ÄGYPTEN: Anatomie eines Aufstands und dessen Repression

von Tonaufnahme: Nicholas Bell Transkription: Gabi Peissl, 06.08.2017, Veröffentlicht in Archipel 261

Philip Rizk, Filmemacher und Aktivist aus Kairo, war im März 2017 bei einem Treffen des EBF in der Schweiz zu Gast. Er berichtete über die Situation während und nach den Aufständen in Ägypten. Hier der erste Teil der Tonaufnahmen seines Vortrags.1

Ich bin Philip, ich bin Filmemacher und Aktivist aus Kairo. Mein Vater ist Ägypter und meine Mutter Deutsche – daher diese Mischung. Da ich Filmemacher bin, denke ich sehr oft über Bilder nach und schreibe über Bilder. Daher werde ich heute Bilder zeigen, wenn auch sehr wenige. Ich will heute über fünf spezifische Tage in der ägyptischen Geschichte aus den letzten acht bis neun Jahren sprechen. Noch einmal zurück zu der Idee, nicht so viele Bilder zu zeigen: Hier müsst ihr euch die Bilder vorstellen. Es ist eigentlich ein grosses Problem, dass manchmal sehr viele Bilder aufgenommen und ausgestrahlt werden und andere nie aufgenommen werden.
Fangen wir mit dem ersten Tag an. E s ist der 6. April 2008: Dieser Tag ist dafür bekannt, dass eine Demonstration angesagt wurde, aber diese Demonstration, hat nie stattgefunden. Wir befinden uns in der Stadt al-Mahalla al-Kubra im Nildelta; hier befinden sich Ägyptens grösste Textilfabriken. Das ist eine Industrie, welche die Engländer aufgebaut haben. Sie förderten sehr stark die Produktion von Baumwolle. In den Jahren davor, 2006 und 2007, ist innerhalb einer der Textilfabriken eine sehr starke Protestbewegung entstanden. Sie realisierte Demonstrationen, wie wir sie seit Jahren in Ägypten nicht gesehen hatten. Es ging um die Bedingungen in den Fabriken, um bessere Löhne und bessere Arbeitsverhältnisse.
Entscheidende Daten des Aufstands
Im Jahr 2008 hat es eine Lebensmittelkrise gegeben. Am 6. April 2008 war wieder eine Demonstration in dieser Fabrik angekündigt. Ihr müsst euch vorstellen, dass in al-Mahalla al-Kubra in jeder Familie ein Mitglied oder ein Verwandter in dieser Fabrik gearbeitet hat. Zu diesem Zeitpunkt stiegen die Preise und die Leute waren wütend. Als die Arbeiter diese Demonstration angesagt hatten, einigte sich schliesslich die Unternehmensleitung mit der Belegschaft und der drohende Streik wurde abgesagt. Die Leute in der Stadt hatten aber auf den Streik gewartet. Dazu gab es auf der Strasse eine Auseinandersetzung zwischen einer älteren Frau und einem Polizisten. Der Polizist hat die Frau gestossen und es kamen Leute dazu, um sie zu verteidigen. Aus diesem kleinen Anlass entwickelte sich eine Demonstration, bei der mehr oder weniger die ganze Stadt auf die Strasse ging.
In Ägypten haben wir einen Zentralsicherheitsdienst. Der ist eigentlich ein Arm des Militärs, aber seine Mitglieder sind nicht wie das Militär gekleidet. Sie sind aus fünf anderen Regionen nach al-Mahalla al-Kubra gekommen, um die Stadt zu umzingeln. Menschen wurden angegriffen, andere verhaftet, und es ist auch ein Junge gestorben. An diesem Tag ist auch ein Fernsehwagen von Al Jazeera in die Stadt gefahren. Alles, was die Journalisten gefilmt hatten, wurde ihnen vom Staat beschlagnahmt und nur wenige Bilder sind an die Öffentlichkeit gelangt. Für viele Menschen war das eine erste Phase der grossen Revolte, die dann 2011 anfangen sollte. 2008 hatte es der Staat noch geschafft, den Aufstand zu umzingeln und klein zu halten.
Am 23. Januar 2011 gab es in der Stadt Sues eine Demonstration. Bekannt ist die am 25. auf dem Tahrir-Platz in Kairo, aber schon am 23. gab es eine Solidaritätsdemonstration mit Tunesien. Und schon in Sues ist ein Demonstrant durch die Staatsgewalt umgebracht worden. Für den 25. hatten die Aktivistinnen und Aktivisten aus der Mittelschicht eine Demonstration angesagt. Dem Aufruf sind mehrere tausend Leute auf den Tahrir-Platz gefolgt. Am Ende des Tages schaffte es der Staat allerdings wieder, die Menschenansammlung aufzulösen. Erst am 28., als im ganzen Land Demonstrationen stattfanden, die Polizeistationen angegriffen wurden, viele Polizisten flohen und deren Stationen in Brand gesteckt waren – erst da wurde der Staat richtig angegriffen. Erst diese Situation hatte es möglich gemacht, dass wir einen Platz wie den Tahrir besetzen und dort bleiben konnten. Aber die Kameras hoben immer nur den Tahrir-Platz hervor, von oben gefilmt, und nicht die brennenden Polizeistationen.
Philip zeigt während seines Vortrags einen seiner Kurzfilme und kommentiert:

  1. September 2012, ein kleines Dorf Tahsin (Film von 8 min.). Behaltet bitte den letzten Satz in Erinnerung: «Der 25. Januar ist nur die Tür, die das Dunkel herein gelassen hat.»
    Wie die Dorfbewohner gesagt haben: Die Regierung hatte versprochen, eine Strasse zu bauen, aber sie ist eben nicht sehr weit gekommen. Es war keine Geschichte mehr in den Medien und sie hat das Strassenprojekt fallen gelassen. Das ist ein Beispiel, wie es sich in Ägypten zwischen 2011 und 2013 ausserhalb des Tahir-Platzes abgespielt hatte. Ich komme gleich noch auf den letzten Satz des Mannes aus dem Video zurück. Doch vorher noch etwas zu dem vierten Datum.
    Demonstration und Mani-pulation
    Am 30. Juni 2013 war eine Demonstration geplant, die der Staat erlaubt hatte – was davor noch nie passiert war und seitdem auch nicht mehr vorkommen sollte.
    Es gab eine Bewegung gegen die Muslimbrüder, weil diese die gleiche Politik wie das Mubarak-Regime fortführten. Während der Regierung der Muslimbrüder wurde die Macht zwischen ihnen und dem Militär geteilt. Manchen Leuten hat das nicht gefallen. Und es waren genau diese Leute, die diese Demonstration am 30. Juni erlaubten und gefördert hatten. Das heisst: Über die staatlichen und auch über private Fernsehsender wurden die Leute aufgefordert, am 30. Juni demonstrieren zu gehen – was davor noch nie vorgekommen war und später auch nicht mehr geschehen sollte.
    Zur gleichen Zeit liefen überall Programme, was während der Regierung der Muslimbrüder alles falsch gelaufen war im Land. Das bedeutet, dass die Wut, die hinter der Demonstration am 30. Juni stand, echt war, dass sie aber von bestimmten Leuten ausgenutzt wurde.
    Am 30. Juni war ich mit vielen anderen auf der Strasse. Aber auf der Demonstration, an der ich teilgenommen habe, waren nur ein paar hundert Leute. Denn wir haben sowohl gegen die Muslimbrüder als auch gegen das Militär demonstriert. Im Fernsehen war gesagt worden, wie man demonstrieren sollte. Den Leuten wurde gesagt, sie sollten nicht gegen das Militär demonstrieren, weil jetzt nicht der richtige Zeitpunkt dafür wäre.
    Unsere Demonstration wurde immer kleiner, weil so viele Leute auf der Strasse waren, die gegen die Muslimbrüder waren und gleichzeitig gegen uns, weil wir gewagt hatten, auch gegen das Militär zu demonstrieren. Und wir wurden von diesen Demonstranten angegriffen. Nach wenigen Stunden sind wir nach Hause gegangen, weil die Situation völlig ausser unserer Kontrolle geraten war. Innerhalb von drei Tagen hat dann General El-Sisi seinen Putsch ausgeführt – unterstützt durch die Legitimität von diesen Hunderten von Tausenden auf der Strasse, die er für sich vereinnahmt hatte.
    Erweiterter Faschismus
    Diese Putschsituation hat es dem Militärregime ermöglicht, seinen Faschismus zu erweitern. Ich habe zwar mein ganzes Leben lang unter einem faschistischen System gelebt, aber nach diesem Datum ist es noch repressiver geworden als zuvor, weil das Militär seine Autorität erst wieder einführen musste. Denn während zweieinhalb Jahren hatte es seine Autorität und Kontrolle verloren.
    Die Logik, die sie benützt haben, ist sehr ähnlich wie diejenige, welche die Nazis gegenüber den Juden gebraucht hatten. «Die Juden haben für die Bolschewiken agiert – und die Muslimbrüder haben für den Terror agiert.» Beide dieser Gruppen wurden so dargestellt, als ob sie den Staat kaputt machen wollten. Dabei hatten die Muslimbrüder gegen uns genauso Gewalt benützt wie das Mubarak-Regime und wie es seither das Sisi-Regime tut. Sie griffen unsere Demonstrationen an, nahmen Leute fest und folterten sie. Das Sisi-Regime wirft den Muslimbrüdern stattdessen vor, dass sie den Terrorismus gegen den Staat eingesetzt hätten. Es handelt sich um ein Spiel, welches dem Militärregime erlaubt, sich wieder zu etablieren.
    Repression und hohe Preise
    Das letzte Datum, von dem ich euch erzählen will, ist der 11. November 2016: Für diesen Tag war wieder eine Demonstration angesagt; wir wissen allerdings nicht, wer diese Demonstration angesagt hat. Und am 11. November hat auch niemand demonstriert. Doch die Regierung unterschrieb an diesem Tag mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) den grössten Kredit in der Geschichte Ägyptens. Aber die Menschen haben an die Demonstration gedacht. Und ich weiss von vielen Leuten, dass sie demonstrieren wollten. Aber niemand hat es getan; die Angst war zu gross. Niemand war hinter der Ankündigung und darum war auch nichts organisiert. Wir glauben, dass der Staat diese Ansage gemacht hatte. Und am 12. November, anstatt in den Medien über den Kredit zu sprechen, hiess es: Die Muslimbrüder hatten zur Demonstration gerufen und niemand ist auf die Strasse gegangen.
    Eine der Bedingungen dieses Kredites war es, die ägyptische Währung freizugeben. Und am nächsten Tag war das ägyptische Pfund nur noch halb so viel wert wie am 11. November. Und das hat besonders die Nahrungsmittelpreise beeinflusst. Oft steigen die Preise von Monat zu Monat um 20 bis 30 Prozent. Und wenn wir uns an den Satz von dem Mann im Video erinnern... Er hat erst von seiner eigenen Generation gesprochen, die sich an der Revolution vom 25. Januar 2011 beteiligt hat und dann hat er von der nächsten Generation gesprochen. Das ist eine Generation, die während der Revolte 2011 gross geworden ist, und all diese Tage und Veränderungen, von denen ich gesprochen habe, miterlebt hat. Diese Generation wird mit grösseren Repressionen und höheren Preisen gross. Und ich glaube, dass der Satz, von dem der Mann spricht, eine Prophezeiung für die Zukunft ist.
    Ich habe im Sommer 2016 Kairo verlassen, aber ich war dort Ende Januar 2017 für zwei Wochen auf Besuch, nachdem diese Preisänderungen eingeführt worden waren. Die Situation auf der Strasse hatte sich sehr stark verändert. Das Ägypten, das ich 2016 verlassen hatte, war von der Angst kontrolliert. Die Angst ist immer noch da, aber sie hat sich mit einer neuen Wut vermischt. Einerseits gibt mir das neue Hoffnung, obwohl die Situation extrem repressiv und depressiv ist. Die Gefängnisse sind voll mit politischen Gefangenen, aber auch mit Leuten, die dem Staat einfach nicht gefallen. Andererseits weiss ich nicht, wie die nächste Revolte aussehen wird. Ich befürchte, sie wird sehr viel blutiger sein als das letzte Mal.