebene in Brüssel beim «International Day of Parliamentarism».[3]

Neben den diversen engagierten Stellungnahmen und Informationen, hat uns ein literarischer Beitrag von Dimitré Dinev besonders angesprochen. Der Text ist aus der Perspektive eines afghanischen Kindes geschrieben. Dinev ist Autor mehrerer Romane und Theaterstücke. Durch das Buch «Mit Engelszungen» wurde er bekannt.

Oben

Masud schaut gerne in den Himmel, wo die Sterne sind, wo die Wolken sind, wo viel Platz zum Träumen ist, denn er träumt davon, eines Tages Pilot zu werden. Masud hat Erfahrungen gemacht, wofür man gewöhnlich drei Leben braucht, dabei ist er noch ein Kind. Seine Kindheit ist aber zerronnen, verschlungen von dem kargen Boden des väterlichen Hofes in Afghanistan. Und was davon übriggeblieben ist, wurde unterwegs verschüttet. Mal in einem Krämerladen in Pakistan, mal in einer Backstube im Iran, mal durch das Schaukeln der Lastwägen, die ihn durch die Türkei schmuggelten oder jenes der Boote, die ihn nach Griechenland, später nach Italien bringen sollten. Seine Kindheit ist zerronnen zwischen zwei Kontinenten, versunken in Erde und Wasser und Sand. Das Schicksal hat ihn mehrmals geprüft, nun prüfen ihn die österreichischen Beamten. Aber worüber prüft man ein Kind? Worüber prüft man ein Kind, dessen Vater ermordet in Afghanistan und dessen Mutter krank in Pakistan liegt. Worüber prüft man ein Kind, das schon mit zehn Jahren arbeiten und mit 14 die halbe Welt allein durchreisen musste, das Gegenden und Verhältnisse kennen gelernt hat, die seine zukünftigen Geografie- und Geschichtslehrer nur von Landkarten und Büchern kennen. Worüber prüft man ein Kind, dessen Lehrer die Not und das Elend waren, das die strengsten Prüfungen der Welt schon bestanden hat. Und sogar wenn es sie nicht bestanden hätte und bestehen müsste, worüber prüft man eigentlich ein Kind. Was muss es vorweisen, damit entschieden werden kann, ob es in einer Gesellschaft aufgenommen wird oder nicht. Verhält es sich nicht eher umgekehrt? Eigentlich prüft jedes Kind die Gesellschaft. Wie reich sie ist, wie sozial, wie entwickelt, wie barmherzig, wie gut. Denn danach, wie wichtig einer Gesellschaft die Kinder sind, kann man ermessen, wie wichtig ihr auch die Zukunft ist.

Anscheinend bekommt ein Kind leichter einen Platz im Himmelreich als Asyl in Österreich. Masud ist ohne Eltern nach Österreich geflohen, er ist noch ein Kind, und da er noch ein Kind ist, träumt er gerne. Er will Pilot werden. Er ist auf seiner Flucht gelaufen und gefahren und geschwommen. Nun will er fliegen. Denn von dort oben schauen so klein und so unsichtbar all jene Menschen aus, die über sein Schicksal entscheiden wollen.

Dimitré Dinev, zusammengestellt von Gabi Peissl, EBF-Österreich

  1. Die Veranstaltung wurde vom UNHCR unterstützt

  2. Mehr Infos unter: www.langertagderflucht.at

  3. Mehr Infos unter: igasus.at

«Wo eine Grenze ist, gibt es auch Ausgrenzung. Wir alle haben sie überschritten, deswegen sind wir hier. Wir haben sie überschritten, nicht nur um uns zu retten, sondern weil wir bereit sind, auf die anderen zuzugehen. Diese Bereitschaft formt sowohl den Menschen als auch die Gesellschaft. (…) Am leichtesten politisch instrumentalisieren lassen sich jene, die keine Stimme haben. Flüchtlinge gehören dazu. Es gibt kaum eine andere Minderheit, die häufiger politisch missbraucht wurde als sie.»

Verein Ariadne «Wir Flüchtlinge für Österreich» www.ariadne.or.at/