BUCHVORSTELLUNG: Eine kritische Analyse

von Bernd-Kai Gareseé, 21.01.2017, Veröffentlicht in Archipel 255

In Frankreich sorgt das «Comité invisible» (Unsichtbares Komitee) mit seinen radikal-revolutionären Ansinnen für Aufsehen. Ein Leser hat uns eine ausführliche Zusammenfassung der letzten Schrift des Komitees zugeschickt und bietet damit die Gelegenheit, sich kritisch mit dessen Thesen auseinanderzusetzen.

«Die Gegenwart zu entwirren und stellenweise mit jahrtausendealten Verlogenheiten aufzuräumen» – dieser Satz aus dem Nachwort beschreibt treffend den Ansatz der Flugschrift «An unsere Freunde» des «Unsichtbaren Komitees»1. Entwirren: das Verhältnis von Lokalem und Globalem, Pazifist_innen und Radikalen, Krise und Krisenbewältigung, Regierung und Selbstbestimmung, Organisator_innen und Organisierten und manchem mehr. Das Autor_innen-Kollektiv analysiert eine Vielzahl von Sprach- und Denkverwirrungen und verbindet dies zu einem komplexen Text, der an viele Kämpfe und Bewegungen anschlussfähig ist. Die Fülle der Gedanken ist nicht auf einen Nenner zu bringen oder einzuordnen, das genaue und wiederholte Lesen lohnt. Der folgende Schnelldurchgang durch die acht Kapitel des Buches möchte Lust wecken, dies zu tun.
Zur Machtfrage
Die vielfachen Krisen der letzten Jahre werden im ersten Kapitel als spezifische Regierungstechnik entschlüsselt: «Krisen werden ausgelöst, um das Mittel einzusetzen», das vorher schon bereitgestellt wurde. Krisendiskurse werden geführt, um Umstrukturierungen zu rechtfertigen und «eine chronische existenzielle Unsicherheit wachzuhalten.» Muss wirklich regiert werden? Regieren sei nicht universell, sondern vielmehr eine «spezifische Herrschaftsform», welche bedeute, «die Verhaltensweisen einer Bevölkerung, einer Vielheit zu lenken.» Gegen die Versuchung, diese Art von Regierung zu akzeptieren oder gar eine solche Regierung zu übernehmen, wendet sich das zweite Kapitel: «Sie wollen uns zum Regieren zwingen, auf diese Provokation werden wir uns nicht einlassen.»
Unter «Die Macht ist logistisch» analysiert das dritte Kapitel, dass die wesentliche Macht nicht mehr in den Institutionen oder an bestimmten Orten konzentriert ist, sondern in den Infrastrukturen liegt. Menschen und ihre Bedürfnisse wie auch die Produktion seien zerlegt worden, im Interesse der Kontrolle beider, mit der Folge von «Ödnis und existenzieller Depression». Im Bereich der Landwirtschaft ist klar, dass die industrielle Landwirtschaft mit ihrer globalen Vernetzung sehr auf eine kontinuierlich funktionierende Transport-Logistik angewiesen ist: Futtermittel und andere Rohstoffe, aber auch verarbeitete Produkte werden oft um die halbe Welt transportiert.
Freudige Aktionen
Das «Unsichtbare Komitee» hat nun insbesondere städtische Konflikte im Blick, wenn es beschreibt, dass die Besetzung von Plätzen – von zentralen Versammlungsplätzen in den Städten wie auch die von Bauplätzen, um Grossbauten zu verhindern – den Beteiligten Freude bereitet, weil «das Leben nicht mehr in unverbundene Teile zerstückelt“ ist. «Schlafen, kämpfen, essen, sich pflegen, feiern, sich verschwören, diskutieren gehören zum selben vitalen Impuls». Erfahrungen etwa im Bereich des Widerstandes gegen Gentechnik-Freisetzungen zeigen, dass Ähnliches auch dort zu beobachten ist: Besetzung von Feldern, die für die GVO-Ausbringung vorgesehen waren, oder die kollektive Entfernung von GVO-Konstrukten bereiten den Beteiligten oft Freude und sind als Aktionen Katalysatoren für weitere politische Aktionen.
Ingenieur oder Hacker?
Das vierte Kapitel «Fuck off Google» plädiert für eine Beachtung der Technikfrage, wegen der unumgänglichen technischen Vermittlung allen menschlichen Lebens: «Das Verhältnis des Menschen zur Welt ist (…) grundlegend künstlich, technisch, um mit den Griechen zu sprechen. Jede menschliche Welt ist eine bestimmte Konfiguration aus kulinarischen, architektonischen, spirituellen, erotischen Techniken, aus Landwirtschafts-, Informations-, Kriegstechniken etc.». Im Gegensatz dazu stehe die Technologie als «die Systematisierung der effizientesten Techniken und folglich die Einebnung der Welten“. Der Ingenieur sei folglich der oberste Enteigner von Techniken. Als Gegenfigur zu ihm wird der Hacker aufgerufen: «Wo der Ingenieur alles, was funktioniert, in Beschlag nimmt, damit alles besser funktioniert und er es in den Dienst des Systems stellen kann, fragt sich der Hacker, ‚wie funktioniert das?‘, um die Schwachstellen aufzudecken, aber auch um sich andere Nutzungen auszudenken, um zu experimentieren». Oder kurz zusammengefasst «Der Hacker entreisst die Techniken dem technologischen System, um sie daraus zu befreien». Daraus mögen sich Fragen ergeben, welche Techniken man selber beherrschen sollte, etwa in der Saat- und Pflanzgutproduktion, in der Energieerzeugung oder bei der Kommunikation – und wie weit man Geräte einsetzen sollte, die man nicht selber kontrollieren und ggf. reparieren kann, und wie man es im jeweiligen Lebensbereich anstellen kann, die Techniken aus dem technologischen System zu befreien.
Anwachsende Stärke
Zur Frage der revolutionären Strategie wendet sich das Komitee im fünften Kapitel sowohl gegen den abstrakten Pazifismus als auch gegen den abstrakten Radikalismus: «Beide sehnen sich nach Reinheit: der eine durch gewalttätige Aktion, der andere, indem er sich diese versagt.“ Jenseits dieser Frage sei «das wahre Problem für Revolutionäre (…), zur Stärkung der lebendigen Kräfte beizutragen, an denen sie teilnehmen, das ‚Revolutionärwerden‘ zuzulassen, um schließlich die revolutionäre Situation herbeizuführen.» Die Gegenseite habe allerdings die Aufstands-bekämpfung «von einer militärischen Disziplin zu einem Regierungsprinzip» entwickelt. Schlussfolgerung: «Wir brauchen eine Strategie, die nicht auf den Gegner, sondern auf dessen Strategie zielt und sie gegen sich selbst kehrt, die also bewirkt, dass er umso mehr auf seine Niederlage zusteuert, je siegesgewisser er ist.»
Das Autor_innen-Kollektiv wendet sich gegen Versuche, ein revolutionäres Subjekt zu identifizieren oder zu bilden. «Es gibt niemanden, der organisiert werden müsste. Wir sind dieses Material, das von innen heraus wächst, sich organisiert und sich entwickelt. Darin liegt die wahre Machtasymmetrie und unsere wirkliche Machtposition». Aus einer Analyse des Nordirlandkonfliktes wird abgeleitet: «Die Taktik der Repression bestand offenbar darin, ein radikales revolutionäres Subjekt hervorzubringen und es von all dem zu trennen, was aus ihm eine lebendige Kraft (…) machte: die territoriale Verankerung, der Alltag, die Jugend.» Das Gegenmittel? «Die Logik anwachsender Stärke ist alles, was der Logik der Machtübernahme entgegengehalten werden kann. Voll zu leben ist alles, was dem Paradigma der Regierung entgegengehalten werden kann.» Bäuerliche Landwirtschaft hat natürlich eine territoriale Verankerung – aber hat sie auch einen erstrebenswerten Alltag? Wird im Leben auf dem Land und in der Landwirtschaft eher ein Mangel ausgehalten, oder ist es eine Lebensform mit Anziehungskraft auch auf kommende Generationen?
Eine andere Geographie
Im sechsten Abschnitt «Unsere einzige Heimat: die Kindheit» wird zurückgeblickt: «In den letzten dreissig Jahren hat die Umstrukturierung des Kapitals die Form einer neuen räumlichen Gliederung der Welt angenommen. Dabei geht es um die Bildung von Clustern.» Die neue Geografie wird beschrieben als Einteilung in «die grossen metropolitanen Regionen, die miteinander konkurrieren, um Kapital und smart people anzulocken; zweitrangige metropolitane Zentren, die sich durch Spezialisierung halten, arme ländliche Gebiete, die sich kümmerlich durchschlagen; (…) Landwirtschaftszonen, bevorzugt Bio, oder ‚Biodiversitätsreservate‘; und zuletzt die schlichtweg abstiegsbedrohten Zonen, die früher oder später von Checkpoints umzingelt und aus der Ferne (…) kontrolliert» werden. Ziel kann es nicht sein, «in ungefährlicher Marginalität (zu) vegetieren», sondern die Gegenstrategie bestehe darin, «ein Gebiet zu bewohnen, unsere situiert gestaltete Welt annehmen, für unsere Art, darin zu wohnen, für die Lebensweise und die Wahrheiten, die uns tragen, und von dort aus in Konflikt oder Komplizenschaft zu treten, (…) die Kreisläufe mit befreundeten Gegenden zu intensivieren, ohne uns um Grenzen zu kümmern, (…) mit der bestehenden Geografie selbst zu brechen. Es heißt, eine andere, diskontinuierliche, inselartige, intensive Geografie zu zeichnen – und somit die Begegnung mit Orten und Gebieten zu suchen, die uns nahestehen, selbst wenn man dafür 10.000 Kilometer zurücklegen muss.»
Erste Schritte zu diesem Bruch mit der bestehenden Geografie beschreibt das siebte Kapitel in einem Zugleich von Bindung und Ablösung: «Eine Kommune auszurufen, heisst einzuwilligen, sich zu binden. Nichts wird so sein wie vorher.» Und «die Notwendigkeit, sich von Infrastrukturen der Macht selbständig zu machen, (…) hängt damit zusammen, dass so politische Freiheit errungen wird.» Allerdings kann es nicht darum gehen, sich im Abseits einzurichten oder gar die eigene Marginalität zu glorifizieren: «Dass ein marginaler Wirtschaftssektor besteht, der auf das Soziale und Solidarische setzt, stellt die politische und damit die wirtschaftliche Macht überhaupt nicht in Frage.»
Drei Dimensionen
Das Schlusskapitel mahnt zum geduldigen Aufbau eigener Stärke in den drei Dimensionen von Kraft, Geist und Reichtum – und diese drei Dimensionen verbunden zu halten, um weder zu einer bewaffneten Avantgarde zu degenerieren, noch zu einer Sekte von Theoretiker_innen oder auch zu einem alternativen Unternehmen. Was mag Hoffnung geben? «Jede erklärte Kommune ruft um sich herum und manchmal sogar weit entfernt eine neue Geografie hervor.» Sie «schafft ein politisches Territorium, das sich ausweitet und sich mit zunehmender Grösse verzweigt.»
«An unsere Freunde» analysiert den aktuellen Zustand der Welt und die Probleme und Möglichkeiten der aktivistischen Praxis, warnt vor einer Vielzahl von Fallen in Theorie und Praxis und ist ein wichtiger Beitrag zur Organisierung einer anderen Welt, denn: «Sich zu organisieren bedeutet, auf welcher Stufe auch immer, nach einer gemeinsamen Wahrnehmung zu handeln.» Von daher kann nur empfohlen werden, das Buch zu lesen und selber zu prüfen, wie stichhaltig die Argumentationen und die aufgezeigten Handlungsperspektiven sind – und eigene Handlungsperspektiven zu entwickeln.

  1. Unsichtbares Komitee: An unsere Freunde, Hamburg 2015 (frz. Originalausgabe:
    A nos amis, La Fabrique éditions, Paris, 2014).