CHILE: Stimmen aus dem Aufstand (2)

von Marco Colio, 25 Jahre Stellungnahme eingeholt von Paloma Matus de la Parra, 13.04.2020, Veröffentlicht in Archipel 291

In unserer Serie über die sozialen Proteste in Chile kommt dieses Mal ein indigener Mapuche zu Wort, der in Santiago lebt. Zwei Wochen nach seiner Stellungnahme, Mitte März, hat das Militär alle Strassen von den Protestierenden leergefegt. Die Regierung nutzte das Corona-Virus als Legitimation, den Protest vorläufig gewaltsam zu beenden. In den Tagen nach dem 18. Oktober 2019 hatten wir sehr viele verschiedene Empfindungen. Sie schlichen sich, alle zusammen aber chaotisch, in jede unserer Handlungen, in jeden Gedanken ein. Die Augen sahen Bilder, die in den Tagen davor unmöglich gewesen wären. Die Realität hatte sich drastisch verändert und niemand im Land konnte demgegenüber gleichgültig sein. Das Feuer war in jeder Haupt-strasse präsent. Egal, wo man wohnte, die Flammen waren immer in der Nähe. Die aktivsten Städte waren – von Norden nach Süden – Antofagasta, Valparaíso, Santiago, Concepción und Temuco, aber auch in jeder kleineren Stadt gab es Märsche, Barrikaden und verschiedene Formen des Protests, wie die «cacerolazos» (Kochtopfkonzerte) und den sogenannten «el que baila pasa» Tanz. Viele Menschen, von denen ich nie gedacht hätte, dass ich sie auf den Strassen sehen würde, drückten euphorisch ihre Unzufriedenheit aus; eine Unzufriedenheit, die sich individuell und schweigend angesammelt hatte. Sie drückten sich energisch, gemeinsam und mit viel Lärm aus – mit dem Lärm, der uns, zusammen mit all unseren Rechten und Ressourcen der Erde, gestohlen wurde.

Militär in den Strassen

Als ich die Militärs auf der Strasse sah, war das für mich nicht so schockierend, so brutal, wie für meinen Vater und meine Mutter, auch für meine Grossmutter, die mich in den ersten Tagen nicht auf die Strasse liess, vor allem nicht während der Ausgangssperre. Es war eine Zeit, in der wir, sobald wir aus dem Fenster schauten, Soldaten auf der Strasse sehen konnten. Die Militärwagen nahmen die Strassen ein, zusätzlich vielleicht ein oder zwei geistesabwesende Menschen, die sich ausserhalb der erlaubten Zeit herumtrieben. Nachts war alles in völliger Stille. In meinem Blut brodelte eine Wut, eine Menge Wut, eine angestaute Wut wegen des sozialen Klimas, und ich musste drei Tage lang zu Hause bleiben, weil meine Mutter und mein Vater mich nicht gehen lassen wollten. Ehrlich gesagt, ich hätte rausgehen können, aber sie hatten Angst, sie hatten eine unheimliche Angst, und wenn ich rausgegangen wäre, hätten sie schlimme Stunden verbracht. Ich wollte nicht, dass sie das durchmachen müssten, also wartete ich, bis sich die Dinge etwas beruhigt hatten, und dann zog ich vor der Sperrstunde zu meiner Grossmutter. An jenem Tag ging ich um 6 Uhr zu einem Freund, an einen Ort wo einige Leute waren. Viele junge Frauen und Männer. Wir waren bereit, nach der Sperrstunde eine Barrikade zu errichten, und wir haben es geschafft. Wir waren bis nach Mitternacht dort, vor der Metrostation Gruta de Lourdes, etwa zwanzig Personen, plus Nachbarn, junge Leute aus dem Viertel. (...) Das Material der Barrikade verbrannte mit schwarzem Rauch, der ohne genaue Richtung ungestüm aufstieg, und wir mussten wiederholt um die Häuserblocks gehen, um mehr Brennstoff zu finden. Nach Mitternacht fuhr ein Militärlaster einen Häuserblock von der Barrikade entfernt vorbei. Zu diesem Zeitpunkt waren wir schon weniger und als wir das Fahrzeug sahen, wurde eine subtile Angst in der Atmosphäre spürbar, und trotzdem stieg die Wut in uns auf und drückte sich in einem «milico culiao» (in etwa: Scheiss-Militärwichser) aus. Wir blieben einige Sekunden lang in der gleichen Position, aber die Menschen auf den Balkonen der Wohnblocks, die uns auf ihre Art und Weise mit Rufen, Topf- und Pfannenkonzerten unterstützten, begannen zu schreien : «Vorsicht! Sie haben umgedreht! Sie wollen euch verhaften! Rennt!» Einige rannten in Panik nach Hause, andere blieben ruhiger und wir beschlossen, gemeinsam in die Wohnungen zu gehen. Wir rannten und gerade als ich mit einer Gruppe von etwa zehn Leuten ankam, sahen wir, wie der Lastwagen in die Strasse einfuhr, wo wir waren. Zum Glück waren wir alle schon in Sicherheit und ich konnte vom Fenster aus verfolgen, was geschah. Mein Herz überschlug sich fast. Die Militärs hatten Kriegswaffen; das sahen wir auch in den Videos, die danach im Internet kursierten. Aus Angst und weil wir kein Material mehr hatten, beschlossen wir, uns in der Strasse von Villa Sana zu versammeln, wo ein grosser Teil der Gruppe lebte. Wir hatten drei Häuser als Rückzugsorte. (…)

Gespräche wie nie zuvor

Gemeinsam gingen wir in eines der Häuser, um miteinander reden zu können, über Politik und verschiedene Themen. Ein Raum und ein Gespräch, das vor einigen Wochen noch unvorstellbar gewesen wäre, wie viele Dinge, die jetzt in diesem Land geschehen sind. Zu dieser Zeit war vieles ungewiss – ausser der Todesgefahr für die Protestierenden und die tauben Ohren der Parteien, sowohl der Opposition als auch der Regierenden. Diese deprimierende und mörderische Realität hatten alle Parteien kautioniert, jene Realität, in der nur der Profit zählt, diese Realität, in der nur die Reichen vertreten sind, weil für den Kumpel, der arm ist, für ihn gibt es nur Brot und Spiele, nichts als Brot und Spiele. Seit langem hat der Arme hier und in einem grossen Teil der Welt nur Wert, solange er wählen geht, und dann interessiert er niemanden mehr. Oder nicht? Der umfangreichste Konflikt, der in der Geschichte die meisten Opfer der von Staats-Agenten ausgeübten Gewalt gefordert hat, ist zweifellos der Kampf des Mapuche-Volkes, zu dem ich gehöre – der Kampf für die Rückforderung des Walmapu (Territorium der Mapuche, Anm. d. Red.), mit der Absicht, es den mörderischen und missbräuchlichen Klauen der Bourgeoisie zu entreissen. Aber wir können auch die zyklischen Kämpfe der Student·inn·en und Arbeiter·innen hervorheben. Den Mapuche drohte – in einer gewaltsamen Aktion, die der chilenische Staat «Befriedung Araukaniens» nannte (1881-1883) – in ihrer Gesamtheit ausgerottet zu werden, und bis heute fallen weiterhin Menschen von uns, die für die Rückgewinnung ihres Landes, den Schutz der Natur und die Verteidigung einer hauptsächlich gemeinschaftlichen Lebensweise kämpfen, die mit den neoliberalen Ethik- und Wertprinzipien bricht.

Geübt in Repression

Heute ist die Art und Weise, wie der Winka-Staat (Bezeichnung der Mapuche für Chile, Anm. d. Red.) handelt, international bestens bekannt. Die Form, mit der der Staat auf die soziale Bewegung reagiert, die sich in einem grossen Teil Chiles entwickelt hat und die man als soziale Explosion bezeichnen kann, ist nach wie vor die gleiche, mit der er die berechtigten Ansprüche der Mapuche zurückgeschlagen und andere Konflikte in der nationalen Geschichte «gelöst» hat. Die Ermordung derjenigen, die kämpfen, die exzessive Gewalt gegen jene, die gegen die nationale Realität demonstrieren, ist nichts Aussergewöhnliches. Sie ist für uns Mapuche Teil unserer Geschichte, egal ob es sich um Jungen oder Mädchen, Erwachsene oder wen auch immer handelt. All jene, die sich gegen das von der Nation aufgezwungene Leben äussern, gelten als Feinde, und dies seit der Gründung des Staates. Man kann sagen, dass ein Grossteil der politischen Strukturen und der dominanten Kultur mit Blut aufgezwungen wurde, wie es in der nationalen Parole «mit Vernunft oder Gewalt» zum Ausdruck kommt. Unter den Umständen, in denen wir leben, kann die Situation nicht anders sein: Die Proteste, welche die allgemeine Unzufriedenheit ausdrücken, werden in Blut erstickt, in unschuldigem Blut, das weiterhin auf den Strassen fliessen wird. Wenn die Winkas (Chilen·inn·en, die nicht Mapuche sind, Anm. d. Red.) derzeit selbst als Staatsfeinde betrachtet werden, verbindet sie mehr mit dem Volk der Mapuche als mit den Politikern und der herrschenden Klasse. Und das drückt sich auf den Strassen aus, wo die Fahnen unseres Volkes in den Händen von Nicht-Mapuche im Wind wehen, Menschen die ebenfalls soziale, kulturelle und wirtschaftliche Marginalisierung erleben, so wie wir als Volk seit langem. Viele Menschen sind mit ihren Träumen von einer besseren Zukunft gestorben oder ihre Herzen sind verdorrt, doch jetzt giessen wir den Garten der Träume, damit die Blumen nicht wieder verwelken. Die Zukunft ist derzeit sehr ungewiss, denn wenn es etwas gibt, was das chilenische Volk nicht kennt, dann ist es Ausdauer für einen permanenten Kampf; es kann leicht zu Ermüdung kommen, die – wie ich hoffe – nicht eintreten wird. Andererseits weiss ich, dass auch in Zukunft das Blut der Menschen durch die Strassen fliessen wird, wo immer die soziale Revolte gegenüber der Macht ihre Rechte einfordert. Ñukemapu, Mutter Erde mit ihren Quellen des heiligen Lebens, welche die Winkas nur als «natürliche Ressource» bezeichnen, wird zerstört, die Natur stirbt, und unsere Gemeinschaft zieht es vor, mit ihr zu verschwinden, denn sie ist unsere Mutter, unsere Heimat. Bei dem jetzigen Erwachen ist es am Schönsten zu sehen, wie der Schmerz uns alle vereint, und zu spüren, dass die Angst nicht so gross ist, wenn sie auf jede und jeden von uns zersplittert wird, denn wie man hierzulande sagt: «Sie haben uns so viel gestohlen, sogar die Angst haben sie uns genommen.» Oder: «Maritschiweu!»: «Zehn-, ja tausendmal werden wir siegen!» – ein Mapuche-Kampfruf.