BUCHVORSTELLUNG: Ein Krokodil für Zagreb

von Herma Ebinger, 21.06.2017, Veröffentlicht in Archipel 260

Winzig klein noch, reist unterm Hemd Ado von Achenbach von Berlin über Prag ins Königreich Jugoslawien. Auf der Flucht aus dem faschistischen Deutschland. Hier begegnet Ado Seka Majstorovi, geboren in Sarajevo und nun Journalistin in Zagreb.

Diese Begegnung ist der Ausgangspunkt für die Geschichte der Familie Achenbach, quer durch das vorige Jahrhundert, verschiedene Länder und gesellschaftliche Systeme, bis hin zum Heute.
Die poetische Erzählung ergreift, führt nochmals durch das Jahrhundert voller Aufbrüche und Hoffnungen, voller Grausamkeit und Tod. Und bringt Menschen nahe, die man persönlich nicht kannte, aber die nun irgendwie zu einem gehören.
Mit Seka fährt man auf den bosnischen Friedhof, spürt den Schmerz, den die Mutter ihrer jüngsten Tochter zufügt, die die Diphtherie überlebt hat, während die ältere, kräftigere Jelena nun hier begraben liegt.
Die Abenteuer, die das Mädchen Seka mit dem Vater, dem Grossvater, der Köchin und deren Tochter erlebt, nehmen einen mit auf die arabische Halbinsel, in die bosnischen Berge, in die Küche. Der muslimische Grossvater sucht für seine Tochter, die Mutter Sekas, die beste Schule und findet sie im Kloster der Franziskaner – Christentum und Islam sind für ihn einander nah. Seka, halb so alt wie Ado, ergreift die Initiative, gesteht dem kommunistischen Flüchtling ihre Liebe. Ihr erstes Kind, ein Mädchen, bekommt den Namen Marina – und Dunja, weil die Quitten blühen. Und da am selben Tag, dem Karfreitag 1939, Mussolini beginnt, Albanien zu unterwerfen, bekommt sie noch den Namen Irena, Frieden, wie eine Beschwörung gegen den heraufziehenden Krieg.
Doch die Wehrmacht marschiert in Zagreb ein, plötzlich wimmelt es von Ustaschas. Seka wird für drei Tage gefangen genommen, mit dem Baby. Ado kommt für vier Wochen ins Gefängnis. Freunde gehen zu den Partisanen. Der Sohn Andreas wird geboren.
In Deutschland
Als die Ustaschas wieder an die Tür klopfen, bleibt der Familie nur die Flucht nach Berlin, mit Hilfe des deutschen Konsuls. Dort kommen sie bei Ados Mutter, die den gelben Stern tragen muss, unter.
Ado entzieht sich dem Militär im Ersten Weltkrieg, steht 1919 auf Münchens Barrikaden. Aus dem Münchner Gefängnis, in dem Ado die Todesstrafe droht, holt ihn sein preussischer Vater. Der bis zu seinem Tod nicht mehr mit dem Sohn redet.
Als die Bomben auf Berlin fallen, fährt Seka mit den Kindern auf die Halbinsel Darss an der Ostseeküste. Ado darf Berlin nicht verlassen. Seine Mutter wird nach Theresienstadt deportiert. Später wird Ado geholt, kommt ins Aussenlager Dora und dann Leuna des KZ Buchenwald. Flieht, erreicht den Darss. Kurze Zeit später ist der Krieg vorbei.
Alte Freunde, die das Exil und die KZ überlebt haben, sitzen am Tisch, machen Pläne, Ado glücklich, Seka vorsichtig, misstrauisch. Jugoslawien rückt für sie in weite Fernen, Ado stürzt sich mit grossem Engagement in den Aufbau der neuen Gesellschaft.
Nach dem Aufbau der Rostocker Theaterhochschule geht es nach Weimar, ins Schloss Belvedere, nun eine Schauspielschule. Ein Paradies für die Kinder Marina und Andreas. Aber sie erfahren auch, dass amerikanische Soldaten die Bürger von Weimar mit LKW zum Konzentrationslager Buchenwald brachten, damit sie sehen, was dort neben ihrer Klassiker-Stadt geschah.
Ados Herz ist gross, er will die Liebe einer jungen Bühnenbildnerin nicht zurückweisen. Aber auch bei Seka und den Kindern bleiben. Seka flieht zu Freunden nach Berlin, holt später die Kinder nach. Sie beginnt beim sowjetischen Pressedienst, später arbeitet sie für die ABC-Zeitung für Kinder, bringt Schriftsteller dazu, für Kinder zu schreiben, verliebt sich in einen. Nur mit Ado kann sie über ihre heimliche Liebe reden. Für die Jugoslawin eine gefährliche Situation – Tito hat mit Stalin gebrochen. Das Misstrauen ist gross.
Nikola wird geboren. Der 17. Juni 1953. Die Parteigruppe richtet über Seka. Sie wirft ihnen ihr Parteibuch hin und geht.
Verbannte Kommunisten kommen aus den sibirischen Arbeitslagern zurück, erzählen von den vielen, die nie zurückkehren. Die Weimarer Schauspielschule zieht nach Leipzig.
Geplanter Ostsee-Urlaub, statt Ado, seinen Kindern und Eva kommt ein Telegramm: Ado ist tot. Herzinfarkt.
Protestbewegungen
Ihre darauffolgende Ehe – ein Irrtum. Die DDR für sie unwirtlich. Seka bereitet ihre Rückkehr nach Jugoslawien via West-Berlin und München vor. Ein Sommer in Dalmatien mit alten Freunden, Erkundungen in Zagreb. Gespräche mit der Geheimpolizei, Verhöre. Und wie schon in der DDR weigert sie sich auch hier, sich gegen das jeweilig andere Land missbrauchen zu lassen. Zurück nach München; zwei Jahre Starre und dann die Zwangsräumung. Freunde der Kinder nehmen sie auf.
Dann steht sie wieder, geht zum Arbeitsamt, wird Hilfskraft in der Fabrik, macht eine Umschulung, geht in die Gewerkschaft, setzt sich nach der Mai-Demonstration an den Tisch zu den Kommunisten, deren Partei verboten ist, wehrt sich gegen den weit verbreiteten Antikommunismus, gegen Rassismus. Freut sich an den Aufbrüchen um 1968. Fährt für einige Monate mit Freunden nach Sambia, wo Untergrundkämpfer aus Südafrika, Namibia und Süd-Rhodesien Asyl bekommen.
Und nimmt die Freunde mit nach Istrien, Zagreb betritt sie nie wieder.
Der Jugoslawienkrieg. Seka weigert sich, darüber zu reden. Marina und Andreas fahren nach Sarajevo.
Seka wird 80 Jahre, erlebt die Jahrtausendwende, protestiert gegen die Irak-Kriegsvorbereitung. Und muss den Unfalltod ihres jüngsten Sohnes verkraften.
2007 ist ihr schönes, schweres, verrücktes Leben zu Ende.
Ihre Tochter Marina, Autorin dieses Buches, hatte der Mutter aus dem Schweizer Internat geschrieben: «Ich liebe besonders solche Sätze, die anscheinend nur beschreiben, dabei aber schon eine Erkenntnis in sich haben». Das hat sie selbst befolgt in ihrem Buch, das so andere Töne in diese beschädigte, bedrohte Welt bringt.

Marina Achenbach: Ein Krokodil für Zagreb. Edition Nautilus, März 2017, 224 Seiten, gebunden,19,90 Euro, ISBN: 978-3-96054-033-5