BOSNIEN: Der Wahrhaftige - ein Nachruf auf Stevan Tontić

von Anke Glasmacher, Köln, Schriftstellerin, 14.04.2022, Veröffentlicht in Archipel 313

Am 12. Februar ist der bosnische Schriftsteller und Übersetzer Stevan Tontić in Novi Sad (Serbien) gestorben. Geboren wurde er am 30. Dezember 1946 im heutigen Bosnien/Herzegovina in Sanski Most, der «Stadt an neun Flüssen».

Stevan Tontić, der Lyriker, der Wahrhaftige, der Freund, der Mentor. Wenn ich an Stevan Tontić denke, fällt mir zuallererst das Wort wahrhaftig ein. Wahrhaftigkeit war ihm das Wichtigste. Nie hätte er sein Wort verkauft. Wie käuflich Worte in unserer Welt geworden sind, das liess ihn wechselweise verstummen und dagegen anschreiben. In den letzten Jahren hat er wieder häufiger angeschrieben. Mit jedem Wort blühte dann etwas auf. Heute Nacht erhielt ich die Nachricht, dass der bosnische Lyriker Stevan Tontić gestorben ist. Tot ist.

«Ausgerechnet jetzt», möchte ich schreien. «Ausgerechnet jetzt», weine ich, «während die Welt sich auf einen neuen Krieg in Europa vorzubereiten scheint.» Ich bin nicht geübt darin, mich auf Kriege vorzubereiten. Ich weiss nicht, wie ich die Botschaften zu deuten habe. Jetzt, wo schreien erforderlich wäre, sind die Medien erstaunlich sachlich, gefühllos bei der Übermittlung des Unvorstellbaren.

«Bleib wahrhaftig», hätte Stevan... nein, so direkt hätte er das nie gesagt. Nichts lag ihm ferner, als einen Menschen zu korrigieren. Er war ein stiller Zuhörer, ein Freund, der gerne lachte, wenn er Freunde um sich hatte. Er mochte den Austausch, er war ein zutiefst leiser, schüchterner, aber eben auch ein zutiefst politischer Mensch. Und ein Menschenfreund, trotz allem, was er Menschen hatte tun sehen. Seine Fassungslosigkeit stand in seinen Versen, niemals in einer Begegnung. Am stärksten enttäuscht hatte ihn Gott, gar nicht der Mensch. Ich glaube, er wird dort oben im Himmel eine ziemlich lange Zeit kein Wort mit Gott sprechen. Wer Stevan Tontić kennenlernen durfte, wird ermessen können, was das bedeutet, wenn er jemandem das Wort versagt. (...) Persönlich getroffen haben wir uns zum letzten Mal in Berlin, 2013 war das. Seine Berliner Verlegerin hatte eine gemeinsame Lesung bei Kostas Papanastasiou im Terzo Mondo organisiert. Ein so grosses Geschenk, neben ihm lesen aber noch mehr, seinen Gedichten zuhören zu dürfen. Manchmal freundlich-lakonisch, immer in einer eigenen Musikalität vorgetragen, bekamen sie einen Rahmen, der ihren Inhalt noch ungeschützter vordringen liess.

Stevan Tontić, geboren am 30.12.1946 in Sanski Most, hatte in Sarajevo Philosophie und Soziologie studiert. Er war ein bekannter und erfolgreicher Dichter, Verlagslektor, Übersetzer ins Deutsche – und ein entschiedener Kriegsgegner. Bis 1993 blieb er in Sarajevo, bis zuletzt in der besetzten und beschossenen Stadt. Als er erfuhr, dass er abgeholt werden sollte, um als Soldat in diesem Krieg zu kämpfen, floh er nach Berlin. Bis 2001 lebte er dort im Exil, unterstützt von Stipendien und Freunden. Wie anstrengend auch diese Zeit für ihn war, erzählte er nur manchmal und nur auf Nachfrage. Seine zahlreichen Bücher und Preise waren im Krieg geblieben. In Berlin veröffentlichte er u.a. seinen ausgezeichneten Lyrikband «Handschrift aus Sarajevo» (Verlag Landpresse). Ein erschütterndes Zeugnis über das Jahr im Krieg, die tägliche Lebensgefahr und Todesangst, das Sterben von Kindern, Frauen und Freunden, das ihn von nun an umgab. Krieg ist für die Seele nicht aushaltbar. In Deutschland wurde er für dieses Werk mit dem Horst-Bienek-Preis für Lyrik (2000), dem Hilde-Domin-Preis für Literatur im Exil (2001) und zuletzt mit dem Reiner-Kunze-Preis für widerständige Poesie (2019) ausgezeichnet.

2001 war Stevan Tontić zurück nach Sarajevo gezogen, in seine Heimat. Er wollte mithelfen, den Frieden wiederaufzubauen. Doch der Friede war zu brüchig für einen Dichter wie ihn. Erst in den letzten Jahren konnte er wieder arbeiten. Inzwischen war er nach Novi Sad gezogen, veröffentlichte neue Gedichte und übersetzte jüngere deutsche Lyriker ins Serbokroatische.

Am 30. Dezember wollte ich ihm schreiben, wie jedes Jahr zu seinem Geburtstag. Ich weiss nicht, warum ich es ausgerechnet dieses Mal vergass. Ich konnte mich nicht verabschieden. Der Lyriker Stevan Tontić ist am 12.02.2022 in Novi Sad gestorben. Er fehlt. Ruhe in Frieden, mein Freund!

Anke Glasmacher, Köln, Schriftstellerin Köln, 13. Februar 2022

Das Gesicht

Die einzige unversehrte Tür in der verwüsteten Wohnung habe ich an das einzige noch heile Fenster gestellt: Dort schläft meine Liebste, mein kleines Mädchen.

Ich habe Angst: das Glas träfe ihr helles Gesicht und entstellte eine solche himmlische Schönheit derentwegen, so denke ich, die Sonne aufgeht.

Stevan Tontić, Handschrift aus Sarajevo (1993)