bell hooks: Das Patriarchat verstehen Teil 3

von Bell Hooks, 01.10.2019, Veröffentlicht in Archipel 285

In diesem dritten und letzten Teil des Auszugs aus ihrem Buch «The Will to Change: Men, Masculinity, and Love» schreibt bell hooks1 über die Vision von Feminist·inn·en, den Wahnsinn, den das Patriarchat fördert, und den Schaden, den es verursacht. Und über die Tatsache, dass Männer auch ohne die ihnen zugeschriebene Vorherrschaft Männer sein können. Tatsächlich ist die radikale feministische Kritik des Patriarchats in unserer Kultur weitgehend zum Schweigen gebracht worden. Sie ist zu einem subkulturellen Diskurs geworden, der nur gebildeten Eliten zugänglich ist. Aber selbst in diesen Kreisen gilt das Wort «Patriarchat» als veraltet. Es passiert oft, dass das Publikum lacht, wenn ich in meinen Vorträgen den Ausdruck «imperialistisches rassistisches (white-supremacist) kapitalistisches Patriarchat» verwende, um das politische System unseres Landes zu beschreiben. Niemand hat jemals erklärt, warum es lustig ist, dieses System korrekt zu benennen. Das Lachen ist selbst eine Waffe des patriarchalen Terrorismus. Es dient dazu, die Bedeutsamkeit dessen, was benannt wird, zu leugnen. Es suggeriert, dass die Wörter selbst problematisch sind und nicht das System, das sie beschreiben. Ich interpretiere dieses Lachen als einen Ausdruck des Unbehagens des Publikums auf die Aufforderung hin, sich mit einer antipatriarchalen, ungehorsamen Kritik zu solidarisieren. Dieses Lachen erinnert mich daran, dass ich Gefahr laufe, nicht ernst genommen zu werden, wenn ich es wage, das Patriarchat offen zu kritisieren.

Das System bleibt intakt

Bürger·innen dieses Landes haben Angst davor, das Patriarchat infrage zu stellen, sind sich ihrer Angst aber nicht bewusst, so tief sind die Regeln des Patriarchats in unserem kollektiven Unbewusstsein verankert. Ich sage oft zu meinen Zuhöre-r·inne·n, dass die meisten Leute ihre uneingeschränkte Unterstützung bekunden würden, wenn wir von Haus zu Haus gingen, um zu fragen, ob wir männlicher Gewalt gegen Frauen ein Ende setzen sollten. Wenn wir ihnen dann erzählten, dass wir männliche Gewalt gegen Frauen nur dann stoppen können, wenn wir der männlichen Dominanz ein Ende setzen, wenn wir das Patriarchat abschaffen, dann würden sie anfangen zu zögern und ihre Meinung zu ändern. Trotz der vielen Errungenschaften der modernen Feminismusbewegung – mehr Gleichheit für Frauen am Arbeitsplatz, mehr Toleranz für den Ausstieg aus starren Geschlechterrollen – bleibt das Patriarchat als System intakt und viele Menschen glauben nach wie vor, es sei notwendig für das Überleben der menschlichen Spezies. Dieser Glaube scheint ironisch, angesichts der Tatsache, dass patriarchalische Formen der Organisation von Nationen, insbesondere ihr Bestehen auf Gewalt als Mittel sozialer Kontrolle, in Wirklichkeit zu der Abschlachtung von Millionen von Menschen auf diesem Planeten geführt haben. Solange wir nicht gemeinsam den Schaden, den das Patriarchat verursacht, und das damit verbundene Leiden anerkennen, können wir den männlichen Schmerz nicht in Angriff nehmen. Wir können dann nicht für Männer das Recht einfordern, unversehrt zu bleiben, Leben zu geben und zu erhalten. Natürlich sind einige patriarchalische Männer zuverlässige und sogar wohlwollende Betreuer und Versorger, aber dennoch sind sie in einem System gefangen, das ihre seelische Gesundheit beeinträchtigt. Das Patriarchat fördert Wahnsinn. Es ist die Wurzel der psychologischen Probleme, die Männer in unserer Gesellschaft plagen. Nichtsdestotrotz gibt es keine grossflächige Beachtung der Not der Männer. In Stiffed: The Betrayal of the American Man (auf Deutsch: Männer – das betrogene Geschlecht, Reinbek 2001), bespricht Susan Faludi2 das Patriarchat nur sehr kurz: «Wer Feminist·inn·en fragt, was das Problem der Männer sei, bekommt oft eine sehr klare Antwort: Männer befinden sich in einer Krise, weil Frauen die männliche Vorherrschaft ernsthaft infrage stellen. Frauen fordern von Männern, ihre öffentliche Vormachtstellung zu teilen, und Männer verkraften dies nicht. Wer Anti-Feminist·inn·en fragt, wird eine Antwort bekommen, die der Vorherigen in einem Aspekt ähnlich ist. Männer seien beunruhigt, so sagen viele konservative Kritiker·innen, weil Frauen ihre initiale Forderung von Gleichberechtigung weit überschritten haben und jetzt versuchen, den Männern Macht und Kontrolle zu entreissen... Die darunter liegende Botschaft: Männer können keine Männer sein, wenn sie nicht die Kontrolle haben, sondern nur Eunuchen. Sowohl die feministische als auch die antifeministische Sichtweise entstammen einer eigenartig modernen amerikanischen Auffassung, nach der ‘Mann sein’ bedeutet, an den Hebeln der Macht zu sitzen und jederzeit den Eindruck zu haben, die Kontrolle zu behalten.» Nirgends stellt Faludi diese Idee der Kontrolle infrage. Sie erwägt an keiner Stelle, dass die Idee an sich falsch sein könnte, Männer hätten bis zum Aufkommen der modernen Frauenbewegung Kontrolle und Macht gehabt und seien mit ihrem Leben zufrieden gewesen. Das Patriarchat als System verweigert Männern den Zugang zu vollständigem seelischen Wohlbefinden, was nicht das Gleiche ist wie sich belohnt, erfolgreich oder mächtig zu fühlen, weil man in der Lage ist, Kontrolle über andere auszuüben. Wenn wir uns wirklich mit männlichem Schmerz und der Krise der Männer auseinandersetzen wollen, müssen wir als Gesellschaft bereit sein, die harsche Realität aufzudecken, dass das Patriarchat in der Vergangenheit Männern geschadet hat und es auch heute weiterhin tut. Wenn das Patriarchat Männer tatsächlich belohnen würde, würden die Gewalt und die Abhängigkeit im Familienleben, die so allgegenwärtig sind, nicht existieren. Diese Gewalt wurde nicht vom Feminismus erschaffen. Wenn das Patriarchat lohnend wäre, würde die überwältigende Unzufriedenheit, die die meisten Männer in ihrem Arbeitsleben verspüren – eine Unzufriedenheit, die in dem Werk von Studs Terkel3 ausführlich dokumentiert ist und sich in Faludis Abhandlung wiederfindet – nicht existieren.

Deformierung beider Geschlechter

In vielerlei Hinsicht ist «Stiffed: The Betrayal of the American Man» gleich noch ein Verrat an den amerikanischen Männern, weil Faludi so viel Zeit damit verbringt, das Patriarchat eben nicht anzugreifen, dass sie versäumt, die Notwendigkeit hervorzuheben, das Patriarchat abzuschaffen, um die Männer zu befreien. Stattdessen schreibt sie: «Anstatt mich zu fragen, warum Männer sich dem Kampf der Frauen für ein freieres und gesünderes Leben widersetzen, begann ich, mich zu fragen, warum Männer sich nicht mit ihrem eigenen Kampf befassen. Warum haben sie, trotz einer Anhäufung willkürlicher Wutanfälle, keine systematische, durchdachte Antwort auf ihre missliche Lage anzubieten? Warum lehnen sie sich nicht auf, angesichts der unhaltbaren und beleidigenden Natur der Forderungen an Männer, sich in unserer Gesellschaft zu beweisen? Warum haben Männer nicht mit etwas, das dem Feminismus gleichkommt auf die vielen Verrate reagiert – auf das Versagen ihrer Väter, ihre Versprechen einzulösen?» Bemerkenswert ist hier, dass Faludi weder das Risiko wagt, den Zorn feministischer Frauen auf sich zu ziehen mit dem Vorschlag, dass Männer ihre Befreiung in der Frauenbewegung finden können, noch die Zurückweisung potentieller männlicher Leser in Kauf nehmen will, die solide anti-feministisch eingestellt sind, indem sie vorschlüge, dass es ihnen etwas bringen könnte, sich mit dem Feminismus zu beschäftigen. Bisher ist die visionäre Frauenbewegung in unserer Gesellschaft die einzige soziale Gerechtigkeitsbewegung, die die Notwendigkeit betont, das Patriarchat abzuschaffen. Es gibt weder eine Frauenmassenbewegung, die das Patriarchat angefochten hat, noch hat sich eine Männergruppe zusammengetan, um den Kampf anzuführen. Die Krise, mit der die Männer konfrontiert sind, ist nicht eine Krise der Maskulinität, es ist eine Krise der patriarchalen Maskulinität. Solange dieser Unterschied nicht für alle klar ist, werden Männer weiterhin Angst haben, dass jedwede Kritik am Patriarchat eine Bedrohung darstellt. Der Therapeut Terrence Real4 unterscheidet zwischen politischem und psychologischen Patriarchat, wobei er ersteres als weitgehend dem Kampf gegen den Sexismus verpflichtet wahrnimmt, und macht klar, dass das uns alle verletzende Patriarchat sich in unserer Psyche verankert hat: «Das psychologische Patriarchat ist die Dynamik zwischen sogenannten ‘männlichen’ und ‘weiblichen’ Eigenschaften, in der eine Hälfte unserer menschlichen Wesenszüge verherrlicht und die andere Hälfte abgewertet wird. Sowohl Männer als auch Frauen beteiligen sich an diesem zerrütteten Wertesystem. Das psychologische Patriarchat ist ein ‘Tanz der Geringschätzung’, eine perverse Form der Beziehung, welche wahre Intimität ersetzt durch komplexe, verborgene Schichten aus Dominanz und Unterwerfung, geheime Absprachen und Manipulation. Es ist das uneingestandene Vorbild für unsere Beziehungen, das die westliche Zivilisation seit Generationen durchdringt, beide Geschlechter deformiert und das leidenschaftliche Band zwischen ihnen zerstört.» Indem wir das psychologische Patriarchat aufzeigen, können wir erkennen, dass wir alle davon betroffen sind, und können uns von der falschen Wahrnehmung lösen, dass Männer der Feind seien. Um das Patriarchat zu beenden, müssen wir sowohl seine psychologischen als auch seine konkreten Erscheinungsformen im täglichen Leben kritisch anfechten. Es gibt Leute, die fähig sind, das Patriarchat zu kritisieren, aber nicht dazu imstande sind, auf antipatriarchale Art und Weise zu handeln. Um den Schmerz, den Männer erfahren, zu beenden und wirkungsvoll auf Krisen der Männer einzugehen, müssen wir das Problem beim Namen nennen. Wir müssen sowohl anerkennen, dass das Patriarchat selbst das Problem ist, als auch aktiv darauf hinarbeiten, es zu beenden. Terrence Real liefert dazu folgende wertvolle Einsicht: «Die Rückforderung von Unversehrtheit ist ein Prozess, der für Männer noch viel nervenaufreibender ist als für Frauen, viel schwieriger und für unsere gesamte Kultur noch tiefgreifender bedrohlich. Wenn Männer all das Gute zurückerobern, was Männlichkeit ausmachen kann, wenn sie wieder Zugang zu Offenherzigkeit und emotionaler Ausdrucksfähigkeit erlangen, die grundlegend für das Wohlbefinden sind, dann müssen wir uns Alternativen zur patriarchalen Männlichkeit vorstellen. Wir müssen uns alle ändern.»

  1. bell hooks (Gloria Jean Watkins), geboren 1952 in Kentucky, Feministin, Aktivistin, Universitätsprofessorin und Autorin. Deutschsprachige Veröffentlichungen: Black Looks: Popkultur, Medien, Rassismus und Sehnsucht und Widerstand, beide im Orlanda-Verlag – fembooks
  2. Susan Faludi, geboren 1959 in New York, Journalistin und Publizistin, schreibt für grosse amerikanische Zeitungen. Backlash. Die Männer schlagen zurück (1991), ihr erstes Buch, wurde zu einem Klassiker des Feminismus. Weitere Bücher: Die Perlenohrringe meines Vaters, Männer – das betrogene Geschlecht und viele andere.
  3. Louis «Studs» Terkel (1912 – 2008) war ein US-amerikanischer Schriftsteller und Radiomoderator. Bekannt wurde er vor allem durch seine Radio-Interviews. Er bezeichnete sich selbst als «Guerilla-Journalist». Bücher: The Good War (Der gute Krieg. Amerika im Zweiten Weltkrieg); Die sind einfach anders. Die Angst vor der anderen Hautfarbe – der alltägliche Rassismus in Amerika; Die Alten sind doch nicht wir. Lebensspuren durch unser Jahrhundert und viele andere.
  4. Terrence Real, geboren 1950 in den Vereinigten Staaten, Familientherapeut und Autor. Auf Deutsch existieren die Bücher: Mir gehts doch gut. Männliche Depressionen – warum sie so oft verborgen bleiben, woran man sie erkennt und wie man sie heilen kann. Sowie: Was kann ich tun, dass Du mich hörst. Wie Männer und Frauen sich wieder nahe kommen.