ARCHIPEL- AKTUELL: Argentinien in Bewegung Von wilden Privatisierungen zur Rückeroberung des Gemeinguts.

von Olivier Voirol (Universität Lausanne), 15.01.2003, Veröffentlicht in Archipel 101

Mehr als alle anderen südamerikanischen Länder war Argentinien zweifellos während der letzten Dekaden ein Musterschüler des IWF und der Weltbank. Privatisierungen wurden aggressiv durchgesetzt und von den politischen und wirtschaftlichen "Eliten" in ihrem Hang, Gelder zu unterschlagen, eifrig unterstützt. Die Privatisierungswelle hat sich vor allem in den neunziger Jahren ausgebreitet, ihre Ursprünge gehen aber in die Zeit der Militärdiktatur zurück.

Die Militärjunta, die durch einen Staatsstreich im März 1976 die Macht übernimmt, führt die ersten neoliberalen ökonomischen Maßnahmen ein. Parallel zur Förderung des wirtschaftlichen Unternehmergeistes und der Kritik am staatlichen Eingreifen, führen die Militärs ein gigantisches Repressions- und Mordunternehmen: In sechs Jahren 30.000 "Verschwundene", eine politisch aktive Generation vollkommen dezimiert. Privatisierungsprozesse werden vor allem im Bereich der Bildung eingeleitet. Es sind aber vor allem die Auslandsschulden, die während der Militärdiktatur extrem ansteigen und das Land buchstäblich in die Knie zwingen (1976 betragen sie 9,7 Millionen, 1983 am Ende der Diktatur sind sie auf 45,6 Millionen angestiegen). Die Erhöhung der Schulden hat zwei Ursachen: die massive Kapitalflucht zu den internationalen Märkten und die Vorteile, die den an die internationalen Märkte gebundenen herrschenden Schichten erwachsen. In der Tat stellt die Verschuldung ein wichtiges Instrument für die Machthaber dar, um die staatlichen Ausgaben und damit die Rolle des Staates streng zu kontrollieren. Niedrige Steuern auf hohe Einkünfte und die Flucht des Kapitals drohen die Staatskassen zu ruinieren und führen zur erhöhten staatlichen Verschuldung bei den Banken, d.h. den Besitzenden auf nationaler und internationaler Ebene. Der Staat verliert somit seinen Interventionsspielraum und wird zu einer Marionette in den Händen der herrschenden Klassen. Mit diesem Manöver wird ein stark im öffentlichen Bereich investierender Staat (50 Prozent des BIP Mitte der siebziger Jahre) auf seine repressiven und im Falle Argentiniens mafiösen Funktionen reduziert.

Die Privatisierungen

Die Frage der extremen Verschuldung ist zentral, da sie als angeblich technischer, in Wirklichkeit aber sehr politischer Imperativ den Ausverkauf des öffentlichen Sektors erzwungen hat. Die staatlichen Unternehmen (Erdöl, Strom, Gas, Wasser, Telekommunikation, Fluglinien, Bahn, Minen, Stahlwerke etc.) werden für lächerliche Summen verkauft (Der Verkauf bringt 24 Millionen Dollar ein. Der Verlust für Argentinien wird auf 60 Millionen geschätzt), viele sogar einfach gegen "Schuldscheine" eingetauscht. Internationale Institutionen, wie IWF und Weltbank, sehen die Ursachen der massiven Verschuldung in zu großen staatlichen Ausgaben und drängen zu Privatisierungen. 2001, trotz aller Anzeichen eines wirtschaftlichen Zusammenbruchs, besteht der IWF darauf, das öffentliche Defizit weiter zu reduzieren. Die argentinische Regierung reduziert erneut die Ausgaben für Bildung, Gesundheit und Sozialhilfe und verzögert die Lohnzahlungen der staatlichen Angestellten. Als sie erkennt, dass sie den Anforderungen des IWF nicht gerecht werden kann, gibt sie das Vorhaben bekannt, die Bankkonten einzufrieren. Diese Maßnahme wird unter dem Namen Corralito bekannt und sollte den Zusammenbruch des Bankensystems verhindern. Die Businessbranche, rechtzeitig informiert, kann noch vor dem in Kraft treten des Corralito ihre Devisen außer Landes in Sicherheit bringen: Die Kapitalflucht beläuft sich auf 24 Milliarden Dollar in wenigen Tagen und hat die argentinischen Banken vollkommen leergeräumt.

Der Cazerolazo im Dezember 2001

Kurz nachdem der Corralito in Kraft getreten war, häufen sich im ganzen Land Supermarktplünderungen. Am 19. Dezember ruft der argentinische Präsident De la Rua den Belagerungszustand aus. Ohne es zu wissen, löst er eine starke Bewegung mit langfristigen Konsequenzen aus. Die Menschen gehen auf die Strasse und schlagen auf Kochtöpfe, um ihrer Wut Ausdruck zu verleihen. Demonstrationszüge bilden sich in verschiedenen Teilen der Stadt und strömen, lauthals den Belagerungszustand ablehnend, auf den großen Plätzen im Zentrum der Hauptstadt zusammen. Sie wollen auch die Regierung nicht mehr, die am nächsten Tag zurücktreten wird. Die Demonstrationen gehen mehrere Tage weiter und bringen eine zweite Regierung zu Fall. Die so begonnene Bewegung hat seitdem überraschende politische Errungenschaften gebracht.

Weit entfernt von einer vorübergehenden Krise, die durch einen Regierungswechsel gemeistert wurde, zeugt der argentinische Cazerolazo von einer tiefgehenden Legitimationskrise der repräsentativen und wirtschaftlichen Instanzen der argentinischen Gesellschaft. Die Kritik an der Regierung ist in der Tat eine breite Kritik an der gesamten politischen Klasse. Der am meisten verbreitete Slogan, der bei jeder Demonstration gerufen wird, ist: "Que se vayan todos, que no quede ni uno solo!" (Dass sie alle gehen, dass nicht einer übrig bleibt!) Die nicht eingehaltenen Wahlversprechen, die schönen Worte von Mitgliedern der beiden größten Parteien (justicialiste und radikale) nach Jahren von Lügen, Machenschaften und Korruption, schaffen es nicht mehr, Illusionen aufrecht zu erhalten. Die gesamte politische Klasse verliert ihre Glaubwürdigkeit und ihre Fähigkeit zu repräsentieren. Die sozialen Bedingungen für einen Glauben an das System lösen sich auf und hinterlassen eine Leere, welche die Widerstandsbewegung zu füllen beginnt.

Die Volksversammlungen

Die soziale Bewegung nach Dezember 2001 hat begonnen, dem korrupten politischen System alternative Formen politischer Praxis außerhalb der Institutionen der repräsentativen Demokratie entgegenzustellen. Mit ihrer entschieden horizontalen und radikal demokratischen Funktionsweise gewinnt sie immer mehr Anerkennung. Die "Volksversammlungen", die sich im Rausche des Dezember gebildet haben, sind die Eroberung eines neuen politischen Raumes, der durch nicht repräsentative Formen des Herangehens an politische Fragen gekennzeichnet ist. Die in Quartieren, Dörfern oder Städten organisierten Versammlungen bestehen oft aus mehreren hundert Personen unterschiedlicher sozialer Herkunft. In den Stadtvierteln ermöglichen sie, dass Individuen und Gruppen aus verschiedenen sozialen Schichten sich begegnen, selbst wenn die Viertel natürlich selber nach sozialen Klassen strukturiert sind. Die Diskussionsthemen sind zahlreich: politische Aktionen, Organisation, Probleme des Viertels, Gesundheitswesen, Armut und wirtschaftliche Probleme, Bildung etc. Einige schaffen Tausch- und Hilfssysteme, was die Grundbedürfnisse angeht: Nahrungsmittel, Kleidung, Wohnung, Kinderbetreuung etc. Die Dynamik der Volksversammlungen führt allmählich zu einer Veränderung der sozialen Beziehungen, die sich in verschiedenen Formen von Solidarität, Austausch und neuen Modalitäten des gegenseitigen Kennenlernens ausdrücken. Neben den Diskussionen und der gegenseitigen Hilfe sind die Versammlungen ein Raum für direkte Aktionen. Bei den Diskussionen kommen konkrete Probleme ans Licht, für die die Versammlung im Rahmen des Möglichen eine Lösung sucht. Manchmal macht sie eine Liste des Nötigen und beschließt, vom Staat soziale Unterstützung (d.h. Kleidung, Essen, etc.) durch kollektive Druckmittel zu erzwingen: Demonstrationen, Straßenblockaden, Besetzungen von Büros, Banken oder Geschäften, etc.

Die selbstverwalteten Kooperativen

Zu der Bewegung der Volksversammlungen, die politische Freiräume für kollektive Aktionen erobert, kommt die Dynamik von Fabrikbesetzungen durch die ArbeiterInnen. Die tiefe politische Krise und die zerstörerische Praxis der Arbeitgeber führten zu zahlreichen Bankrotts, Fabrikschließungen und massiven Entlassungen. Das Szenario ist seit langem bekannt. Aber die Arbeitsplatzperspektiven sowie die Möglichkeiten, sich individuell durchzuschlagen, sind gleich null. Entlassung bedeutet Arbeitslosigkeit, Not und Hunger. Der Mangel an Perspektiven und das absolute Misstrauen den kapitalistischen Unternehmern, dem kapitalistischen System selbst gegenüber, treiben die ArbeiterInnen dazu, auf ihre eigenen Fähigkeiten zu Initiativen, Organisation und alternativen Lösungen zu vertrauen. Vor diesem Hintergrund nehmen sie den Produktionsapparat in die Hand und organisieren ihn selbst. Mehr als 120 Kooperativen sind so an verschiedenen Orten des Landes entstanden. Die Entscheidungen werden in Versammlungen getroffen und alle Löhne sind identisch für alle Posten. Zwei Unternehmen wurden verstaatlicht (Zanon in Neuquen und Brukman in Buenos Aires), die Angestellten hängen also vom Staat ab, egal welche Ergebnisse die Produktion erreicht. Die meisten Kooperativen hängen jedoch weiterhin von ihren Produktionsfähigkeiten und den Möglichkeiten ab, die Produkte auf dem Markt verkaufen zu können. Das Eingreifen der ArbeiterInnen in die Organisationsmodalitäten des Produktionsprozesses durch die Selbstverwaltung hat die Arbeitsbeziehungen tiefgreifend verändert.

Die Bewegung der *Piqueteros *

Zu diesen zwei Bewegungen kommt eine dritte hinzu: die Bewegung der Piqueteros (Arbeitslose). Sie ist Mitte der neunziger Jahre im Norden des Landes entstanden, in einer sehr stark von den Privatisierungen betroffenen Region, und hat sich von dort aus im ganzen Land ausgebreitet. Die Ursprungsregion war in den fünfziger und sechziger Jahren durch einen beschleunigten Industrialisierungsprozess stark von einer aus der Hauptstadt stammenden Bevölkerung auf der Suche nach Arbeit besiedelt worden. Diese Menschen waren ohne lokale Wurzeln vollkommen von den staatlich verwalteten Erdölraffinerien abhängig. Ihre Schließung als Folge der Privatisierungen bedeutete die komplette Mittellosigkeit für sie, ohne jegliche Art finanzieller Abfindungen oder Arbeitslosengelder. Um sich das Überleben zu sichern, beginnen die Menschen, durch Straßenblockaden (piquetes oder cortes de ruta ) Entschädigungen vom Staat zu fordern. Die aus den Lohnbeziehungen ausgeschlossene Bevölkerung macht sich die Technik der Straßenblockaden zu eigen, da sie das Druckmittel, das zwei Jahrhunderte lang die Stärke der Arbeiterbewegung gewesen ist, den Streik, verloren haben. Die Blockaden der Verkehrsachsen schaden nicht dem Produktionsprozess, sondern der Verteilung der Produkte und haben in diesem Sinne ein sicheres Störungspotential. Für die Piquetero -Bewegung, die unter anderem eine nationale Arbeitslosenkasse fordert, sind die cortes de ruta der politische Moment in ihren Forderungen und der Konfrontation mit den staatlichen Instanzen. Die cortes erlauben der Bewegung, ein Kräfteverhältnis aufzubauen, das notwendig ist, um vom Staat finanzielle Mittel zu erzwingen. Die individuell gewährten Entschädigungen werden in eine Gemeinschaftskasse der Piqueteros -Organisationen eingezahlt und in kollektive Projekte investiert. So werden zahlreiche Produktionsprojekte zur Selbsterhaltung geschaffen und kollektiv in Versammlungen beschlossen und verwaltet. Wie in allen anderen Bereichen heute in Argentinien ist das Misstrauen gegenüber politischen Repräsentationsmechanismen groß. Die entschlossensten Fraktionen der Bewegung, wie die Coordinadora Anibal Veròn , weisen jede Art der Delegierung zurück und fordern politische Unabhängigkeit. Die Praxis der Kooptierung hat stark dazu beigetragen, die Gewerkschaftsvertreter zu korrumpieren, die sich heute ganz an die machthabenden Parteien verkauft haben (mit Ausnahme der Central de los trabajadores argentinos ). Die Piquetero -Bewegung ist sich den Gefahren der Repräsentation bewusst und handelt konsequent in horizontaler Organisation und praktiziert das imperative Mandat im Falle von Verhandlungsdelegierungen

Was gärt in Argentinien?

Man kann sich kaum an der sozialen und wirtschaftlichen Situation des Landes erfreuen (zwischen 92 und Januar 2002 ist die Arbeitslosenrate von 7 Prozent auf 22 Prozent angestiegen, mehr als die Hälfte der Bevölkerung, d.h. 19 Millionen Menschen, leben heute in Armut und fast 9 Millionen unter der Armutsgrenze), in einem Land das vor einem Jahr noch eines der reichsten des Kontinentes war und vor zehn Jahren zu den zehn wirtschaftlichen Weltmächten zählte. Der Alltag der ArgentinierInnen besteht aus Armut, Not und Hunger. Aber gleichzeitig sind die kollektive Hoffnung, der Wille zum Kampf, eine neue gemeinsame Dimension zu schaffen und Solidarität neu zu erfinden, stärker als je zuvor. Der Verlust an Legitimität des politischen und wirtschaftlichen Systems hat zu einem überraschenden Fortschritt autonomer Organisations- und Verwaltungsformen geführt.Sicher, innere Spannungen, politische Divergenzen, Konfrontationen unterschiedlicher Projekte gibt es auch in der Bewegung und bereichern sie manchmal, schwächen sie aber auch, wie es der Fall einiger Volksversammlungen ist, die sich nach nicht lösbaren Konflikten aufgelöst haben. Zahlreiche politische Tendenzen sind in der Tat von Idealen der Effizienz und der Machtergreifung geprägt und schaden somit der kollektiven Selbstorganisation, in dem sie versuchen, die Versammlungen zu benutzen anstatt eine Dynamik zu schaffen 1. Der Aufbau politisch und wirtschaftlich autonomer Räume ist den Versuchen ausgesetzt, sie zu politischen Zwecken einzuspannen. Polizei und Ordnungshüter verpassen keine Gelegenheit, die Bewegung und die Widerstandshandlungen zu unterdrücken und zu kriminalisieren. Niemand kann zur Zeit sagen, in welche Richtung diese Dynamik sich entwickeln wird. Sicher ist aber, dass diese argentinische Erfahrung einen großen Anspruch an Unabhängigkeit der Widerstandsbewegung zeigt, einen Willen, die zwischenmenschlichen Beziehungen im Sinne von Solidarität und gegenseitiger Anerkennung zu verändern, Versuche –in Notfall und Notwendigkeit – Alternativen zu einem unglaubwürdig gewordenen politischen System und einer ruinierten Wirtschaft zu erarbeiten. Eine solche Erfahrung setzt bedeutende Energien frei zur Erfindung neuer kollektiver Organisationsformen, die über das neoliberale Modell und politische Delegierungen hinausgehen. In diesem Sinne erscheint der Volksaufstand in Argentinien wie ein wahres Laboratorium für die Erschaffung einer neuen Welt … die es noch gemeinsam zu erfinden gilt, im Geist und in der Tat.

  1. Diese Position findet man unter anderem in Que se vayan todos ! von François Chesnais und Jean Phillippe Divès, erschienen bei Editions Nautilus, Paris, 2002. Die Autoren (Trotzkisten) bemängeln das Fehlen einer anti-kapitalistischen Partei "die einen Rahmen für eine breite, permanente und demokratische Organisation für die Männer und Frauen bieten, die an der Spitze der Bewegung sind, und somit den Prozess der Selbstorganisation zentralisieren könnte" (seite 22) Die Besessenheit der Zentralisierung und der erleuchteten Avant-Garde ist ein alter leninistischer Reflex, den manche anscheinend nicht loslassen können.