Esther Bejarano, eine der letzten Zeitzeuginnen des Holocaust, Ausschwitzüberlebende, Musikerin und aktive Antifaschistin, starb in der Nacht vom 9./10. Juli im Alter von 96 Jahren. Noch vor sechs Wochen stand sie mit ihrer Musikgruppe Bejarano & Microphone Mafia auf dem Landgut Neuendorf östlich von Berlin auf der Bühne.
Genau dort wurde sie vor 80 Jahren – im Jahr 1941 – im Alter von 16 Jahren mit anderen Jugendlichen jüdischer Herkunft zur Zwangsarbeit interniert. Im April '43 wird sie in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert. Sie rettet sich vor der Gaskammer, indem sie sich als Akkordeonistin ausgibt, die gerade für die Musikkapelle der KZ-Insass·inn·en gesucht wird. So lernt sie innerhalb von 24 Stunden Akkordeon spielen, wobei ihr zugute kommt, dass sie von Kindheit an mit dem Klavierspielen vertraut ist. Es dauert mehr als 30 Jahre, bis sie über die Schrecken, die sie in den Fängen der Nazis erlebt hat, sprechen kann. Im Jahr 1960 aus Palästina nach Deutschland zurückgekehrt, gehen sie und ihr Mann verschiedenen Arbeiten nach, um ihre beiden Kinder grosszuziehen. In den 1970er-Jahren eröffnet sie ein Bekleidungsgeschäft in Hamburg. Zu ihren Kund·inn·en gehören viele junge Leute, v.a. Lehrer·innen und Erzieher·innen, mit denen sie anfängt, über Politik zu diskutieren, aber während langer Zeit spricht sie überhaupt nicht über ihre Vergangenheit. Jedoch: «Die Gespräche mit diesen jungen Leuten, die ziemlich gut über die Zeit zwischen 1933 und 1945 informiert waren, brachten meine Erinnerungen zurück. Ich dachte, ich sollte meine Erfahrungen an die jungen Leute weitergeben.» (1)
Wenig später wird sie mit Neonazis konfrontiert. Die NPD, die Nationaldemokratische Partei Deutschlands, hatte nicht weit von ihrem Laden einen Stand. «Ich sehe, wie die Nazis Flugblätter verteilen und ihre Gegner mit Knüppeln schlagen. Ich sehe, dass danach Polizisten die Antifaschisten verhaften. Das war zu viel für mich. Die Polizisten schützten die Nazis. Ich sagte ihnen, dass ich in einem KZ gewesen sei und dass ich nicht verstehe, dass sie diese Nazis schützen. Darauf sagte mir ein Polizist, dass es in Russland auch KZs gäbe, und dass ich nach Hause gehen solle, weil ich sonst einen Herzinfarkt bekommen würde. Jetzt wusste ich, dass ich anfangen musste, antifaschistische Arbeit zu leisten.» (2)
Esther Bejarano schliesst sich der «Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten» (VVN-BdA) an. Später initiiert sie das Auschwitz-Komitee. Als ausgebildete Sängerin nimmt sie ihr Repertoire wieder auf und wird zu vielen kulturpolitischen Veranstaltungen eingeladen. Antifaschismus und Engagement für den Frieden sind für sie dasselbe. Esther hat die Schrecken ihres Lebens nachgezeichnet und diese über 40 Jahre hinweg unvorstellbar oft erzählt, damit wir nicht vergessen. Sie wusste um die Bedeutung ihres Zeugnisses und um die Macht, die ihre Stimme direkt aus der Geschichte hatte. Bis zum Schluss hat sie ihre ganze Energie darauf verwendet, die Parallelen zum heutigen Kontext aufzuzeigen. Ihre Positionen und ihre Sprache waren immer sehr klar. Durch ihre Musik, zunächst mit ihrer Gruppe Coincidence und dann mit Bejarano & Microphone Mafia, animierte sie ihr Publikum dazu, sowohl die Vergangenheit nicht zu vergessen als auch das Unannehmbare heute nicht zu akzeptieren.
Einer ihrer letzten öffentlichen Kämpfe war die Forderung, dass in Deutschland der 8. Mai als Tag der Befreiung gefeiert und nicht als beschämende Niederlage aus dem Kalender gestrichen wird. Sie war zutiefst empört darüber, dass 2019 die Gemeinnützigkeit der «Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten» (VVN-BdA) abgeschafft werden sollte. Diese Entscheidung beruhte auf Informationen des Verfassungsschutzes, des deutschen Inlandgeheimdienstes. Glücklicherweise wurde die Entscheidung der Berliner Finanzbehörden in diesem Frühjahr durch einen grossen Aufschrei und ein Gerichtsverfahren vollständig aufgehoben. In ihrer Unterstützungsbotschaft, die sie Ende Mai 2021 an die feministische Demonstration «Toutes aux frontières» gesandt hatte, die am 5. Juni in Nizza mit mehr als 4000 Teilnehmer·inne·n stattfand (3), schrieb Esther Bejarano: «Ich habe Auschwitz und Ravensbrück überlebt. Es ist meine Aufgabe, solange es in meinen Kräften steht, Zeugnis über das Geschehene abzulegen und vor ähnlichen Entwicklungen heute zu warnen. Denn Nationalismus und rechte Gesinnung machen sich wieder breit. Heute sind die Flüchtlingsbewegungen weltweit. Millionen von Menschen fliehen vor Kriegen, Hunger und Verfolgung aus ihrer Heimat, um ihr Leben zu retten und einen Ort zu finden, an dem sie menschenwürdig und in Sicherheit leben können. Unzählige Menschen sind bereits im Mittelmeer und auf anderen gefährlichen Routen ums Leben gekommen. Tausende und Abertausende von Menschen leben in behelfsmässigen und institutionellen Lagern unter entsetzlichen Bedingungen. Aber Europa exportiert weiterhin Waffen und schottet sich ab.
Jedes Mal, wenn ich mit Bejarano & Microphone Mafia auf der Bühne stehe, sage ich: «Schaut in unsere Augen und seht die Entschlossenheit. Hört unseren Protest, unsere Lieder, unsere Sehnsucht. Die Sehnsucht nach Menschlichkeit – dem wichtigsten Kapital der Erde, der Menschheit ...» (4) In dieser Botschaft ist ihr letzter Wunsch, dass wir immer zahlreicher werden.
Bei Esthers Beerdigung strömten vor der Abschiedszeremonie spontan viele kleine Gruppen von Menschen auf den jüdischen Friedhof in Ohlsdorf in Hamburg. Diese Zeremonie war nicht nur sehr würdevoll, sondern auch eine eindrucksvolle politische Demonstration. Fast alle Anwesenden trugen Schwarz, manchmal mit dem Antifa-Logo auf ihren T-Shirts. Es gab viele selbstgemachte Schilder. Sie lauteten «in unseren Herzen wirst du weiterleben» oder auch «wir werden nicht schweigen, versprochen, Esther!»
Karola Kolbe, Longo maï
Zitat aus «Esther Bejarano – Erinnerungen», herausgegeben von Antonella Romeo, Laika Verlag, Hamburg, 2013
Zitat aus demselben Buch
Siehe Archipel 305, Juli/August 2021
Die vollständige Botschaft im Archipel 304, Juni 2021