BELARUS: Repression und kreativer Protest

von Nailya Ibragimova u. Nasta Lojko, 15.10.2020, Veröffentlicht in Archipel 296

Belarus im Jahr 2020 ist ein neues Land, mit Menschen, die keine Angst mehr haben. Es ist ein solidarisches Land, in dem Frauen die Männer vor der unmenschlichen Einsatzpolizei OMON schützen. Es sind Streiks in mehr als 30 Städten und Überdruss nach 26 Jahren Lukaschenko-Herrschaft auf allen Ebenen. Es ist ein Protest, der mit seinem Humor Lukaschenkos Autoritarismus bereits besiegt hat.

Wir haben die belarussische Menschenrechtsaktivistin Nasta Lojko gefragt, warum der Punkt, an dem es für Belarus keine Rückkehr mehr gibt, bereits überschritten ist, auch wenn Lukaschenko nirgendwo hingeht.

Archipel: Erzähle uns bitte, was jetzt in Belarus vor sich geht und wie du den vergangenen Monat in Minsk erlebt hast?

Nasta Lojko: Angesichts der bevorstehenden Präsidentschaftswahlen war klar, dass es viele Proteste geben würde, aber die Wahlen würden daran nichts ändern. Es war ein seltsames Gefühl, denn einerseits wollte ich mich irgendwo verstecken – ich fühlte mich unbehaglich. Andererseits wurde mir klar, dass ich Fähigkeiten besass, die in dieser schwierigen Zeit nützlich sein würden. Ich beobachte seit vielen Jahren Menschenrechtsverletzungen bei öffentlichen Demonstrationen in Belarus, aber in diesem Jahr fehlte mir die Kraft, Veranstaltungen zu besuchen. Also beschloss ich, einfach zur nächsten Polizeistation zu gehen und zu beobachten, wie viele Menschen festgenommen werden. In den ersten Tagen des Protestes nahm die OMON sehr viele Menschen fest und es war nicht klar, wo man sie vor Gericht stellen würde. (Anm. d. Autorin: Etwa 7‘000 Menschen wurden von der OMON festgenommen, 450 Fälle von Folter und 6 Tote dokumentiert).

Klar war nur, dass die Prozesse unter Ausschluss der Öffentlichkeit an unbekannten Orten stattfinden würden und es unmöglich sein würde, dorthin zu gelangen. Wir haben alle verfügbaren Möglichkeiten der Kommunikation miteinander verbunden, weil es keine sachlichen Informationen darüber gab, was mit den Menschen geschah. Wir mussten viele Angehörige der Gefangenen vor Ort aufsuchen und befragen, um erklären zu können, was vor sich ging. Denn für viele Menschen war es die erste Erfahrung von Gewalt durch die Behörden. Kurz danach wurde Nasta eingeladen, die Arbeit der Freiwilligen bei Probono.by zu koordinieren. Probono vermittelt alle möglichen nützlichen Informationen für die Opfer der Repression, die Ergebnisse sind beeindruckend. So finden sich auf der Webseite etwa 100 medizinische Einrichtungen und praktische Ärzte, die Opfer kostenlos medizinisch versorgen.

Den Opfern helfen

N. L.: Eine wichtige Initiative von Probono.by war die Einrichtung eines Callcenters, in dem die Menschen rund um die Uhr anrufen können und wir sie an Initiativen vermitteln, die ihnen helfen können. Wir haben bereits rund 2‘000 Anrufe erhalten. 1‘300 Personen konnten wir unmittelbar helfen. In den letzten drei Wochen habe ich hier täglich 14 Stunden gearbeitet. Zuerst gab es Fragen dazu, wie man die Spuren der Gewaltanwendungen dokumentieren könnte. Jetzt gibt es weitere Fragen zu Gerichtsverfahren – die Ermittlungen haben bereits begonnen – oder Verwandte suchen nach Gefangenen. Es ist cool, dass sich Anwältinnen und Anwälte, die bisher nur auf Honorarbasis gearbeitet haben, eingeschaltet haben. Sie sind bereit, kostenlos an der Untersuchung von Folterungen mitzuarbeiten und helfen uns internationale Organisationen einzuschalten. Diese Bewegung, die den Opfern hilft, ist informell und selbstorganisiert. Ich bin froh, dass sich so viele Menschen beteiligen. Einige versorgen die Freiwilligen in unserem Zentrum mit Lebensmitteln und Material, jemand hat uns einen Raum und einen Laptop zur Verfügung gestellt.

Keine Angst mehr vor Repression

Diese Menschen sind es, die Belarus verändert haben. Schau zurück auf die Wahlen von 2010 oder erinnere Dich an die Protestveranstaltungen im Jahr 2017, als es viele Festnahmen nach dem Dekret „Steuer für Sozialparasiten“ gab. (Anm. d. Autorin: Wer pro Jahr weniger als 183 Tage legal arbeitet, sollte eine Gebühr von umgerechnet etwa 115 Euro bezahlen. Nach den Protesten wurde das Dekret geändert und wird kaum noch angewendet). Zu dieser Zeit war es schwierig, Solidaritätsaktionen zu organisieren. Aber jetzt ist alles anders. Die Menschen haben keine Angst mehr. Sie engagieren sich sehr aktiv und wollen definitiv etwas verändern. Aber es ist auch klar, dass das Ausmass der Repression, dem wir jetzt ausgesetzt sind, ein ganz anderes ist als früher. Ich dachte, ich wäre vorbereitet auf die Polizeigewalt, und ich dachte dabei an ein russisches Szenario, mit Elektroschocker oder Schlagstöcken. Aber ich hatte mich emotional nicht auf Schallgranaten und Gummigeschosse eingestellt. Es war schrecklich. Es war sadistisch. Während wir die Menschenrechtsverletzungen dokumentierten, sprachen wir mit medizinischen Fachleuten, die den Opfern halfen, auch denen von den Sicherheitskräften. In den Bluttests aller Polizisten wurden Drogen gefunden, darunter auch Amphetamin. Wir können diese Informationen nicht überprüfen, aber sie könnten einige Fragen zur Brutalität klären.

Entweder ins Ausland oder ins Gefängnis

A.: Mit welcher Taktik will die Bewegung einen Regimewechsel erzwingen und welche Rolle spielt dabei der Koordinierungsrat?

N. L.: Ich bin ziemlich skeptisch, was die Zukunft betrifft. Ich glaube nicht, dass Lukaschenko gehen wird. Das Ausmass an Paranoia der Macht ist enorm. In Belarus gibt es seit vielen Jahren einen Fälschungsmechanismus für Wahlen. Es war merkwürdig zu erwarten, dass diese Wahlen etwas ändern würden. Aber es hat mich interessiert, wie viele Wahllokale wirklich ungefälschte Resultate abliefern würden. Soweit ich mich erinnere, haben von 1‘580 Wahllokalen mehr als 100 ehrlich und korrekt gezählt. Und das ist ein Fortschritt für Belarus. (Nach der alternativen Stimmenauszählung "Golos", "ZUBR" und "Ehrliche Menschen" wurde von mehr als 550‘000 ausgewerteten Stimmzettelfotos die Fälschung in 30 Prozent der Wahllokale nachgewiesen – Anm. d. Autorin) Aber die belarussischen Behörden befinden sich jetzt in einer defensiven Position, in ihrer Welt der Post-Wahrheit haben alternative Meinungen keinen Platz. Das heisst: Für sie werden wir immer noch von Europa oder den USA bezahlt. Wir sind unwürdig, und sie machen sich Sorgen um uns und glauben, dass sie wissen, wie man besser lebt. Es gibt nichts, worüber man mit den Behörden sprechen könnte, und für mich ist der Koordinierungsrat ein verzweifelter Versuch, etwas zu tun. Es ist cool, dass Leute, denen man vertrauen kann, dort reingekommen sind. Jetzt sind die Kandidatinnen und Kandidaten der Opposition entweder im Gefängnis oder sie wurden aus dem Land ausgewiesen. Das ist ein weiteres belarussisches Merkmal – Nötigung zur Auswanderung. Man wird vor die Wahl gestellt, entweder das Land zu verlassen oder im Gefängnis zu landen. Und es ist auch notwendig zu verstehen, dass das Wahlprogramm der demokratischen Kandidat_inn_en zum Beispiel für mich kaum interessante Vorschläge enthielt. Die Hauptbotschaft war die Absetzung Lukaschenkos. Dabei ist die Todesstrafe in Belarus immer noch in Kraft. (Seit der Unabhängigkeit des Landes sind mehr als 300 Todesurteile vollstreckt worden. Anm. d. Autorin).

A.: Der belarussische Protest wird als eine kulturelle Revolution bezeichnet. Was inspiriert dich daran am meisten?

Frauen, LGBT und die Katholische Kirche

N. L.: Eines der spannendsten Ereignisse war der Frauenmarsch mit etwa 10‘000 Teilnehmerinnen. Eine Frauenagenda wurde eingeführt, die Probleme der Geschlechterdiskriminierung wurden sichtbarer. Es gab einen Queer-Block in der Demo, auf den die Leute unterschiedlich reagierten. Doch danach schrieben zahlreiche Teilnehmer_innen in den sozialen Medien, dass sie sich in ihrer unbeliebten Genderfrage durch die Demo unterstützt fühlten. Sehr wichtig war auch diese Sache mit der belarussischen Katholischen Kirche, die rund 55‘000 Unterschriften gegen die LGBT-Bewegung gesammelt haben, um ein Gesetz einzuführen, das dem russischen Gesetz zum Verbot der Propaganda von Homosexualität ähnlich ist. Es war ein schwerer Schlag für diejenigen, die für die Werte der Gleichberechtigung kämpfen. Nach den Wahlen drehte sich jedoch alles schlagartig. Als nämlich die Kirche das gewaltsame Vorgehen der belarussischen Behörden verurteilte, wurde dem Oberhaupt der belarussischen Katholischen Kirche die Einreise nach Belarus verweigert, obwohl er weissrussischer Staatsbürger ist. Alle waren völlig schockiert, denn es schien, dass wir in Sachen Menschenrechtsverletzungen in Belarus schon alles gesehen hatten, aber jetzt stellte sich heraus, dass es noch neue Dimensionen geben kann. Daraufhin gab die grösste Zeitschrift in Belarus Makeout (makeout.by) zu den Themen Geschlecht und Sexualität eine Erklärung ab, in der sie ihre Solidarität mit der belarussischen Katholischen Kirche zum Ausdruck brachte und ihr für ihre Haltung gegen die Gewalt dankte. Sie fügte hinzu, dass es wohl ideologische Unterschiede gäbe, aber die Situation erfordere Solidarität.

Die Menschen haben sich auf den gemeinsamen Nenner geeinigt, um sich zu verteidigen. So erleben wir auf der einen Seite eine Menschenrechtskrise, wenn die Polizei dein Telefon durchsucht, es beschlagnahmt, DNA-Tests macht und dich möglicherweise festnimmt, weil du auf deinem Smartphone bestimmte Kanäle des sozialen Netzwerks Telegram abonniert hast. Wenn du dich an die Polizei wendest, weil du von Einsatzkräften geschlagen wurdest, kannst du wegen der Organisation einer Massenrevolte angeklagt werden. Andererseits sehen wir unerwartete Ausbrüche der Kreativität im belarussischen Protest. Ich freue mich sehr, wenn Arbeiterinnen und Arbeiter in Fabriken unsere Hotline anrufen und uns fragen, wie man einen Streik organisiert. Oder wenn die Minsker Metro aus Solidarität für ein paar Stunden ihre Arbeit einstellt.

A.: Wie können wir helfen?

N. L.: Sprechen Sie über Belarus, führen Sie Solidaritätsaktionen durch. Es unterstützt uns enorm, wenn wir sehen, wie sich die ganze Welt um unser Land herum vereint. Es gibt jetzt zwei Hauptinitiativen, die systematisch auf der ganzen Welt Geld für die Opfer sammeln.

1.) „Solidaritätsfonds #Hilfe zur Unterstützung der Opfer der Repression in Belarus“ www.belarus97.pro/eng. Dieser Fonds kümmert sich um Zahlung von Bussgeldern und staatlichen Gebühren für die Tage im Gefängnis, Entschädigung für Anwaltskosten, Unterstützung für medizinische Behandlung und Rehabilitation.

2.) Der Solidaritätsfonds #Bysol unterstützt die Weissruss_inn_en, die von der politischen Repression betroffen waren oder infolge der Repression ihren Arbeitsplatz verloren haben: www.belaruswith.me. Dank der Spenden einfacher Bürger_innen verfügt er bereits über mehr als 1,7 Mio €. Er bietet Opfern der Repression eine Entschädigung von 1.500 € (500 € x 3 Monate).

Das Gespräch führte Nailya Ibragimova

KASTEN

Anm. d. Redaktion: Ihr könnt, wenn ihr helfen möchtet, auch Libereco in der Schweiz und in Deutschland kontaktieren: https://www.Iphr.org/en/category/belarus/ Deutschland: Libereco – Partnership for Human Rights e.V. Am Scheidweg 62 50765 Köln

Schweiz: Libereco – Partnership for Human Rights Breitingerstr.30 8020 Zürich