AKTUELL:Saatgut-Vermarktungsverbote in der EU vor dem Aus?

von Heike Schiebeck*, Longo maï,Via Campesina Austria, 28.03.2012, Veröffentlicht in Archipel 202

Juliane Kokott, Generalanwältin beim Europäischen Gerichtshof (EuGH), hat gefordert, das Vermarktungsverbot für Saatgut von Pflanzensorten aufzuheben, die nicht in offizielle Sortenkataloge eingetragen sind. Dies ist das wesentliche Ergebnis ihres Schlussantrages im Fall

«Association Kokopelli gegen Graines Baumaux». Darin heißt es wörtlich: «Das … Verbot, Saatgut von Sorten zu verkaufen, die nicht nachweislich unterscheidbar, beständig und hinreichend homogen sind … ist wegen Verletzung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, (…) ungültig.»
Wenn der EuGH diesem Antrag folgt – was meistens der Fall ist – werden entsprechende Regelungen in der europäischen Saatgutverkehrsgesetzgebung hinfällig; die EU-Richtlinien für Saatgut und die nationalstaatlichen Umsetzungen dieser Richtlinien müssten in diesem Sinne überarbeitet werden.
Dies wäre ein sehr erfreuliches Ergebnis für alle Initiativen und Betriebe, die sich der Erhaltung alter Pflanzensorten, ihrer Weiterentwicklung und der Verbreitung von Saatgut dieser Sorten widmen. Ein Sieg für alle Menschen, die sich der Vielfalt im Garten und auf dem Acker verschrieben haben!

Kokopelli

Der Verein Kokopelli in Frankreich setzt sich, wie Arche Noah in Österreich, seit vielen Jahren für die Erhaltung der Kulturpflanzenvielfalt ein. Während ähnliche Vereine in anderen europäischen Ländern geduldet werden, wurde Kokopelli wegen Verkauf von nicht eingetragenen Saatgutsorten im Dezember 2006 zum ersten Mal zu einer Geldstrafe von 17.000,- Euro verurteilt.
Kokopelli ist bei den Hopi-Indianern, die in den trockenen Gebieten Arizonas und Neu-Mexikos leben, ein Symbol für das Keimen und die Fruchtbarkeit. Die Silhouette des buckligen Flötenspielers ist eine mythische Figur in vielen indigenen Gemeinschaften Nord-, Mittel- und Südamerikas und wurde seit Jahrtausenden auf Steinen und Tongefässen abgebildet. Der Legende zufolge enthält der Buckel Kokopellis einen Sack mit Samen, die er in alle Winde sät. Auf der Flöte haucht Kokopelli den Samen seinen Geist ein.
Der Verein Kokopelli mit 6.000 Mitgliedern erzeugt und verbreitet mehr als 2.000 Landsorten Gemüse, Getreide, Kräuter und Blumen. Kokopelli organisiert Ausbildungskurse, publiziert jedes Jahr ein Handbuch für Samengärtnerei, unterstützt Saatgutbörsen und zahlreiche bäuerliche Initiativen weltweit. Die SaatguterhalterInnen von Kokopelli vermehren auf ihren Feldern viele Pflanzensorten für den Verkauf. Ein großer Kreis von GärtnerInnen übernimmt Patenschaften für eine oder mehrere Gemüsesorten und erhält sie in seinen Gärten in situ. Damit leisten alle einen Beitrag zur Bewahrung dieses Saatguts, das nur noch sehr selten angebaut wird, und schützten es vor dem Verschwinden.
Für seine Arbeit wurde Kokopelli bereits im Jahr 2004 «wegen Vertriebs nicht konformen Saatguts» verklagt, und zwar von der halbstaatlichen Organisation GNIS1 und der Berufsvertretung der Saatguterzeuger FNPSP2, und später zu der genannten Geldstrafe verurteilt. Allerdings verzichtete der französische Staat darauf, diese Strafe einzutreiben, wohl aufgrund der großen Solidaritätskampagne für Kokopelli.
Aber das ist nicht der einzige Prozess, mit dem sich Kokopelli herumschlagen musste. Der französische Saatguthändler Graines Baumaux hatte den Verein 2005 wegen unlauterem Wettbewerb verklagt, forderte die Schließung von Kokopelli und verlangte 50.000 Euro Schadenersatz. Kokopelli sollte dafür bestraft werden, dass er Pflanzensorten nicht in den offiziellen Katalog eingetragen hatte.

Alte Sorten verschwinden

Die Eintragung in das Sortenregister und somit die Legalisierung der alten Landsorten ist aus verschiedenen Gründen unrealistisch. Die Schaffung des französischen Saatgutkataloges im Jahre 1922 und der Beitritt zum zwischenstaatlichen UPOV3-Abkommen 1961 haben zum Verschwinden zahlreicher alter Gemüse-, Getreide- und Blumensorten beigetragen. Die überwiegende Zahl der im Katalog eingetragenen Sorten besteht aus Hybriden, die nicht nachgesät werden können. Tausende alter Sorten sind nicht mehr eingeschrieben oder wurden nie eingetragen und dürfen deshalb nicht verkauft, getauscht oder verschenkt werden. Auch die Schaffung der Ausnahmerichtlimie brachte keine Verbesserung. Sie schreibt vor, dass Sorten, die von genetischer Erosion bedroht sind, nur in sehr begrenzter Menge und ausschlieslich in den Ursprungsgebieten angebaut werden dürfen.
Alte Sorten oder Landsorten, auch Erhaltungssorten genannt, haben im Unterschied zu den industriellen Sorten jedoch ihre Fähigkeit bewahrt, sich der Umwelt und dem Klima anzupassen und sind dementsprechend weder homogen noch stabil. Die Züchter müssen immer wieder neue Sorten auf den Markt bringen, da sich die Handelssorten nach einigen Jahren erschöpfen. Dann greifen sie auf die Landsorten und deren Artenvielfalt zurück.
Die Kosten für die Eintragung in den Katalog entsprechen keineswegs der wirtschaftlichen Bedeutung der Landsorten und übersteigen die Möglichkeiten kleiner Vereine wie Kokopelli. So kostet die Einschreibung einer Getreidesorte beispielsweise 8.000,- Euro für die ersten zehn Jahre. Da die alten Sorten außerdem sehr zahlreich sind, verhindert diese hohe Gebühr deren Eintragung.
Doch zurück zum Europäischen Gerichtshof: Nachdem Kokopelli wegen der Vermarktung nicht eingetragener Sorten im Prozess Kokopelli gegen Graines Baumaux neuerlich zu einer Geldstrafe von 10.000 Euro und Unterlassung verurteilt worden war, ersuchte das Berufungsgericht von Nancy auf Anfrage der Anwältin von Kokopelli den Europäischen Gerichtshof um seine Auslegung des Europäischen Saatgutrechts in Bezug auf die Einhaltung der Grundrechte der EU. Zu diesem Verfahren haben die Regierungen Frankreichs und Spaniens, der Rat und die Kommission der EU Beiträge verfasst.
In ihrem umfangreichen Schlussantrag bezieht sich Generalanwältin Juliane Kokott positiv auf die Erhaltung der Agrobiodiversität, benennt die Gefahr der Zerstörung dieser Vielfalt durch die Dominanz des industriellen Saatgutes und würdigt den Internationalen Vertrag über pflanzengenetische Ressourcen (ITPGR-FA) als Rechtsquelle. Kokott zeigt auf, dass das gegenwärtig noch bestehende Vermarktungsverbot für nicht registriertes Saatgut eine völlig überzogene Maßnahme ist, die keinen Bestand haben kann.
Folgt der Gerichtshof diesem Antrag, wird die EU-Kommission die entsprechenden Passagen in den verschiedenen EU-Richtlinien zum Saatgutrecht aufheben müssen. Wir erwarten mit Spannung das Urteil des EuGH.

\*heike.schiebeck@gmx.at, www.saatgutkampagne.org
siehe auch Archipel Nr. 146, 2/2007:
«Landwirtschaft: Das Saatgut von Kokopelli verurteilt» von Sylvie Seguin

  1. GNIS: Groupement National Interprofessionnel de la Semence
  2. FNPSP: Fédération Nationale des Professionnels de Semences Potagères et Florales.
  3. UPOV: Union internationale pour la Protection des Obtentions Végétales, deutsch: Internationaler Verband zum Schutz von Pflanzenzüchtungen

Saatgutpolizei überwacht Bauern und Gärtner in Lettland

Es gibt ein erstes Beispiel dafür wie private Erzeuger von Saatgut und eine Gruppe von Gärtnern und Vermehrern von Saatgut zur Zielscheibe der Pflanzenschutzbehörde in Lettland wurden:
Unter dem Motto ‘Vom Samen bis zur Ernte’ organisierte am 28. Januar 2012 der Club ‘Tomato’ eine Veranstaltung über den Anbau von Tomaten. Der Besitzer des Hofes ‘Neslinko’ zeigte während diesem Anlass seine Sammlung von 160 Sorten Tomaten und Paprika, die er seit 30 Jahren auf seinem Hof anbaut. In einem Dokument teilten die Veranstalter den 130 Besucher mit, das sie kein Recht haben Saatgut zu verkaufen, da sie bereits im Vorjahr von der Behörden verwarnt wurden. Dementsprechend schlugen sie vor Saatgut kostenlos abzugeben und im Gegenzug Geschenke anzunehmen.
Nach Aussagen des Bauern kamen während der Veranstaltung zwei Beamte der Pflanzenschutz behörde an seinen Stand und wollten ein Päckchen Saatgut kaufen und ihn so wegen illegalem Verkauf von Saatgut, das nicht in den lettischen und den europäischen Saatgutkatalog eingetragen ist, zu überführen . Sie verfassten an Ort und Stelle einen Proces Verbal.. Einige Tage danach kamen die Beamten auf den Hof des Bauern und eröffneten ihm, dass er sich am 27. Februar vor einer administrativen Kommission verantworten muss.
Diese Nachricht hat sich auf Internet und in den lettischen Medien schnell verbreitet. Ein Unterstützerkreis wird der Audition beiwohnen und sucht nach einem kompetenten Anwalt. Leider gibt es bisher in Lettland wenig Erfahrung zu diesen Fragen.
*eine Meldung von Guntra Aistara, Europäische Universität Budapest