AKTUELL: Mali den Malier_innen

von Aminata D. Traoré Bamako, 3. Mai 2013, 06.08.2013, Veröffentlicht in Archipel 217

Die Autorin dieses Artikels war Studentin in Frankreich. Nach ihrem Doktorat in sozialer Psychologie arbeitete sie für internationale Institutionen und war Ministerin für Kultur und Tourismus in Mali. Im Frühling war sie von linken Parteien nach Berlin und Paris eingeladen worden. Auf Betreiben der französischen Regierung hin wurde ihr der Aufenthalt im Schengenraum verboten. Trotzdem konnte sie über Umwege nach Berlin kommen, nicht aber nach Paris. Warum wohl? Der folgende Artikel gibt Antwort. Teil 2.

Die Ablehnung eines Visums für den Schengenraum zielt zwar nicht auf mich als Frau, zeigt aber, dass diejenigen Frauen, die sich weigern, für die vorherrschenden Interessen instrumentalisiert zu werden, bekämpft werden sollen. Auf nationaler Ebene mache ich diese schmerzhafte Erfahrung schon seit langem, aber von Frankreich, der Wiege der Menschenrechte, geächtet zu werden, und das ausgerechnet zu einer Zeit, in der mein Land sich im Krieg befindet, hatte ich nicht erwartet. Darin liegt ein Verstoß gegen die UN-Resolution 1325, welche die Einbeziehung von Frauen an der Entscheidungsfindung auf allen Ebenen betrifft, von der Konfliktprävention über die Konfliktlösung bis zum Wiederaufbau.

Muss ich daran erinnern, dass Staatspräsident François Hollande am 8. März 2013, dem Internationalen Frauentag, seinem Amtsvorgänger Nicolas Sarkozy, der sich Fragen über die Präsenz der französischen Armee in Mali stellte, antwortete, dass sie dort hingegangen sei, «weil Frauen dort Opfer von Unterdrückung und Barbarei wurden! Frauen, denen man vorschrieb, einen Schleier zu tragen! Frauen, die sich nicht mehr trauten, das Haus zu verlassen. Frauen, die geschlagen wurden!».
Was den Schleier anbelangt, bin ich eine der malischen und sahelischen Frauen, die dem Analphabetismus entkommen sind, und versucht, den gefährlichen Schleier des wirtschaftlichen Analphabetismus zu zerreißen, der die Afrika-ner_innen in einer vollständigen Unwissenheit über neoliberale Politik hält und Stimmvieh aus ihnen macht. Würde Staatspräsident Hollande sich bezüglich des Datums für die Präsidentschaftswahlen in Mali ebenso unerbittlich zeigen, wenn er eine malische Wählerschaft vor sich hätte, die wirtschaftliche, monetäre, politische und militärische Souveränität in den Mittelpunkt der politischen Debatte stellte?*
Was die Frauen, die «es nicht mehr wagten, das Haus zu verlassen», betrifft, so verließ ich mein Land bis jetzt, wann ich es wollte, und reiste genauso frei durch Europa und die Welt. Wie auch immer die Situation (Visumsverweigerung Frankreichs) ausgehen mag, in der ich mich im Moment befinde: Auf die anderen Malierinnen und Afrikanerinnen, die aufgeklärte und aktive Bürgerinnen sein wollen, kann sie nur abschreckend wirken.

Hilfe zur Entwicklung oder zur Militarisierung

Das Problem des bewaffneten Dschihadismus bedarf, so scheint es, einer bewaffneten Lösung. In einem Land wie dem unseren ist folglich der Weg für den Kauf von Waffen gebahnt, anstatt den religiösen Fanatismus zu analysieren und zu heilen, der überall dort gedeiht, wo der Staat, beschnitten und privatisiert, notwendigerweise versagt oder ganz einfach nicht vorhanden ist. Augen und Ohren zu zu machen, um nicht leer auszugehen, ist in diesem Kontext allgemeiner Armut das vorherrschende Verhalten, sowohl bei den Staaten als auch bei manchen nichtstaatlichen Organisationen. Und der Krieg – Gipfel des Grauens – ist auch eine Gelegenheit, frisches Geld in unsere ausgeblutete Wirtschaft zu injizieren.
Enttäuscht vom Zaudern und der Umständlichkeit Europas, dessen Solidarität sich bisher durch die Schulung der malischen Armee und einige bilaterale Unterstützungsleistungen ausgedrückt hat, fordert Frankreich die Europäer_in-nen dazu auf, die finanzielle Anstrengung für die Verteidigung ihrer strategischen Interessen in Westafrika gemeinsam zu bewältigen. Weitere Geldgeber_innen werden ebenfalls beteiligt werden. Am 15. Mai 2013 werden sie in Brüssel den Plan für die dringlichsten Sofortmaßnahmen (für 2013 und 2014) überprüfen. Werden die Mittel, die man mobilisieren (oder ankündigen) wird, dem malischen Volk zu gute kommen, das nicht mehr weiß, wo ihm der Kopf steht, oder werden sie in dieselben Wirtschaftskreisläufe fließen und denselben Praktiken unterliegen, die die Armut und die Ungleichheit verschärft haben? Im Rahmen der Wiederaufnahme der Zusammenarbeit kündigt der dem französischen Außenministerium beigeordnete Minister, der für den Bereich Entwicklung zuständig ist, 240 Millionen Euro an, die für die Landwirtschaft, die Daseinsvorsorge, darunter die Versorgung der Regionen im Norden mit Wasser und Strom, und die Rückkehr der Bevölkerung verwendet werden sollen. An dieser Stelle sei daran erinnert, dass in der libyschen Hauptstadt Tripolis am 29. und 30. November 2010 der dritte EU-Afrika-Gipfel abgehalten wurde, zu dem der libysche Staatschef Muammar al-Gaddafi mit großem Pomp die Staatsführer 80 afrikanischer und europäischer Länder empfing. Die Schaffung von Arbeitsplätzen, Investitionen und Wirtschaftswachstum, Frieden, Stabilität, Migration und der Klimawandel standen auf der Tagesordnung dieses Gipfels. Die Teilnehmer hatten sich auf einen «Aktionsplan» für eine afrikanisch-europäische Partnerschaft für den Zeitraum von 2011 bis 2013 geeinigt. Die EU bekräftigte bei dieser Gelegenheit erneut ihre Zusage, bis 2015 0,7% ihres Bruttosozialprodukts für Entwicklungshilfen bereitzustellen und 50 Milliarden Euro für die Hauptziele der für die Jahre 2011 bis 2013 anvisierten Partnerschaft. Jetzt haben wir das Jahr 2013, und von den Millenniumszielen und den Wegen und Möglichkeiten, sie bis 2020 zu erreichen, sind wir weit entfernt. Denn es ist der Wurm drin. Frieden, Versöhnung und Malis Wiederaufbau haben keinerlei Aussicht auf Erfolg, wenn sie auf politischen Abmachungen gegründet sind, die «Hilfe von außen» bringen sollen. Der Staat bzw. das, was von ihm übrig ist, wie auch die Rebellen, kämpfen und verhandeln innerhalb des gleichen Paradigmas, das die Arbeitslosigkeit, die Armut und die Spannungen verschlimmert hat. Differenzen werden über Investitionen in die Infrastruktur beigelegt, dem Ort für schnelles Reichwerden und Korruption par excellence. Die Liste schlecht oder überhaupt nicht ausgeführter Infrastrukturaufträge ist lang. Sie erklärt zu einem Teil die Unzufriedenheit der Bevölkerung des Nordens, die leidet, während mittels der Unterschlagung öffentlicher Mittel, und mit Hilfe von Geldern aus dem Drogenhandel, vor aller Augen Einfamilienhäuser aus dem Boden schießen.

Wagen wir eine andere Wirtschaftsform

Nichts wird mehr wie vorher sein. Das, was schwierig war, läuft Gefahr, mit der Militarisierung noch schwieriger zu werden. Mittel werden absorbiert, die wir dringend für Maßnahmen in den Bereichen Landwirtschaft, Wasserversorgung, Gesundheit, Wohnen, Umweltschutz und Beschäftigung brauchen. «Operation Serval» hin, die Unterstützungsmission MISMA und die UN-Mission MINUSMA her, die Verteidigung unseres Landes ist, bevor sie eine militärische ist, zu-nächst eine intellektuelle, moralische und politische Herausforderung.
Als Präsidentschaftskandidat François Hollande erklärte, dass «es Zeit ist, einen anderen Weg zu wählen. Es ist an der Zeit, eine andere Politik zu wählen.», fand ich mich in seinen Vorschlägen wieder. Diese Zeit ist gewiss gekommen, sowohl für Frankreich als auch für seine ehemaligen afrikanischen Kolonien. Es ist die der wirtschaftlichen, sozialen, politischen, ökologischen und gesellschaftlichen Übergänge, die nichts zu tun haben mit der Strategie der «internationalen Gemeinschaft». Sie verweisen auf einen Paradigmenwechsel.
Damit die afrikanischen Staatsführer, die die Lüge von der Unvermeidlichkeit dieses Krieges zur Beseitigung der Gefahr des Dschihadismus verinnerlicht haben, sich nicht irren: der Effekt der Ansteckung, den sie fürchten, hat weniger mit der Mobilität der Dschihadisten zu tun als mit der Gleichartigkeit der ökonomischen, sozialen und politischen Realitäten, die vom neoliberalen Wirtschaftsmodell induziert werden.
Wenn die dschihadistischen Anführer auch von woanders herkommen, sind die Kämpfer in der Mehrheit junge Malier ohne Arbeit, ohne Ansprechpartner und ohne Zukunftsperspektive. Die organisierten Drogenhändler schöpfen bei der Gewinnung von Drogenkurieren und -dealern aus demselben Reservoir einer hilflosen jungen Generation.
Die Mutlosigkeit und die materielle Armut der Berufsanfänger, Landwirte, Viehzüchter und anderer verwundbarer Gruppen schafft den wahren Nährboden für Revolten und Rebellionen, die, wenn sie falsch gedeutet werden, zahlreichen kriminellen Netzwerken Zulauf verschaffen. Die Bekämpfung des Terrorismus und des organisierten Verbrechens, ohne Blutvergießen, funktioniert in Mali und Westafrika mittels einer ehrlichen und genauen Analyse der Bilanz der drei letzten Jahrzehnte eines ungezähmten Liberalismus und einer Zerstörung des wirtschaftlichen und sozialen Netzes sowie der Ökosysteme. Nichts hindert die Hunderttausenden jungen Malier, Nigerianer, Tschader, Senegalesen, Mauretanier und andere, die jedes Jahr die Anzahl der Arbeitsuchenden und der Antragsteller nach einem Visum vergrößern, daran, sich bei den Dschihadisten einzureihen, wenn die Staaten und die Finanzinstitutionen und sonstigen Organisationen nicht imstande sind, das neoliberale Wirtschaftsmodell in Frage zu stellen.

Die unerlässliche Zusammenführung der Kämpfe

Ich plädiere für einen Geist der Solidarität, der uns das genaue Gegenteil von der Militarisierung tun lässt, uns unsere Würde zurückgibt, und uns das Leben und die Ökosysteme schützen lässt. Alles würde in die richtige Richtung gehen, wenn die 15.000 Soldaten Lehrer, Ärzte und Ingenieure wären, und wenn die Milliarden Euro, die ausgegeben werden, für diejenigen bestimmt wären, die sie am dringendsten brauchen. Unsere Kinder müssten dann nicht hingehen und sich als schlechtbezahlte Soldaten, Drogendealer oder religiöse Fanatiker töten lassen. Wir sind es uns schuldig, uns selber an die fundamentale Aufgabe zu machen, unser tiefes, unsicheres Ich und unser verwundetes Land zu verändern. Der große Vorteil eines systemischen Vorgehens besteht in der Enttribalisierung des Konflikts zu Gunsten eines politischen Gewissens, das diejenigen, die die globalisierte Wirtschaft zermalmt, versöhnt und zusammenbringt. Die Touareg, Fulbe, Araber, Bamanan, Sonrhai, Bellah und Senufo würden aufhören, einander gegenseitig die Schuld zuzuschieben, und stattdessen gemeinsam und auf eine andere Weise kämpfen. Dieses globalisierungskritische Vorgehen gibt uns unsere Würde zurück – in einem Kontext, in dem wir dazu neigen, uns selber schuldig zu fühlen und uns – an Händen und Füßen gebunden – einer «internationalen Gemeinschaft» zu überlassen, die Richter und Partei zugleich ist. Es plädiert für ein Zusammenführen der Kämpfe, die innerhalb der Grenzen zwischen den verschiedenen Gesellschaftsteilen stattfinden, die von der Barbarei des kapitalistischen Systems auf die Probe gestellt werden und weder aufgeben noch sich unterwerfen wollen. Sie müssen gemeinsam nach Alternativen zum Krieg suchen.
Führen wir den Kampf doch – anders als die freiheitlichen Staaten, die den Krieg vorgezogen und in Waffen zur Zerstörung von Menschenleben, sozialer Bindung und Ökosystemen investiert haben – mit Ideen, und berufen wir einen Bürger_innengipfel für eine andere Entwicklung Malis ein, um den Schraubstock der kapitalistischen Globalisierung zu lösen. Es geht darum, die Debatte über die Beziehung zwischen neoliberaler Politik und jedem Aspekt der Krise zu führen: die Massenarbeitslosigkeit der jungen Menschen, Rebellionen, Aufruhr, Staatsstreiche, Gewalt gegen Frauen, und religiöser Fanatismus. Innovative und intensive Information und Bildung in den Landessprachen wird es den Malier_innen erlauben, endlich untereinander über ihr Land und seine Zukunft zu sprechen.
Da alle Menschen frei und gleich an Rechten geboren werden, fordern wir lediglich unser Recht auf:

  • eine andere Wirtschaftsform, um selber über die Reichtümer unseres Landes verfügen und um frei eine Politik wählen zu können, die uns vor Arbeitslosigkeit, Armut, Irrfahrt und Krieg schützt
  • ein wirklich demokratisches politisches System, das für alle Malier_innen verständlich ist, in den Landessprachen verfasst und debattiert wird, und sich auf kulturelle und gesellschaftliche Werte gründet, die weithin geteilt werden
  • Meinungsfreiheit und Freizügigkeit.
    Gebt uns die Schlüssel für unser Land zurück!
    Das offizielle Frankreich, das verkündet, wir hätten «keinen Staat, der dieser Bezeichnung würdig ist» und ebenso wenig eine Armee, «die diese Bezeichnung verdient», findet sicherlich, dass wir auch als Volk nicht existieren, wenn wir so weit gehen und definieren, «wem die Schlüssel zurückzugeben sind». Damit, dass eine nationale Verständigung – die es uns ermöglichen sollte, gemeinsam unter Malier_innen den Puls unseres Landes zu fühlen – nicht stattfinden konnte, kann Frankreich gut leben. Genauso gut mit dem Notstand, der ein erstes Mal verhängt und dann, um den Übergang «abzusichern», ein zweites Mal verlängert wurde.
    Ich habe nicht das Gefühl, dass «der Krieg gegen den Terrorismus» im Irak, in Afghanistan und in Libyen Frieden gebracht hat, und dass die Blauhelme es vermochten, der Bevölkerung der Demokratischen Republik Kongo und Haitis die Sicherheit zu garantieren, die man von ihnen erwartet hatte.
    Aber ich bin davon überzeugt, dass in jeder Malierin und in jedem Malier eine Soldat(in) und Patriot(in) steckt, die bzw. der die Möglichkeit haben muss, sich an der Verteidigung ihrer bzw. seiner Interessen und der Interessen Malis beteiligen zu dürfen, ausgehend von einer guten Kenntnis des wahren Zustandes des Landes in einem globalisierten Wirtschaftssystem. Die Antwort auf die kritische Frage des französischen UMP-Abgeordneten Claude Lellouche ist klar: Mali ist den Malier_innen zurückzugeben. Wir können uns sehr gut um unser Land selber kümmern, denn wir, die Sahelvölker, wissen – und Bouna Boukary Dioura hat daran erinnert – dass Liebe und Beharrlichkeit letztendlich Felsen zum Blühen bringen.
    Gebt Malis Schlüssel dem malischen Volk zurück!

Übersetzung: Martina Mielke; übertragbares Recht zur Veröffentlichung: Rosa-Luxemburg-Stiftung