Seit den Präsidentschaftswahlen vom 9. August protestieren in Belarus hunderttausende Menschen gegen die offensichtliche Fälschung der Wahlergebnisse durch den Präsidenten Alexander Lukaschenko. Dieser ist seit 1994 an der Macht. Frühere Proteste konnte er brechen, von einigen Oppositionellen fehlt seit über 20 Jahren jede Spur, andere sitzen im Gefängnis. Doch dieses Mal ist sein Regime ernsthaft bedroht. Auch nach der brutalen Repression in den Tagen nach dieser Wahl werden hunderte Menschen vermisst. Die ukrainische Reporterin Nataliya Gumenyuk, die wir vor einiger Zeit kennlernten, fand sich im Epizentrum der Ereignisse wieder und schildert hier Ihre Eindrücke.*
Die Proteste in Weissrussland gehören zu den schönsten und wahrhaftigsten, die ich je gesehen habe. Das Paradoxe an ihnen ist, dass alles, was wir für die Schwächen der belarussischen Gesellschaft halten, sich eher als Vorteil für die Protestierenden herausstellt. Dies sind meine Beobachtungen, die ich aufgrund meiner Präsenz vor Ort und den Gesprächen, die ich mit so vielen Menschen wie möglich geführt habe, machen durfte. Ich schaffte es in den letzten Tagen achtzig Kilometer durch Minsk zu laufen (ja, ich habe meine iPhone-App mitzählen lassen). Intuitiv scheinen die Menschen alle Regeln des gewaltlosen Widerstands zu befolgen. Zum Beispiel: Konfrontation vermeiden. So wird die moralische Legitimität für die Massenmobilisierung gestärkt, mehr Menschen schliessen sich an und überrennen damit die Behörden. Die Risiken sind enorm hoch, denn das Regime kann sehr brutal sein. Unglaublich ist auch, dass sich die Proteste gegen die autoritären Tendenzen richten, die wir sonst global beobachten können. Die Protestierenden vermeiden Fallen, die die Bewegung schwächen könnten.
Keine Identitätspolitik
Statt die Partikularinteressen einzelner Gruppen zu vertreten, haben sich die Demonstrierenden die weiss-rote Fahne wieder angeeignet. Die Regierung meint zwar, dies sei nationalistisch, dabei ist sie heute nur ein Zeichen für Freiheit. Es ist fast unmöglich Trennlinien auszumachen auf Basis von Sprache, sozialem Status und Region. Diese Homogenität der weissrussischen Gesellschaft diente bisher dem Machtmonopol. (Im Vergleich zum ukrainischen Pluralismus, der die ukrainische Demokratie immer rettete). Doch nun spielt diese Homogenität gegen die Macht.
Keine «Blase»
Die letzten Proteste gingen oft von der so genannten «liberalen Blase» aus (damit meine ich die Zivilgesellschaft, die Medien, die Intellektuellen) und es wurde darum gekämpft, mehr Menschen vor allem ausserhalb der Blase zu gewinnen. Wir alle sprechen von einer Stadt-Land-Spaltung usw. Das ist hier einfach nicht der Fall. Die unglückliche Tatsache, dass die Zivilgesellschaft, wie wir sie heute sehen, vom Regime «gesäubert» und zerstört wurde, spielt jetzt irgendwie zugunsten der Demonstrierenden. Sie vertreten nun eine klare Mehrheit.
Keine formelle Opposition
Früher stellten wir uns vor, dass formelle Opposition(s-Parteien) in so einer Situation hilfreich sein könnten. Leider wurde in den letzten Jahrzehnten das politische Leben in Weissrussland ausgelöscht und die altmodischen Parteien – die aus den 1990er und 2000er Jahren stammen – waren zwar mutig, aber höchst unbeliebt. Heute sind formelle politische Parteien überholt. Das Fehlen solcher Parteien führt jetzt im Gegenteil dazu, dass sich mehr Menschen den Protesten anschliessen. Die Menschen haben keine Angst, dass irgendeine politische Kraft sich den Protest einverleiben wird, es gibt nicht diejenigen, die versuchen werden, ihn zu ihren Gunsten zu nutzen. Früher oder später werden formelle Führer in Belarus auftauchen, aber dann werden sie danach beurteilt werden, was sie für die Protestierenden tun, damit werden sie sich ihre Legitimität verdienen. Sogar die Tatsache, dass die belarussische Oppositionskandidatin Swetlana Tichanouskaya keine Profipolitikerin ist, spricht dafür. Denn es ist klar, dass sie nicht machthungrig ist. (Wie eine der belarussischen Hochschulen sagt, ist sie wie Frodo, der den Ring trägt, was eine schwere Last für sie ist, aber sie hat einen starken Willen und ist letztendlich eine gute, aber auch weise Person). Es ist also nicht zu befürchten, dass sie die Demonstrierenden ausnutzt.
Staatseigentum und Streiks
Das, wofür Alexandr Lukaschenko, der Mann, der das Land seit über einem Vierteljahrhundert regiert, kritisiert wurde, könnte nun der härteste Schlag gegen ihn sein. Da sich die meisten Industriebetriebe in Staatsbesitz befinden, ist der Staat von den Arbeiter·inne·n abhängig geworden, die jedoch in Streik getreten sind. Das ist die grösste Bedrohung für das Regime. Ich frage mich, ob Beschäftigte in der Privatwirtschaft so etwas tun könnten. Erstens sind Streiks ein Risiko für den Staatshaushalt und zweitens kann Lukaschenko dann nicht mehr von einer Unterstützung der Arbeiterklasse sprechen. Das ist auch der Grund, warum ich mir in Russland, wo die meisten Unternehmen privat sind, nichts Ähnliches vorstellen kann, dort würden Streiks wohl keine Rolle spielen. Ich habe auch mit Arbeiter·inne·n gesprochen, die zwischen 30 und 60 Jahre alt sind: Viele der neuen Generation sind Profis, sie nutzen den Messaging-Dienst telegram und kennen ihre Rechte. Die Älteren denken, dass sie nichts zu verlieren haben. Sie haben 20 bis 30 Jahre ihres Lebens für ihr Unternehmen gegeben. Die Jüngeren, die erst 5 bis 10 Jahre arbeiten, denken, dass es für sie keine Perspektive für die nächsten Jahrzehnte ist, unter den gleichen Bedingungen wie jetzt zu leben.
Keine westliche oder externe Unterstützung
Ja, das mag ein Problem sein, aber Lukaschenko hat einen Staat geschaffen, der an Isolation gewöhnt und weniger abhängig vom Westen ist. Das könnte bedeuten, dass der Westen keinen Einfluss hat. Aber nachdem die Proteste landesweit stattfinden, geht die grösste Bedrohung für das Regime von den Kleinstädten aus – von Staatsbediensteten, die streiken und keine Verbindung zum Westen haben. Die Tatsache, dass die westlichen Medien nicht genug über Belarus berichten und sowohl die EU als auch die USA nichts Besonderes unternehmen werden, spielt also keine grosse Rolle. Das kann zwar schlecht sein, es bedeutet aber auch, dass die Demonstrierenden keine Zeit aufzuwenden brauchen, um den Westen oder irgendjemanden davon zu überzeugen, sich einzumischen. Das wiederum zeigt: Sie sind stark genug. 7‘000 Menschen wurden bisher festgenommen, wir wissen von bis zu 400 Verletzten. Das verlängert die Proteste, da die Menschen von immer mehr Fällen erfahren. Es schockiert die Menschen, die von ihrem Gehorsam und dem Vertrauen in den Staat geprägt sind, noch mehr als andere, wenn sie die Brutalität des Staates zu spüren bekommen. Besonders diejenigen, die Lukaschenko nicht gehasst haben, die ihm gegenüber loyal waren, sind am schockiertesten und wütendsten im Vergleich zu den Menschenrechtsverteidiger·inne·n, die das Regime besser kannten und nichts anderes erwartet haben.
Noch eine Gefahr für das Regime
Was bedrohlich ist für das Regime, ist die Selbstdisziplin der Demonstrierenden. Sie verstehen, dass sie sich nicht versammeln können, wenn es dunkel ist. Das ist wirklich wichtig. Stellt Euch deshalb nicht eine Zeltstadt oder Ähnliches vor. Gerade weil die physische Kraft immer noch auf der Seite der Regierung und der Polizei ist, kann jede Konfrontation die Sache ruinieren. Es ist jedoch unmöglich, etwas zu zerstören und zu benutzen, was nicht da ist. Ich hoffe, dass diese Selbstdisziplin beibehalten wird. 26 Jahre Autoritarismus haben die Menschen gelehrt, äusserst vorsichtig zu sein und sich vor Provokateuren zu hüten. (Und ja, sie sind in der Menge sichtbar. Ich nehme mir heraus, diejenigen zu verurteilen, die dazu aufrufen, nachts vor dem Gefängnis zu protestieren – das ist unglaublich verdächtig). Für mich ist das Symbol der Proteste ein Plastikmüllsack, den die Leute zu den Protesten mitbringen, um leere Plastikflaschen zu sammeln. Damit demonstrieren sie dafür, dass es bei den Protesten nicht um Chaos geht, sondern um Ordnung und Disziplin. Irgendwie sind sie puritanisch geworden, was die Sauberkeit der Orte angeht, an denen die Menschen protestieren. Und eine solche Disziplin ist die Hoffnung für ein freies Weissrussland.
Nataliya Gumenyuk, Minsk, 19. August 2020