Bauernaufstand in Indien

von Bertrand Louart, Radio Zinzine, 12.06.2021, Veröffentlicht in Archipel 304

Indien ist ein Land mit extremen sozialen Gegensätzen, die zu zahlreichen Revolten in der Vergangenheit geführt haben. Auf Grund der neoliberalen Politik seit den 1990er-Jahren haben die Aufstände sich über die Kastengrenzen und die Religion hinweg ausgeweitet, sie vereinigen Bauern, Bäuerinnen, Arbeiter·innen und Angestellte im ganzen Land.

Mit beinahe 1400 Millionen Einwohner·inne·n (das Dreifache der gesamten EU) und seiner rasant wachsenden Demographie ist Indien das am dichtesten bevölkerte Land der Erde. Beinahe jede·r sechste Erdenbewohner·in ist Inder·in. Die Agglomeration der Hauptstadt Dehli hat beinahe so viele Einwohner·innen wie Spanien. Indien hat eine sehr reiche Oberschicht, darunter 102 Milliardäre, deren Einkommen meistens höher ist als der Staatshaushalt, im Gegensatz zur Prekarität der 800.000 Menschen in den Slums und auf dem Land, die mit weniger als 2 Euro am Tag leben müssen. 480 Millionen Arbeiter·innen haben keinen festen Lohn und keinerlei soziale Absicherung oder Krankenversicherung. Die Bevölkerung ist in mehrere hundert Kasten aufgeteilt. Innerhalb dieser Kasten gibt es ungefähr 3000 Unterteilungen.

Ganz unten auf der sozialen Skala leben 200 Millionen Dalit. Sie werden abwertend die «Unberührbaren» genannt. Sie hungern und müssen ohne Strom leben. Man sagt, wenn der Schatten eines Dalit ein Mitglied einer höheren Kaste berührt, kann das ein Grund sein, ihn umzubringen. Es werden im Durchschnitt täglich 2 Dalit umgebracht und drei Frauen der Dalit vergewaltigt, da man sie weniger wertschätzt als Tiere. Ähnlich geht es den 100 Millionen Adivasis, den Ureinwohner·inne·n Indiens.

Die bäuerliche Bevölkerung

Von 600 Millionen Bäuerinnen und Bauern haben 86 Prozent weniger als 2 Hektar Land und 30 Prozent sind landlose Landarbeiter·innen. Viele sind verschuldet und müssen beim kleinsten Unfall aufgeben; in den letzten 25 Jahren haben sich 300.000 von ihnen umgebracht.

In den 1960er-Jahren versuchte die sozialistische Regierung, das Land mit Lebensmitteln autonom zu versorgen und unterstützte dafür die indischen Bäuerinnen und Bauern sehr stark. Ein Instrument dafür war die staatliche Preisgarantie, die über den Weltmarkpreisen für landwirtschaftliche Produkte lag. Die Regierung finanzierte den Wegebau und Bewässerungsanlagen, Landwirtschaftstreibende erhielten den elektrischen Strom vergünstigt, in Notzeiten erhielten sie staatliche Lebensmittel und konnten 100 Tage bezahlte gemeinnützige Arbeit leisten – als Zusatzeinkommen. Es wurde ein System direkter Demokratie auf dem Land unterstützt, die Panchayati Ray, die auf Gemeindeebene gewählt und von der Bevölkerung kontrolliert werden. Diese Dorfräte schlichten Streit zwischen Dorfbewohner·inne·n und entscheiden über die lokalen Einrichtungen wie Schulen, Gesundheitseinrichtungen und Ähnliches.

Religiöse und sexistische Unterdrückung

Als die linken Parteien in den 1990er-Jahren wieder an die Macht kamen, leiteten sie selbst jedoch eine liberale Wende ein. Angeführt von der Kongresspartei (von Mahatma Gandhi und Jawaharial Nehru) wurden die religiösen Gegensätze, das Kastensystem und die Unterdrückung der Frauen angeheizt. 2014 und 2019 gewannen Narendra Modi und seine nationalistische, hinduistische «Volkspartei» Bharatiya Janata Party (BJP), die Wahlen und verstärken seither diese Politik der Spaltungen innerhalb der indischen Gesellschaft. Modi selbst kommt aus der hinduistischen, paramilitärischen Organisation Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS, national patriotische Organisation), die mit ihrer rassistischen und die Eugenik vertretenden Ideologie als der bewaffnete Arm der BJP gilt. Modi nutzt seine Verbindung zur RSS, um gewaltsam besonders gegen die Dalit vorzugehen und die Muslime zu provozieren. In einer Kampagne fordert er Muslim·innen und Christ·inn·en auf, zum Hinduismus zu konvertieren und verbietet religiöse Mischehen. Er will die Frauen zwingen, sich bei der Polizei zu melden, wenn sie ihr Haus verlassen. Ende 2019 führt Modi ein, dass die indische Nationalität jeder Person entzogen wird, die nicht nachweisen kann, dass ihre Eltern vor 1971 in Indien gelebt haben. Dabei hatte die Regierung nicht damit gerechnet, dass ein grosser Anteil der Hindus davon betroffen war. Diese Massnahme war zu viel. Dieser Erlass zur Staatsbürgerschaft vom 11. Dezember 2019 löste die Proteste vieler Muslim·innen, hauptsächlich der Frauen aus, denen sich später ein grosser Teil der indischen Gesellschaft anschloss.

Riesige Protestbewegung

Die Protestbewegung hatte ihr Zentrum in Shaheen Bagh, dem muslimischen Armenviertel im Süden von Dehli, nachdem die Polizei die Universität Jamia Millia Islamia am 15. Dezember 2019 gestürmt hatte. Dabei wurden die Büros der Direktion zerstört, Student·inn·en mit Stöcken verprügelt und die Bibliothek mit Tränengas angegriffen. Daraufhin haben sich Bewohner·innen von Shaheen Bagh ohne politische Unterstützung oder offizielle Organisationsstruktur versammelt und beschlossen, auf die Strasse zu gehen und die Autobahn zu blockieren. Jeden Abend versammelten sich zehntausende Menschen auf allen Plätzen des Viertels, darunter viele Frauen, um zu diskutieren und ihre Opposition gegen die Regierung Modi zu demonstrieren. Das ganze Viertel wurde zu einem Freiraum angesichts der erdrückenden Atmosphäre in Indien, wo Medien und Politiker die Demagogie der Regierung gegen die unterschiedlichen Gemeinschaften schüren.

Die Bewegung breitete sich ständig weiter aus und die Gewerkschaften verkündeten einen Generalstreik am 8. Januar 2020: 250 Millionen Arbeiter·innen schlossen sich dem Streik an, der zum grössten Streik in der Geschichte Indiens wurde. Obwohl die Direktionen der Gewerkschaften keine weiteren Aktionen wollten, breitete sich die Protestbewegung aus und viele weitere Sektoren traten in Streik: die Grundschullehrer·innen, Staatsangestellte und Gemeindearbeiter·innen, Kindergärtnerinnen und die Bauarbeiter. Die rassistische und religiöse Demagogie von Modi wurde von der Revolte gegen das Elend und die Gewalt zunichte gemacht, die viele Kasten und religiöse Gemeinschaften vereint hatte.

Die Massnahmen gegen die Covid-19 Pandemie beendeten diese Bewegung. Indien entdeckte seinen ersten Corona-Fall bereits am 30. Januar 2020, aber die BJP war zu dem Zeitpunkt vor allem mit dem Besuch von Donald Trump beschäftigt. Am 24. März 2020 verhängte Premierminister Modi plötzlich einen Lockdown für das ganze Land innerhalb einer Frist von vier (!) Stunden, wobei keinerlei Massnahmen für die öffentliche Gesundheitsversorgung oder zur sozialen Abfederung für die Ärmsten vorgesehen wurden, was zu einer katastrophalen Situation führte.

Explosion der Revolte

Im ganzen Land standen Millionen von «Wanderarbeiter·inne·n», also Menschen, die aus einem anderen Bundesstaat oder einer anderen Stadt stammten, mit einem Schlag auf der Strasse. Die Arbeitgeber·innen entliessen sie fristlos, weil sie befürchteten, dass der Lockdown sich in die Länge ziehen könnte. Ungefähr zehn Millionen verloren ihre Arbeit und versuchten also in ihre Dörfer zurückzukehren, was ein Riesenchaos im ganzen Land auslöste. Diese Menschenmasse bewegte sich unter der brütenden Sonne Richtung Heimat; Alte und Junge, schwangere und kranke Frauen, meistens ohne Geld und oft zu Fuss – der öffentliche Verkehr stand still – machten sich auf den Weg für eine Reise von hunderten oder gar tausenden von Kilometern. Einige starben an Erschöpfung.

Modi reagierte darauf mit salbungsvollen Appellen an die nationale Wohltätigkeit: Die Leute sollen sich gegenseitig helfen und sich untereinander organisieren. Aber die öffentliche Empörung wurde mit jedem Tag grösser, an dem die Presse über Tragödien berichtete. Viele von diesen Wanderarbeiter·inne·n zeigten ihre Wut und ihren Zorn: «Wir sind in Todesgefahr und wir ziehen es vor im Kampf zu sterben.» Diese Revolte traf sich mit jener von Arbeiter·inne·n, die in der Stadt verblieben waren und seit März/April 2020 keinen Lohn mehr erhielten: Sie explodierte in zahlreichen Bundesstaaten und Territorien von Indien.

Die Pandemie von Covid-19 wurde von der Regierung missbraucht, um ausserordentliche Massnahmen ohne jegliche demokratische Legitimation durchzuführen. Die Gesundheitsvorsorge wurde ausgesetzt, d.h. die bisher existierende, bescheidene Sozialvorsorge für Lohnarbeiter·innen wurde einfach abgeschafft. Auf nationaler Ebene programmierte die Regierung Modi die systematische Privatisierung des gesamten öffentlichen Sektors. Über 300 Unternehmen und Institutionen waren davon betroffen: Telekommunikation, Energie, Finanzinstitute, Waffenindustrie, Eisenbahn, Minen, Gesundheitssektor, Schulen…

In den von der BJP regierten Bundesstaaten wurden sämtliche Rechte und Schutzmassnahmen für Arbeiter·innen betreffend Arbeitszeit, Lohn, Arbeitsbedingungen, gewerkschaftliche Organisation und Gesundheitsschutz abgeschafft.

Aber die Revolte entfachte sich vor allen durch die drei Gesetzesvorschläge, die von der Regierung anfang Juni vorgestellt und Mitte September 2020 vom Parlament abgesegnet wurden. Diese Gesetze schafften die Verpflichtung ab, den Verkauf von Lebensmitteln über die Mandis abzuwickeln, die lokalen landwirtschaftlichen Märkte, wo die Bauern und Bäuerinnen ihre Ernte zu staatlich garantierten Preisen verkaufen konnten. Sie beschränkten die Verhandlungsmöglichkeiten und Rekurse der Lanwirt·innen für Verträge mit den Unternehmen und ermöglichten die Spekulation auf Nahrungsmittel, die bis jetzt geschützt waren. Nach Meinung der Regierung sollten diese Gesetze den Bauern und Bäuerinnen helfen, ihre Produkte, wie es ihnen beliebt, zu verkaufen; sie könnten ihre Käufer·innen selber wählen – auch private Unternehmen – und ihre Produkte sowohl in ihrem Mandi als auch anderswo absetzen. Jedoch: An die Grossisten müssen landwirtschaftliche Produkte immer zu geringeren Preisen abgesetzt werden. Als Rechtfertigung für die Liberalisierung der Landwirtschaftsmärkte, behauptete Modi, dass das Einkommen der Bauern steigen würde und die Infrastrukturen modernisiert würden. Im Bundesstaat Bihar, in dem seit 2006 eine ähnliche Reform durchgeführt wird, geschah das pure Gegenteil, denn in Wirklichkeit wurden diese Gesetze für die zwei grössten Bosse der Nahrungsmittelindustrie geschaffen, die Milliardäre Mukesh Ambani und Gautam Adani. Ihre Bilder wurden auf öffentlichen Plätzen von empörten Bäuerinnen verbrannt.

Generalstreik

Seit Juni 2020 fanden die ersten Protestaktionen gegen die «black laws» (wie sie von den Bauern genannt wurden) statt. Diese erweiterten sich immer mehr. Einen Höhepunkt fand der Aufstand mit dem Generalstreik, ausgerufen von einer Koordination von 500 bäuerlichen Organisationen (sie war 2017 anlässlich eines früheren Konfliktes geschaffen worden). Diese konnte bei den Gewerkschaftsdirektionen durchsetzen, dass am 26. November und am 8. Dezember Generalstreik herrschte. In diesen Tagen zählte man 250 Millionen streikende Arbeiter·innen und mit ihnen mehrere Dutzend Millionen Bäuerinnen und Bauern; ein Rekord in Indien und in der ganzen Welt.

Während es vor allem Männer waren, die sichtbar in Erscheinung traten, hatte sich auch eine grosse solidarische Gruppe von Bäuerinnen, Hausfrauen, Grossmüttern, Studentinnen, Lehrerinnen bis hin zu Krankenschwestern formiert, die an vorderster Front standen und das Rückgrat der Proteste bildeten. In der Folge entstand eine neue bäuerliche Koordination, die Samyukt Kisan Morcha (SKM; Bäuerliche Einheitsfront). Sie nannte ihren Gegner beim Namen und mobilisierte für einen Marsch zur Regierung in Delhi. Mehrere hunderttausend Farmer·innen aus ganz Indien machten sich auf den Weg, überwanden Polizeisperren und wurden am Eingang der Hauptstadt blockiert. Sie beschlossen, dort mehrere Camps einzurichten, auf Autobahnen, vor den von Armee und Polizei errichteten Barrikaden und Gräben. Ihre sechs grossen Lager vor den Toren von Dehli wurden so zu richtigen Townships von ungefähr 300.000 Menschen mit allen kollektiven Einrichtungen einer Stadt – Konferenzsälen, Schulen, Theater, Kantinen, etc. – aber alles ohne Bezahlung. Gewerkschafter·innen·, Feminist·inn·en, Künstler·innen, Junge aus den Vorstädten, Studierende… alle zusammen in einer zu verteidigenden Zone, in der die Welt neu gestaltet wird! Anfang Januar 2021 setzte der Oberste Gerichtshof die Reform für 18 Monate aus; aber dieses Ausweichmanöver überzeugte die Landwirt·innen nicht.

Lieber sterben als sich ergeben

Die SKM stellt der Regierung ein Ultimatum: Sie soll diese Gesetze bis zum 26. Januar, dem Nationalfeiertag, ganz zurückziehen, ansonsten dringen die Bauern und Bäuerinnen in die Stadt ein. Das Defilee mit einer Million Demonstrierenden und 400.000 Traktoren stellte jegliche Militärparade völlig in den Schatten. Die indischen, zum Grossteil regierungstreuen Medien behaupteten, dass die Protestierenden die indische Nationalflagge auf dem Roten Fort, dem Symbol der Unabhängigkeit Indiens, durch die Sikh-Flagge ersetzt hätten, was ihrer Meinung nach beweist, dass die Bewegung religiösen Separatismus befürwortet. Diese Medienkampagne schürte Verwirrung. Es kam zu Auseinandersetzungen mit der Polizei und die Regierung profitierte von der Konfusion, um Polizisten und Paramilitärs vom RSS in der Nacht vom 28. zum 29. Januar in die Lager am Stadtrand zu schicken und diese zu räumen. Aber dieser Gewaltakt misslang. Die Führer·innen des SKM und vor allem einer von ihnen, Rakesh Tikait vom Lager von Ghazipur, rief zum Widerstand auf und erklärte mit Tränen in den Augen, dass er sich lieber aufhänge als den Kampf aufzugeben. Noch in derselben Nacht marschierten Zehntausende von Bauern in die Lager von Dehli und verjagten die Ordnungskräfte.

Seither strukturierte sich die Bewegung längerfristig und weitete sich auf ganz Indien aus. Sie beruft sich auf die direkte ländliche Demokratie in den Dorfversammlungen Gram Panchayats; Rakesh Tikait – er entkam am 2. April einem Mordanschlag – mobilisierte für das Abhalten von Mahapanchayats (grossen Vollversammlungen) von Zehntausenden von Menschen. In den privatisierten Sektoren brachen zahlreiche Streiks aus. Für die Besetzung der Eingangstore von Delhi wurden Rotationen organisiert: Die Bauern und Bäuerinnen erhielten Verstärkung von Student·inn·en für die Ernten und diese wurden an den Stadttoren von Arbeiter·inne·n, Angestellten, Arbeitslosen, etc. ersetzt. In den ländlichen Gebieten wurden Mitglieder und Verantwortliche der BJP, vom RSS, ihren Allierten und den brutalen Polizisten boykottiert und aufgefordert von ihren Funktionen zurückzutreten. Die Bäuerliche Einheitsfront SKM ruft auch dazu auf, im Monat Mai eine unbefristete Belagerung des Parlaments durchzuführen.

Ab Mitte April 2021 wird Indien von einer zweiten Welle der Covid-19-Epidemie heimgesucht. Dies ist auch die Zeit des Wahlkampfes, um die Führer der wichtigsten Bundesstaaten Indiens zu wählen (insgesamt etwa 175 Millionen Wähler·innen). Um die Staaten zu halten, die der BJP abzurutschen drohten, hielt Modi viele Kundgebungen vor riesigen Menschenmengen ohne Masken ab. Um seinen Sieg zu sichern, verteilte er Geld an die Teilnehmer·innen seiner Kundgebungen und organisierte Gehaltserhöhungen in letzter Minute. Alles vergeblich, denn seine Partei erlitt riesige Niederlagen in fünf grossen Bundesstaaten (darunter der grösste: der westliche Bengal).

Das zentrale Staatsversagen, das regierungsbedingte Chaos und die Verantwortungslosigkeit der Führung Modis und der gesamten Regierung wird von der riesigen Protestbewegung im Moment als gefährlicher als das Virus wahrgenommen. Die Wahlschlappe Modis erweckt neue Hoffnung, Mut und Entschlossenheit bei den indischen Bäuer·inne·n und allen Revoltierten – ihr Kampf ist noch lange nicht zu Ende.

Bertrand Louart, Radio Zinzine

Mit Dank an Jacques Chastaing; er verfolgt und berichtet fast täglich (auf Französisch) über den Aufstand in Indien auf Facebook und dem Blog von Mediapart: https://blogs.mediapart.fr/jean-marc-b/ Alle in diesem Artikel erwähnten Zahlen wurden dem Artikel «Indien» in Wikipedia entnommen.