CHINA: Das ländliche China retten

von Erik de Haese, EBF Frankreich, 20.10.2017, Veröffentlicht in Archipel 263

Das ist der Bericht über eine dreimonatige Reise durch China, über Begegnungen mit Bauern und Besuche bei Kooperativen und anderen Gemeinschaften. Meist waren wir mit dem Zug unterwegs, was uns ermöglichte, ganz verschiedene Dimensionen dieses unglaublich facettenreichen Landes zu erfahren, das so gross ist wie ein Kontinent.Auf der Reise lernten wir ländliche Netzwerke kennen und trafen mit Stadtflüchtlingen sowie Pionierinnen und Pionieren zusammen, die den Ursachen und unbarmherzigen Folgen der Landflucht eine Alternative entgegensetzen wollen, einer Landflucht, die als grösste Völkerwanderung der Menschheitsgeschichte angesehen wird.

«Manchmal kommen die Eltern von weit her, um ihre Kinder von hier wegzuholen. Sie wollen auf keinen Fall, dass ihr Kind Bauer wird. Früher war es noch schlimmer, denn da waren wir noch eine Art Lebensgemeinschaft.» Shi Yan ist um die dreissig, immer ruhig und überlegt und lächelt zuweilen zurückhaltend. Sie ist schnell zu einer der Ikonen des Umweltbewusstseins in China geworden. Während eines Praktikums in einer amerikanischen Landwirtschaftsgemeinschaft 1 vor acht Jahren wurde ihr bewusst, dass Ernährungssicherheit nur über die Aufwertung des bäuerlichen Lebensstils zu erreichen ist. Heute bewirtschaftet sie ihren Hof «Shared Harvest» am Stadtrand von Peking und ist zudem Präsidentin des nationalen Netzwerks mit mehr als fünfhundert Gemeinschaftshöfen, die über eine halbe Million Chinesinnen und Chinesen mit Nahrungsmitteln versorgen. Shi Yan schätzt, dass vierzig Prozent der Pekinger·innen sich Produkte aus solidarischer Landwirtschaft leisten könnten, obschon sie zwei- bis dreimal teurer als die üblichen Landwirtschaftsprodukte sind.
Auf dem Bauernhof steht die Arbeit im Mittelpunkt. Man steht früh auf und geht früh ins Bett. Das Menu besteht aus hauseigenen Produkten, ist zwar nicht sehr abwechslungsreich, aber gesund, lecker und saisonal. Die Essschalen werden mit Weizenkleie abgewaschen, die anschliessend den Schweinen verfüttert wird. Was für ein Gegensatz zum verschwenderischen Umgang mit Nahrungsmitteln, die für immer mehr Stadt-bewohner·innen im Überfluss vorhanden sind! Hier auf dem Hof weist der anhaltende Zustrom von jungen Praktikantinnen und Praktikanten auf das grosse Bedürfnis hin, aktiv an einem Wandel mitzuwirken. Obschon die Mithilfe auf Freiwilligkeit beruht, trägt ein bescheidenes, aber faires Entgelt dazu bei, dass eine respektvolle Landwirtschaft nicht als gleichbedeutend mit Sklaventum oder Elend angesehen wird. Zudem hilft es den Eltern, den Schritt ihrer Kinder zu akzeptieren.
In Kunming, der «Stadt des Frühlings», 2'000 Kilometer weiter südlich, treffen wir Zhongren. Während der Dürre im Jahr 2010 tat er sich mit Freunden zusammen und belieferte die bedrängten Bauern mit Wasser. Nachdem der Regen wiederkam, begründeten sie die erste Landwirtschaftsgemeinschaft der Stadt. Die Gruppe führt ausserhalb der Stadt zwar ihren eigenen Hof, aber einen grossen Teil der Produkte liefern die Bäuerinnen und Bauern der Umgebung, und zwar in etwa nach dem Modell des fairen Handels. Anstatt anderswo einträglichere Arbeit suchen zu müssen, können so die Bäuerinnen und Bauern auf dem Land bleiben. Gleichzeitig fördert die Landwirtschaftsgemeinschaft den biologischen Anbau. Heute wird der Kundenkreis mit zwei Läden und einem Verkaufssystem über Smartphone immer grösser.
Tingtings Traum
Unweit der Stadt folgen wir Tingting, einer jungen Akademikerin mit einem schüchternen, aber warmherzigen Lächeln, durch die teils gepflasterten, teils ungepflasterten Gässchen von Damoyu, einem kleinen Dorf, das von der ethnischen Minderheit der Yi bewohnt wird. Die vielen Staustunden im Bus zwischen ihrer Wohnung und der Universität haben sie dazu gebracht, auf das gesicherte Einkommen als Forscherin an der Universität zu verzichten und zusammen mit ihrem Mann ihre Ideen rund um soziales Unternehmertum und Ökologie in die Tat umzusetzen.
Wie sehr viele Dörfer in ganz China ist Damoyu halb verlassen und amZerfallen. Man begegnet dort hauptsächlich älteren Menschen und ihren Enkelkindern. Obwohl sie die Arbeitskräfte des chinesischen Wirtschaftswunders verkörpern, wird den Eltern in den Städten, wo sie arbeiten, der Zugang zu den sozialen Rechten, wie etwa der Einschulung ihrer Kinder, verweigert. Deshalb verwundert es kaum, wie warmherzig die Dorfbewohner·innen gegenüber den Visionen und der Energie des jungen Paares sind, das dem Sozialen neues Leben einhaucht, Häuser wiederaufbaut sowie Tourist·innen und Freiwillige anzieht.
Während unseres Aufenthalts von einer Woche erkundigten sich mehrere junge Paare über die Grundstückspreise. Doch Tingting bleibt kritisch. Schnell spürt sie, ob sich ein Paar wirklich für die gemeinsame Wiederbelebung des bäuerlichen Lebens interessiert. Sie will um keinen Preis, dass Damoyu zu einem bürgerlichen Vorort wird.
Schmackhaftes der Dong
Das Dorf, in dem die ethnische Minderheit der Dong lebt und Youniuge geboren ist, liegt verloren in den Bergen von Guizhou, inmitten einer wunderschönen Landschaft, wo an den Bergflanken sattgrüne Terrassen angelegt sind, jede einzelne bewohnt von einem Ochsen. Vor einigen Jahren wurde Youniuge klar, dass der moderne Reis, den er ass, nicht mehr so gut schmeckte wie jener seiner Kindheit. So begann er mit Hilfe seiner Gemeinde alte Reissorten zu pflegen und zu erhalten.
Heute wird ein grosser Teil der mehrere Dutzend Tonnen umfassenden Jahresernte für einen guten Preis an die Bio- und Feinschmeckerszene in Schanghai verkauft. Für das Dorf ist das eine bedeutende Einnahmequelle, was zur Folge hat, dass die lokale Kultur erhalten bleibt. Zur gleichen Zeit hat sich Youniuges bester Freund ins Studium der traditionellen Medizin gestürzt. Regelmässige Besuche bei Heilerinnen und lokalen Ärzten eröffnen ihm den Zugang zu einem wertvollen Schatz an Heilwissen, das seit der Öffnung Chinas gegenüber dem globalen Markt für medizinische Dienstleistungen und Heilmittel verloren zu gehen droht.
«Leben im Süden»
Als sich Tang Guanhua und seine Freund·innen im Jahr 2009 dazu entscheiden, ein verlassenes Gebäude zu besetzen, um der Armut als Künstler·innen und einem vorprogrammierten Leben zu entfliehen, scheint die Zukunft wieder offen. Doch zwei Wochen später wird die Gruppe vertrieben und löst sich auf. Er und seine Frau Zhen-zhen, ebenfalls ein kritischer Geist, vielseitig kreativ und leidenschaftliche Textilkunsthandwerkerin, beschliessen, etwas ganz anderes zu tun. Sie lassen sich für fünf Jahre auf einem Berg nieder und sammeln Erfahrungen in Selbstversorgung. Die Initiative findet ihren Weg in die Medien und nimmt eine unerwartete Wendung: Bald entstehen neue Beziehungen. Und im Jahr 2015 lassen das Paar und sechs andere Menschen das kollektive Experiment wiederaufleben. Nanbu Shenghuo, «Leben im Süden», ist geboren.
Die Gruppe lässt sich eine Stunde von Fuzhou, der Haupstadt der Provinz Fujian entfernt nieder, im milden Klima eines Dorfes von Gemüsebauern und Nudelmacher·in-nen, welche die Nudeln vor ihren Häusern in der Sonne trocknen lassen. In China bleibt der Boden in Staatsbesitz. Doch die Gruppe erwirbt das Nutzungsrecht eines grossen unbebauten Geländes am Rande des Dorfes und einer Trinkwasserzone, wo die Büffel grasen. Bald verpachten ihnen die begeisterten Dorfbewohner·innen weitere Grundstücke. Dawang, der aus dem Norden stammt, leitet einen Gemeinschaftsgarten und eine kleine Umweltschule für die Kinder des Dorfes. Xiaofan ist Kommunikationsverantwortlicher für das kleine dreitägige Festival rund um die Themen autonomes Leben, Kunsthandwerk, Spiele und Musik, das von der Gruppe organisiert wird. Meister Yu, in seinem früheren Leben bildender Künstler in Peking, werkelt an der Infrastruktur und versteckt hinter seinem stummen, aber schelmischen Blick lauter kreative Ideen.
Eine der grössten Herausforderungen ist es, gemeinsam die Grundlagen und Gepflogenheiten eines neuen gemeinschaftlichen Lebens zu erarbeiten. Das soziale Gewurstel und die Oberflächlichkeit der Beziehungen des städtischen Lebens führen bei den jungen Leuten zu einer Sehnsucht nach einem Leben auf der Grundlage von Freundschaft, befreit vom Gewicht sozialer und familiärer Gebräuche und Erwartungen, ebenso wie von den Konditionierungen des allgegenwärtigen Marktes, der die sozialen Beziehungen in China ebenso wie andernorts prägt. Man muss lernen, gemeinsam zu leben und sich selber zu sein. Eine grosse Herausforderung, denn die Vergangenheit kommt täglich in tausenden kleiner Gewohnheiten zum Vorschein. Es sind Hindernisse, die wegen der Begeisterung auf dem Weg in ein anderes Leben gerne übersehen werden.
PuHan
Das Geburtsdorf von Tianyan liegt auf einem riesigen Granitblock. In den letzten Jahren sind hier Dutzende Steinbrüche entstanden, in welchen der Granit ohne die nötigen Bewilligungen abgebaut wird. Die Steinbrüche bedrohen die Dörfer der Region und die Umwelt. Exportiert wird hingegen in die ganze Welt hinaus. Tianyan hat sich einem juristischen Kampf grösseren Ausmasses angeschlossen, sucht aber gleichzeitig andere Wege, um gemeinsam mit anderen, angesichts des kapitalistischen Tsunamis, die verletzliche Landschaft zu schützen.
Man trifft sich nahe der Stadt Xi’an im Südosten der Provinz Shan’Xi, der Wiege der chinesischen Kultur am Ufer des Gelben Flusses. Dort liegen die zwei kleinen Provinzstädte Puzhou und Hanyang, umgeben von 43 Dörfern, wo sich die Mehrzahl der Bäuerinnen und Bauern in einer grossen Kooperative organisiert: PuHan. PuHan wird wohl als das weitest gediehene Experiment einer neuen sozialen Organisationsform im heutigen China betrachtet und weckt viel Neugier, sowohl in der bäuerlichen wie in der akademischen Welt und auch bei jenen, die es wieder aufs Land zieht.
Im Jahr 1998 beginnt Zhenbing damit, den Bewohnerinnen und Bewohnern seines Dorfes Kurse in biologischem Landbau zu geben – und in chinesischem Line Dance. Bald kommt Schwung in die Sache, so dass das Angebot ausgebaut werden kann und sich schnell verbreitet. Heute sorgen um die viertausend Familien in den Dörfern und noch viel mehr Menschen in den umliegenden Städten gemeinsam dafür, dass ein würdiges Leben auf dem Land möglich bleibt. Jedes Dorf hat ein Haus, wo sich die Alten treffen, und ein anderes, wo gemeinsam die Kinder gehütet werden. Kollektive Einkäufe senken die Kosten für Landwirtschafts- und Haushaltsprodukte. Eine Kreditgenossenschaft hilft den Landwirten, auch in schlechten Jahren über die Runden zu kommen.
Durch den Direktverkauf von Landwirtschaftsprodukten und durch Dienstleistungen der Dorfbewohnerinnen und -bewohner zum Gelderwerb werden Bande zwischen den Bauern und den Städtern geknüpft. Verbindungen zwischen Stadt- und Landbe-wohner·innen gibt es überall im heutigen China. Aber hier werden sie freundschaftlich gelebt. Die Stadtbewohner·innen kommen mit ihren Kindern aufs Land, um die Bäuerinnen und Bauern zu unterstützen und mit der Erde, die sie ernährt, in Verbindung zu sein.
Das Zentrum Liang Shuming
In einem der Dörfer von PuHan gibt es eine kleine Schule, wo biologischer Landbau gelehrt wird, und ein Haus des Zentrums Liang Shuming für den ländlichen Wiederaufbau (CLRR). Etwa zehn Studentinnen und Studenten aus ganz China sind dort für mindestens sechs Monate untergebracht, damit sie mitarbeiten und die Organisation der Kooperative kennenlernen können.
Das CLRR ist eine chinesische Nichtregierungsorganisation, die sich seit 2004 für die Lebensqualität der Bäuerinnen und Bauern, für eine gesunde und nachhaltige Landwirtschaft sowie für die Aufwertung der Dörfer und der ländlichen Kultur einsetzt. Sie hat einen universitären Hintergrund und ist in ganz unterschiedlichen Bereichen aktiv: Als Partnerin von mehr als zweihundert Student·innen-vereinigungen ermöglicht sie über hunderttausend Studierenden die Teilnahme an Praktika und Freiwilligeneinsätzen in 27 chinesischen Provinzen. Sie fördert die Gründung von bäuerlichen Genossenschaften und hat Dutzende von experimentellen Produktionsstätten aufgebaut.
Vor vier Jahren gründete sie ein landesweites Netzwerk zum Schutz des bäuerlichen Saatguts vor der Übermacht des industriellen Saatguts. Neben einer Vielzahl von Aktivitäten zusammen mit Bäuerinnen und Bauern, Minderheiten und Student·innen vor Ort ist das CLRR über die Landesgrenze hinaus vernetzt und nimmt an internationalen Treffen teil. Ebenso beteiligt es sich am chinesischen Gesetzgebungsprozess, indem es sich zum Beispiel 1991 gegen den Beitritt Chinas zum UPOV2 einsetzte.
Eaton College
Asha ist etwas über zwanzig, trägt stets ein Lächeln im Gesicht und ist begeisterungsfähig und neugierig. Nachdem er im kommerziellen Orchideenanbau tätig war, ging er auf die Suche nach alternativen Lebensformen. Nach einem kurzen Aufenthalt in Nanbu Shenghuo, wo wir uns begegnet sind, lädt er uns ins Eaton College ein, eine kleine Schule, etwa eine Autostunde von Nanjing entfernt, wo er für ein Jahr lebt und studiert.
Die Schule wurde vom Generaldirektor eines Unternehmens gegründet, das Schuluniformen herstellt, und bietet jährlich etwa zehn jungen Menschen die Möglichkeit, Fächer nach freier Wahl zu studieren. Unterkünfte, eine kleine Küche und eine Bibliothek stehen zur Verfügung. All dies auf einem kleinen, für das Experiment geeigneten Gelände, gleich neben einem Biobauernhof, wo die Studierenden täglich zwei Stunden arbeiten, damit sie gemeinsam die nötigen Nahrungsmittel kaufen können. Alle anderen Kosten sind gedeckt. Sie leben also wie in einem kleinen, selbstverwalteten Kollektiv: Alle Entscheidungen des täglichen Lebens werden gemeinsam, solidarisch und in freundschaftlichem Geist gefällt. Die Lehrpersonen vom Bauernhof – oder manchmal auch welche von weit her – besuchen sie mehrmals pro Woche und unterrichten die unterschiedlichsten Fächer.
Die fünf kritischen jungen Menschen, denen wir dort begegnet sind, haben einen weltoffenen Blick und sind einem Wandel gegenüber aufgeschlossen. Diese Qualitäten haben wir überall auf unserem Weg angetroffen. Und wie all die anderen laden wir auch sie ein, unsere europäische Lebenswirklichkeit zu entdecken, um sich für eine gemeinsame Zukunft inspirieren zu lassen.

  1. Gemeint ist ein Hof, auf dem regionale Vertragslandwirtschaft betrieben wird, also für eine Gruppe regionaler Verbraucher·innen auf Vertragsbasis produziert wird. (Anm. d. Ü.)
  2. UPOV: Internationaler Verband zum Schutz von (gentechnisch veränderten) Pflanzenzüchtungen mit Sitz in Genf