BUCHBESPRECHUNG:«Die Befehlskette» Vom 11. September bis Abu Ghraib

von Heinrich Frei (Zürich), 04.06.2005, Veröffentlicht in Archipel 128

Im Magazin «The New Yorker» erschienen bereits früher, in anderer Form, Texte des Buches «Die Befehlskette» von Seymour M. Hersh.

In dieser Zeitschrift wurde anfangs der 1960er Jahre auch die Berichte von Hannah Arendt über den Eichmann-Prozess in Jerusalem veröffentlicht, ein Report, der später als Buch unter dem Titel «Eichmann in Jerusalem» bekannt wurde.

Was wird im diesem Buch behandelt?

Von Seymour M. Hersh werden die Hintergründe des Folterskandals in Abu Ghraib dargestellt und die Probleme im Internierungslager der amerikanischen Marinebasis Guantánamo Bay auf Kuba. Dann das Versagen der Geheimdienste, die sich vor dem Krieg gegen den Irak nicht durchsetzen konnten, als die US-Regierung mit getürkten Informationen über Massenvernichtungsmittel den Angriff auf den Irak vorbereitete. Weiter wird «Der andere Krieg» in Afghanistan von Hersh geschildert: Die geheimen Schlachten, die Evakuierung von pakistanischen Armeeangehörigen aus Afghanistan, was seinerzeit einer unbekannten Zahl von Taliban- und al-Qaida Kämpfern ermöglichte, sich dem Exodus anzuschließen, aus Afghanistan zu fliehen. Das Ringen um die Kriegserklärung an Saddam Hussein der Irak-Falken im Weissen Haus dokumentiert Hersh. Die Geschäfte, die Richard Perle, im Hinblick auf einen lukrativen Krieg, mit dem Waffenhändler Adnan Khashoggi einzufädeln versuchte. - Perle war Vorsitzender des Verteidigungspolitischen Rates der USA. Das Kapitel «Ein höchst gefährlicher Freund» ist Pakistan gewidmet, einem Land, das über Atombomben verfügt und dessen Präsident General Pervez Musharraf von den USA als ein Verbündeter im Kampf gegen den Terrorismus betrachtet wird. Zuletzt analysiert Seymour M. Hersh die Situation im Nahen Osten nach dem 11. September 2001, das korrupte, feudale, unstabile saudische Regime, die Lage im Iran, das die nächste Atommacht werden könnte, die Rolle Israels, der Türkei und der Kurden.

1969: Das Massaker von My Lai in Vietnam

Seymour M. Hersh wurde 1969 weltbekannt, als er während des Vietnam-Krieges das Massaker von My Lai aufdeckte. Die Soldaten der 11. Brigade der US-Army hatten damals, im März 1968, im Zuge einer Operation, die als Fahndung nach Soldaten des Vietcong begonnen hatte, mindestens 500 Zivilisten ermordet. – darunter viele Frauen, Kinder, ja Babys und Alte. Manche erschossen sie von Hubschraubern aus, andere aus nächster Entfernung auf dem Boden. Es gab auch Vergewaltigungen und Folter. Nach einem stundenlangen Gemetzel steckten die Soldaten das Dorf My Lai in Brand und ließen ein Areal von Leichen zurück.

2004: Der Folter-Skandal in Abu Ghraib

2004 sorgte Hersh erneut für Aufsehen, als er massgeblich den Folter-Skandal im irakischen Abu Ghraib Gefängnis bekannt machte. Im vorliegenden Buch, «Die Befehlskette», dokumentiert er, wie es zu der menschenrechtsverletzenden Behandlung der Gefangenen in Guantánamo und dann in Abu Ghraib gekommen ist. Er deckt auf, wie die US-Regierung im Rahmen des Krieges gegen den Terror den Rechtsstaat ausser Kraft setzte. Bei seinen Ermittlungen stieß er auf ein geheimes Special-Acess-Programm, das weltweit Aktionen, Folterungen und Morde einer Spezialtruppe erlaubte, ausserhalb jeder Legalität. Diese Formation, für die Recht, Gesetz und internationale Konventionen nicht existierten, hatte auch im Foltergefängnis Abu Ghraib das Sagen. Verteidigungsminister Donald Rumsfeld wollte mit dieser Truppe dieses Special-Acess-Programms die «Menschenjagd», wie er es nannte, effektiver gestalten als die hohen Generäle des Pentagon mit ihrer zögerlichen Haltung.

In Abu Ghraib war eine supergeheime amerikanische Spezialeinheit tätig. Einfache Militärpolizisten, am Ende der «Befehlskette», die die Misshandlungen durchgeführt hatten, wurden dann bestraft.

Geheime Gefängnisse unterhalten die USA auch in Singapur, Thailand, Pakistan und in anderen befreundeten Staaten. Der Auftrag der US-Regierung war, die Gefangenen in diesen Knästen weich zu klopfen, alles aus ihnen heraus zu holen, was nützlich sein konnte im Krieg gegen den Terrorismus. - Das Weisse Haus bekämpft den Terror mit eigenem Terror, stellte Hersh fest. - Bush sprach davon «sie in ihren Löchern auszuräuchern» und sie «tot oder lebendig» zu fassen. Und Verteidigungsminister Donald Rumsfeld war derjenige, der dafür die erforderlichen Mechanismen entwickelte. Es nützte nichts, als führende CIA Leute darauf hinwiesen, dass man mit Hilfe von Folterungen nicht an Informationen herankommen könne.

Seit dem 11. September 2001 wurde der Mord an einzelnen al-Quaida-Mitgliedern von der Bush Regierung zunehmend als eine vertretbare Militäraktion in einem neuartigen Krieg angesehen. Juristen des Vereidungsministeriums kamen zum Schluss, dass der Mord ausgewählter Einzelpersonen nach dem Kriegsrecht nicht illegal sei.

«Einer der Gründe, warum ich meinen Abschied nahm», sagte ein ehemaliger Geheimdienstmitarbeiter, «war mein Eindruck, dass sie (die Regierung) Informationen von der CIA und anderer Geheimdienste nur dann einbezogen, wenn sie mit ihrer Agenda übereinstimmten».

Kein zweites Phoenix Mord-Programm im Irak

Schon bevor die Misshandlungen der Gefangenen im Irak bekannt wurden, protestierten Angehörige des amerikanischen Geheimdienstes CIA gegen die «Behandlung» der Inhaftierten, wie Hersh schreibt. Die Agency setzte sich mit Anwälten in Verbindung und beendete ihre Aktivitäten in Abu Ghraib, die mit dem geheimen Special-Acess-Programm im Zusammenhang standen. Ein ehemaliger Geheimdienstmitarbeiter sagte: «Wir werden unsere Jungs nicht dafür hergeben.» «Wir haben das schon einmal gemacht.» Während des Vietnamkrieges, geriet das Phoenix-Programm des CIA zur Eliminierung nordvietnamesischer Agenten in Südvietnam ausser Kontrolle. Laut südvietnamesischen Statistiken fielen zwischen 1968 und 1972 fast 41‘000 Menschen diesem Mordprogramm des amerikanischen Geheimdienstes zum Opfer. Zivilisten wurden damals heimlich eliminiert, mutmaßliche Sympathisanten der Kommunisten, tatsächlich aber meist Menschen, die mit der Guerilla-Organisation des Vietcong überhaupt nichts zu tun hatten.

Informationsquellen

Seymour M. Hersh wird als der Chef-Enthüllter Amerikas bezeichnet. Seine Enthüllungen holt er sich jedoch nicht von «irgendwelchen netten Altlinken oder dem Wetteransager oder Gegner der amerikanischen Machtpolitik», wie er sagt. «Ich bekomme sie von guten, altmodischen Anhängern dieser Verfassung. Ich habe vor langer Zeit festgestellt, dass man Menschen nicht einfach nach ihrer politischen Anschauung beurteilen darf. Ausschlaggebend ist: Sind sie integer oder nicht?» Hersh bekommt seine Informationen vor allem von Beamten, Analytikern des Geheimdienstes, Botschaftern, Militärs und Agenten. Im Gegensatz zu Noam Chomsky, der die ganze imperiale Wirtschafts- und Machtpolitik der USA ins Visier nimmt, analysiert Hersh im vorliegenden Buch innerhalb des Systems die Abläufe, die Rechtstaatlichkeit, die Befehlskette.

Wie konnten sich die neokonservativen Ideologen durchsetzen

Im Epilog des Buches stellt Seymour M. Hersh die Frage, wie es dazu kommen konnte, dass sich die acht oder neun neokonservativen Ideologen in Washington durchsetzen konnten, diese Leute, die es als zweckmässig ansahen, den Irak anzugreifen im so genannten Krieg gegen den Terrorismus. Wieso konnte diese Gruppe so mühelos die amerikanische Regierung umsteuern und festgelegte Prioritäten der US-Politik über den Haufen werfen? Wie gelang es ihnen, die Bürokratie auszuspielen, die Presse einzuschüchtern, den Kongress hinters Licht zu führen und das Militär unterzuordnen?

In seinem Report «Die Befehlskette» versuchte Seymour M. Hersh auf diese Fragen Antworten zu geben, wohl wissend, dass es noch so vieles an dieser Präsidentschaft von George. W. Bush gibt, was wir nicht wissen und vielleicht auch nie erfahren werden.

Heinrich Frei

Zürich

heinrich-frei@bluewin.ch

«Die Befehlskette, vom 11. September bis Abu Ghraib», Seymour M. Hersh, Reinbeck bei Hamburg 2004. ISBN 3-498-02981-9