100 JAHRE RUSSISCHE REVOLUTION: Möglichkeiten auf andere Enden?

von Bini Adamczak, 21.10.2017, Veröffentlicht in Archipel 263

Wir publizieren hier, mit freundlicher Genehmigung der Autorin Bini Adamczak, ein Kapitel ihres neuerschienen Buches «Der schönste Tag im Leben des Alexander Berkman – Vom womöglichen Gelingen der Russischen Revolution».

Die Zukunft der Revolution war noch nicht entschieden, als eine Gruppe von 249 politischen Gefangenen aus den USA im Januar 1920 Russland erreichte. Unter ihnen befanden sich auch die Anarchistinnen Alexander Berkman1 und Emma Goldman2.
Für beide stellte die Ankunft zugleich eine Rückkehr dar. Sie waren in Russland geboren und hatten dort, vor der Emigration in die USA, ihre Jugend verbracht. Allerdings kehrten sie trotz freudiger Erwartungen nicht freiwillig in jenes Russland zurück, das sich seit ihrer Ausreise so radikal und in ihrem Sinne gewandelt hatte. Sie waren direkt aus den US-amerikanischen Haftanstalten in die junge Sowjetrepublik abgeschoben worden. Das sozialistische Russland begrüßte sie mit Begeisterung.
Für Alexander Berkman war es nicht die erste Erfahrung mit der Solidarität russischer Arbeiterinnen. Er hatte bereits mehrere Male im Gefängnis gesessen, das erste Mal zwischen 1892 und 1906, nach einem gescheiterten Attentat auf den Kapitalisten Henry Clay Frick, der auf streikende Arbeiterinnen hatte schießen lassen, ein weiteres Mal 1917. Bereits dort hatten Kronstädter Matrosinnen gedroht, den US-Botschafter in Petrograd als Geisel zu nehmen, wenn sich die Situation von politischen Gefangenen wie Berkman nicht bessern sollte. Dieses Mal jedoch war die Erfahrung internationaler Solidarität überwältigender:
«Die Revolutionshymne, gespielt von einer Kapelle der roten Armee, begrüßte uns, als wir die Grenze überschritten. Die Hurras der rotbemützten Soldaten, vermischt mit dem Jubel der Deportierten, hallten durch den Wald und verebbten in der Ferne als ein Zeichen der Freude und des Trotzes. Barhäuptig stand ich inmitten der sichtbaren Symbole der siegreichen Revolution. Ein Gefühl von Erhabenheit, von Ehrfurcht überkam mich. So mussten sich meine frommen Vorfahren gefühlt haben, als sie zum ersten Mal das Allerheiligste betraten. Ich spürte das Verlangen, auf die Knie zu fallen und den Boden zu küssen – diesen Boden, der geweiht ist mit dem Herzblut von Generationen, ihrem Leiden und ihrem Martyrium, und gesegnet von den Revolutionären meiner Tage. Niemals zuvor, nicht einmal im ersten Glücksgefühl der Freiheit an jenem denkwürdigen Tag im Mai 1906 – nach 14 Jahren im Staatsgefängnis von Pennsylvania – bin ich so aufgewühlt gewesen. Mir war danach, die ganze Menschheit zu umarmen, ihr mein Herz zu Füßen zu legen, mein Leben tausendfach im Dienst der sozialen Revolution hinzugeben. Es war der schönste Tag meines Lebens.»
Wie erklärt sich der Superlativ?
Der schönste Tag im Leben des Alexander Berkman war der Tag seiner Ankunft im Land der Revolution. Wie lässt sich diese Auskunft verstehen, wie lässt sich das Glück, von dem sie handelt, begreifen? Wie erklärt sich der Superlativ, zu dem Berkman greift, lebensgeschichtlich und zeitgeschichtlich? In welchem Verhältnis stehen Persönliches und Politisches hier? Haben diese Einteilungen der Welt in jener Erfahrung noch Bestand? Was ist, wenn es das gibt, universelle Intimität? Wie lässt sich, mit anderen Worten, die ganze Welt umarmen?
Zunächst irritieren die Versatzstücke religiöser Diskurse, die sich wie Störgeräusche in die Beschreibung eines zwar äußerst seltenen, aber dennoch vollkommenen irdischen Glücks mischen. Auch Emma Goldman beschrieb ihre Ankunft in der sozialistischen Republik mit religiösen Figuren: «Sowjetrussland! Geheiligter Boden, magisches Volk! Nun bist du zum Symbol der Hoffnung der Menschheit geworden, du allein bist dazu bestimmt, die Menschheit zu erlösen!». Was bedeutet es, dass Goldman den Boden der Revolution heilig nennt, dass Berkman sich beim Betreten des roten Bodens Russlands an seine Vorfahren erinnert, die das «Allerheiligste» betreten? Und warum verspürte er gerade in dem Moment, in dem das Leben schön, am schönsten war, das Verlangen danach, es hin zu geben und nicht nur einmal, sondern gleich tausendmal?
Schließlich haben nichtreligiöse Menschen nur ein Leben, geben sie es hin, ist es weg. Das ist der Unterschied zwischen einem revolutionären und einem religiösen Martyrium, das sich vorrangig nicht mit einer jüdischen Tradition verbindet, aus der Berkman biographisch stammt, sondern mit einer christlichen. Das religiöse Martyrium wird mit ewigem Leben im Himmel belohnt, es ist also kein eigentliches. Auf das erstere, säkulare, steht andersrum die Strafe des ewigen Todes. Wer sein Leben für die Revolution opfert, opfert es der Revolution anderer Lebender. Die Toten kehren zwar wieder, aber als Tote – für die Lebenden. Als Erinnerte, als Vererbende leben sie und mit ihnen ihre Ansprüche auf ein besseres zukünftiges Leben fort.
In diesem Sinne einer «schwachen messianischen Kraft», wie Walter Benjamin die Verbindung zwischen den vergangenen und den gegenwärtigen Generationen nannte, lässt sich die Beziehung entschlüsseln, die Berkman zwischen den Generationen von Leidenden einerseits, den Revolutionären der Gegenwart andererseits zieht. Letztere sind, wie Benjamin es ausdrückte, «erwartet worden». Die aus der Vergangenheit rührende Hoffnung auf Befreiung entstammt zugleich auch der Vergangenheit Alexander Berkmans selbst. Aufgrund seiner jahrzehntelangen Inhaftierung hatte der Begriff der Freiheit für ihn einen sehr konkreten, materiellen Gehalt. Nicht einmal das Glück der Befreiung nach vierzehn Jahren Gefängnis jedoch konnte an das Gefühl heranreichen, das die Ankunft in der Revolution bedeutete. Erschien ihm die Freiheit, die er in Russland vermutete, als umfassender, tief greifender, realer als die Freiheit der Entlassung aus dem Gefängnis, weil er wusste, dass im Kapitalismus außerhalb des Gefängnisses nicht die Freiheit beginnt, sondern lediglich ein umfassendes Kerkersystem von Einschließungen, Bevormundungen, Vereinzelungen, Beschränkungen, aus dem sich nur revolutionär entkommen lässt? Alexander Berkman wusste, wovon er sprach, er war auch nach seiner Entlassung immer wieder verhaftet und für mehrere Jahre – teils in Isolationshaft – inhaftiert worden, was seiner Gesundheit schweren Schaden zugefügt hatte.
Eine nicht erfüllte Sehnsucht
Allerdings entsprach auch die Freiheit Sowjetrusslands nicht der von ihm erwarteten. Berkman, der bereits mit Zweifeln eingereist war, sollte darüber bald nach seiner Ankunft Sicherheit erhalten. Die gegen alle Autoritäten gerichtete Revolution mündete in eine autoritäre Restauration. War das Glück, das Berkman spürte, also vor allem Ausdruck einer Verkennung der Realität? Ein Rausch, der tatsächlich jenem ähnelt, den Gläubige erleben, wenn sie einen heiligen Ort betreten? Eine Illusion, die Erlösung von vergangenen Traumata und Heilung gegenwärtiger Leiden vorspiegelt und sie für einen Moment als Placebo – Quacksalberei, Schindluder, Magie – gewährt? Durfte der Anarchist glauben, in einer Welt angekommen zu sein, deren notwendige Beschaffenheit ihm aus einer kollektiv geteilten Sehnsucht bekannt war oder verwechselte er seine individuellen Wünsche mit gesellschaftlichen Realitäten? Sollte der schönste Tag dieses Lebens wirklich das Ergebnis einer Abschiebung sein? Hätten nicht andere Erfahrungen näher gelegen? Der erste Kuss, die zweite Hochzeit, ein Urlaubstag am Meer?
Solche Fragen werden ermöglicht von dem spezifischen Diskurs der Psychologie oder Psychoanalyse, der Alexander Berkman und seinen Genossinnen zum größten Teil unbekannt war. Der mit ihm auftretende Zweifel, ob es sich bei dem, was den Subjekten als ihr Innerstes erscheint, als Beweggrund, als Affektursache, nicht möglicherweise um den Effekt einer Selbsttäuschung handeln könnte, stellte sich ihnen in dieser Form nicht. Anders als bei nachkommenden Revolutionärinnen, muss die politische Erfahrung bei Berkman oder Goldman nicht beständig gegen den psychologischen Zweifel verteidigt werden, hinter den hehren revolutionären Zielen versteckten sich banale private Motive.
Aber verstellt die individualpsychologische Methode nicht ohnehin die Spezifik einer historischen und sozialen Erfahrung? Ist die Familie wirklich mit Notwendigkeit prägender als die Gemeinde, das Private emotionaler als das Öffentliche, der sexuelle Impuls ursprünglicher als der politische? Oder handelt es sich bei diesem Eindruck um den Effekt eines modernen Spaltungsregimes? Wäre es nicht möglich, den psychologistischen Verdacht umzudrehen, um jene Erfahrung verstehbar zu machen, die Alexander Berk-man auch für uns Nachkommende erinnert? Vielleicht ist die Sehnsucht nach der Revolution nur ein Substitut für die Sehnsucht nach Liebe und die Sehnsucht nach Liebe nur ein Substitut für die Sehnsucht nach den Eltern. Aber vielleicht ist die Sehnsucht nach den Eltern, die daher rührt, dass sie unbefriedigt blieb, nur ein Platzhalter für die Sehnsucht nach einer wirklichen Liebe und die Sehnsucht nach der Liebe nur ein schwacher Ersatz für die Sehnsucht nach einem Leben in zärtlicher Solidarität ohne Angst und Erniedrigung, in dem es für private Liebe und privatisierte Elternschaft keine solche Dringlichkeit mehr gäbe. Das Glück, das Alexander Berkman spürte, und das Menschen, die ihr Leben in den Grenzen bürgerlicher Gesellschaften haben fristen müssen, fremd erscheinen dürfte, speist sich aus dieser Sehnsucht. Eine Sehnsucht, die nicht erfüllt wurde. Bis heute nicht.
Alexander Berkman erfuhr, wie so viele Reisende vor und nach ihm, eine baldige Enttäuschung seiner ersten Hoffnungen. Sein Buch «Der bolschewistische Mythos» (1925) berichtet davon. Sein abschließendes Urteil bezeugt die Verkehrung des anfänglichen Glücks ins schließliche Unglück:
«Grau vergehen die Tage. Die Glut der Hoffnung ist erloschen. Terror und Despotie haben das im Oktober entstandene Leben ausgelöscht. Die Schlagworte der Revolution sind leeres Geschwätz, ihre Ideale im Blut der Menschen ertränkt. Der Hauch der Vergangenheit verurteilt Millionen zum Tod, der Schatten der Gegenwart hängt wie eine schwarze Wolke über dem Land. Die Diktatur stampft die Massen nieder. Die Revolution ist tot, ihr Geist in die Wüste verbannt.»
Warum verschwand hinter dieser Enttäuschung nicht die anfängliche Hoffnung? Warum ließ Alexander Berkman in seinem offensichtlich editierten Tagebuch trotz des ernüchternden Endes den euphorischen Anfang stehen? Statt ihn zu löschen oder zumindest abzuschwächen? Weiterhin ist dort zu lesen, dass der Tag seiner Ankunft im revolutionären Russland der schönste Tag seines Lebens war. Als könnte diese Erfahrung nicht gänzlich vom späteren Wissen überschattet werden. Ganz ähnlich wie die Erinnerung an andere Liebesgeschichten nicht notwendig vom kümmerlichen Ende, das sie nahmen, ausgelöscht wird. Das wäre der Fall nur, wenn dieses Ende nicht nur bereits im Anfang angelegt gewesen wäre, sondern wenn sich in der Anlage des Anfangs ausschließlich dieses Ende gefunden hätte – und nicht noch andere, glücklichere. Wenn das enttäuschende Ende des hoffnungsvollen Anfangs also notwendig gewesen wäre, unvermeidbar. Wenn es aber andersherum noch Möglichkeiten auf ein anderes Ende, auf andere Enden gab, war die Freude über die Erfahrung der Freiheit mehr als eine Täuschung und die Ankunft in der sozialistischen Räterepublik tatsächlich der schönste Tag im Leben des Alexander Berkman. Dafür argumentiert dieses Buch.

Der schönste Tag im Leben des Alexander Berkman. Vom womöglichen Gelingen der Russischen Revolution, Taschenbuch, edition assemblage, Münster, 152 Seiten, 12.80 Euro, ISBN 978-3-96042-026-2 | WG 2-973
Neuerscheinung Oktober 2017

  1. Alexander Berkman, ursprünglich Owsei Ossipowitsch Berkman (geb. 21. November 1870 in Vilnius, Russisches Kaiserreich; gest. 28. Juni 1936 in Nizza, Frankreich durch Suizid) war ein Anarchist und Schriftsteller. Er war ein führender Aktivist der anarchistischen Bewegung in den USA und arbeitete dort eng mit Emma Goldman zusammen, organisierte Kampagnen für Menschenrechte und gegen den Krieg. Sein «ABC des Anarchismus» wird bis heute verlegt.
  2. Emma Goldman (geb. 15.Juni 1869 in Kowno, heute Litauen; gest. 14. Mai 1940 in Toronto, Kanada) war eine vor allem in den Vereinigten Staaten und Europa aktive Anarchistin, Friedensaktivistin, Antimilitaristin, Atheistin und feministische Theoretikerin. Sie wurde bekannt durch ihre Schriften und Reden als «rebellische Frau». Goldman spielte eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung einer anarchistischen politischen Philosophie in den USA und in Europa in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.