BUCHBESPRECHUNG: Hitlers Volksstaat

von Paul Braun (EBF), 06.10.2008, Veröffentlicht in Archipel 163

Götz Aly, Jahrgang 1947, ist bekannt für seine Arbeiten zur Geschichte des Nationalsozialismus. Er hat als Professor, berufen an das Frankfurter Fritz-Sauer-Institut, den dortigen Lehrstuhl für interdisziplinäre Forschungen zur Shoah inne. Er erhielt den angesehenen Heinrich-Mann-Literaturpreis und den Marion-Samuel-Preis. Letzterer wird Autoren verliehen, deren Schriften zum Kampf gegen das Vergessen und die Relativierung der Nazi-Verbrechen beitragen.

Sein jüngstes Buch hatte in Deutschland großen Erfolg, wurde in der Presse und in akademischen Kreisen viel diskutiert.

Über 400 Seiten und gestützt auf viel Zahlenmaterial wird die zentrale These des Buches entwickelt. Dieser zufolge konnte das Naziregime sich nur an der Macht halten, indem es das deutsche Volk buchstäblich kaufte und ihm einen annehmbaren Lebensstandard garantierte, und dies bis zum bitteren Ende. Das Terrorregime und das Spezifische des deutschen Antisemitismus hätten demnach nur sehr geringe Bedeutung. Das Naziregime wäre, folgt man dem Autor, zu den «kleinen Leuten» (in steuerlicher Hinsicht) sehr milde gewesen und hätte die Reichen sehr viel stärker besteuert. Nicht zuletzt seien es die eroberten Länder gewesen, die dank vielfältiger Mechanismen den Hauptteil der Ausgaben für den Krieg gedeckt hätten. Nazideutschland wird in der Beschreibung von Aly zu einer «Wohlfahrts-Diktatur». Der Staat, und nicht die Großunternehmen, soll den wesentlichen Nutzen aus dem Raub jüdischen Vermögens und der Zwangsarbeit in ganz Europa gezogen haben. Die Zustimmung des deutschen Volkes zur Politik der Nazis stütze sich im Wesentlichen nicht auf ein ideologisches Fundament, sondern resultiere aus einem System materieller Vorteile: Dieses System sei konzipiert worden, um die Deutschen generell besser zu stellen. Letztlich habe jeder von den ‚Herrenmenschen’, und dabei handelte es sich nicht nur um einige Nazifunktionäre, sondern um 95 Prozent der Deutschen, seinen Teil von den geraubten Vermögen erhalten, sei es in Form von Geld oder Essen auf dem Teller – aus den okkupierten Ländern eingeführte Lebensmittel, bezahlt mit gestohlenem Geldvermögen oder Gold. Die Opfer von Bombardierungen hätten Kleidung von ermordeten Juden getragen und sich in deren Betten zur Ruhe gelegt, voll Dank für den Staat, der ihnen so schnell zur Hilfe geeilt sei. Die Shoah bliebe unverstanden, würde sie nicht analysiert als der schrecklichste Massen-Raubmord der modernen Geschichte.

Der Autor gehört wahrscheinlich zu den ersten, die zum Staatshaushalt der Nazis vor und während des Krieges wie auch zu den diversen Methoden der Ausraubung aller okkupierten Länder eine seriöse Arbeit vorgelegt haben. Man erfährt von ihm eine Reihe sehr interessanter Dinge (die zum Beispiel der These von Sebastian Haffner widersprechen, Deutschland hätte bis 1939 ökonomisch erfolgreich agiert). Von 1935 an untersagte Hitler die Veröffentlichung des Staatshaushaltes und verfolgte eine staatliche Investitionspolitik, die zu einer kolossalen Verschuldung führte. Diese, so der Autor, war einer der Gründe für die Flucht nach vorn in den Krieg. 1938 sagte Goebbels anlässlich der Haushaltsvorlage: «Wir haben ein grosses Defizit, aber wir haben Österreich.» Der Staat, der mehr und mehr auf Pump und mit kurzfristigen Zusagen wirtschaftete, hatte ein so genanntes Schneeballsystem kreiert. Für den Autor erklärt dies den Fakt, dass Deutschland sich mit den Siegen von 1940 nicht zufrieden geben konnte und ständig neue Kriegsabenteuer anzettelte, um die Maschine am Laufen zu halten.

Kritik Dieses Buch enthält sehr interessante Fakten, gleichzeitig ist jedoch seine Grundthese problematisch und in mehrerer Hinsicht zu kritisieren. Götz Aly geht von einer feststehenden These aus und möchte alle historischen Erkenntnisse mit dieser in Übereinstimmung bringen. Als Historiker hat er damit offensichtlich Probleme: Wenn die These von der Unterstützung durch die gekauften Deutschen auch einige Erklärungen liefert, sollte sie dennoch nicht zum System erhoben werden. Mehrere deutsche Historiker werfen ihm unpräzisen Umgang mit den Zahlen vor, sowie die Nichtberücksichtigung von Fakten, die nicht in sein Schema passen.

Sieht man zum Beispiel, wie gut Hitler es verstand, sich der Unterstützung eines bedeutenden Teils der Bourgeoisie und der Großindustrie zu versichern, so ist leicht zu begreifen, dass seine Politik der Unterstützung für die «kleinen Leute» nur eine Seite der Medaille ist. Die Zerschlagung der Gewerkschaften hat die Stellung der Arbeiter geschwächt, selbst wenn später durch Hitler der bezahlte Urlaub, das Rentensystem und andere soziale Maßnahmen eingeführt wurden. Dazu sei angemerkt, dass solche Maßnahmen in Frankreich und Deutschland zeitgleich vorgenommen wurden, einerseits von der sozialistischen Volksfrontregierung und andererseits vom Naziregime. Die Indikatoren, die der Autor zur Beurteilung des «Wohlstandes» in Deutschland heranzieht, sind gleichermaßen unzureichend. Er berücksichtigt nicht die Arbeiten der Historiker, die sich auf Statistiken zur Volksgesundheit, auf Größe und Gewicht von Neugeborenen, auf Kindersterblichkeit etc. beziehen und die eine Verschlechterung des Lebensniveaus hätten erkennen lassen, ganz zu schweigen von der Bombardierung deutscher Städte, den Rationierungen und den Millionen Toten an der Ostfront ab 1942.

«Nutzen»-Analyse In der Frage der Shoah stimme ich ganz und gar nicht mit dem Autor überein. Mit der Feststellung, die Beraubung wäre der eigentliche Grund für die Vernichtung der Juden durch die Nazis gewesen, verkehrt er Ursache und Wirkung. Götz Alys Hauptirrtum besteht darin, dass er Ideologie als äusserst zweitrangig ansieht bei der historischen Ana-lyse. Er hat eine sehr ‚materielle‘ Lesart und lässt die Dialektik zwischen Individuum und Gesellschaft sowie zwischen Abbild und Wirklichkeit unberücksichtigt. Die Ideologie ist demnach letztlich der Wirklichkeit nur aufgepfropft, ohne sie wirklich zu beeinflussen.

In seinem Buch versucht er, alle Maßnahmen gegen die Juden in Europa seiner «Nutzen»-Analyse zu unterwerfen. Hier sind die Juden beraubt worden, um die Okkupation zu bezahlen, dort, um die Lebensmittelrationen in Deutschland zu erhöhen, woanders, um Rüstungsausgaben zu begleichen etc. Sämtliche Massaker wären also nur die Folge von Rationalität und ökonomischem Kalkül. Ohne diesen Aspekt leugnen zu wollen, scheint es mir doch wesentlich zu begreifen, dass die Naziideologie eine religiöse, irrationale und zerstörerische Komponente beinhaltete und dass diese Ideologie tief ins Bewusstsein der Leute eingedrungen ist. Viele Historiker beurteilen die Deportation der ungarischen Juden 1944, die zeitgleich mit der Befreiung Frankreichs und der immer offensichtlicher werdenden Niederlage im Krieg ablief, als einen Akt des Wahnsinns oder als Verbohrtheit Hitlers, der bis zum Äußersten gehen wollte. Er wollte, wenn der Krieg schon verloren geht, wenigstens sein anderes Kriegsziel, die Vernichtung aller Juden Europas, erreichen. Aber auch da sieht Götz Aly nichts als rationelle, ökonomische Gründe: Die ungarischen Juden seien deportiert worden zum Zwecke der Beraubung, um die Kriegskasse zu füllen. Im Sommer 1944 war die Wehrmacht an der Ostfront auf der Flucht und im Westen auf dem Rückzug. Ganz offensichtlich entzog die Deportation von mehr als 400.000 Juden aus Ungarn nach Auschwitz ins Vernichtungslager der Wehrmacht Transportmittel und Personal, die sie woanders gebraucht hätte, wenn der Krieg noch gewonnen werden sollte.

Tendeziöse Auswahl

Im Großen und Ganzen ist dieses Buch interessant, selbst wenn die Grundthese problematisch ist. Die von mehreren Historikern vorgebrachte Kritik seiner Methode und seiner tendenziösen Auswahl von Informationen, verursacht zudem ein gewisses Unbehagen, denn man muss mit der Materie schon sehr vertraut sein, um den Inhalt richtig zu beurteilen.