DEUTSCHLAND – GRIECHENLAND: Von Bischofferode nach Athen

von Herma Ebinger, EBF Deutschland, 31.12.2016, Veröffentlicht in Archipel 254

In Berlin fand im Oktober 2016 ein Seminar über Verschuldungspolitik, Treuhandwirtschaft, Privatisierung und Ausverkauf des Staatsvermögens der DDR und Griechenlands statt.

«Bischofferode ist überall» war die Parole der Kalikumpel in Thüringen Anfang der 1990er- Jahre bei ihrem Kampf um den Erhalt der Mine. Laut Treuhandanstalt1 sollte das Kaliwerk, trotz seines hochwertigen Salzes, geschlossen werden. Die Aktionen der Minenarbeiter, unter anderem Hungerstreiks und ein Marsch nach Berlin, sorgten damals bundesweit für Aufsehen. Am 7. April 1993 besetzten 500 Bergleute das Werk Bischofferode bei laufender Produktion, am 31. Dezember 1993 wurde das Kaliwerk «Thomas Müntzer» endgültig geschlossen. Doch der Krimi geht weiter…
Um von Bischofferode nach Athen zu gelangen, sollte man den Umweg über London nehmen. Dort fand 1953 eine grosse Schuldnerkonferenz statt: Verhandelt wurden Auslandsschulden der Bundesrepublik Deutschland, der erklärten Nachfolgerin des Deutschen Reichs, in Milliardenhöhe. Entstanden sind sie nach dem 1. und 2. Weltkrieg. Sie wurden halbiert. Verhandlungsteilnehmer und Vertragsunterzeichner waren die USA, Grossbritannien, Frankreich und weitere 18 Länder, darunter auch Griechenland. Reparationen für den zerstörerischen Krieg und Völkermord standen und stehen auf einem anderen Blatt.
Ein schillernder Bankier
Verhandlungsführer der deutschen Seite in London war Hermann Josef Abs, von 1937 bis 1945 in der Deutschen Bank, ab 1938 im Vorstand, dort zuständig für das Auslandsgeschäft, die Industriefinanzierung, das Einholen von Kriegskrediten und die «Arisierung» (den Zwangsverkauf) von jüdischen Unternehmen und Banken. Seit 1937 neben verschiedenen anderen Funktionen war er Mitglied des Aufsichtsrates der IG Farben. 1945 kam er für drei Monate in Haft, wurde «entnazifiziert» und Finanzberater in der britischen Besatzungszone. Von 1948 bis 1952 war er Vorstandsvorsitzender der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW), der Verwalterin der Gelder des Mar-shall-Plans. Ab 1952 war er wiederum im Vorstand der Deutschen Bank und in rund 30 Aufsichtsräten, bis er sich zurückzog und 1994, reich dekoriert mit Orden und Ehrenzeichen, verstarb.
Die Troika (EU-Kommission, IWF, Europäische Zentralbank) hätte vor den Verhandlungen mit den Griechen die zusammenfassende Darstellung von Vorträgen dieses imposanten Bankiers, gehalten in der Zeit vom 11. September bis zum 26. November 1952, studieren sollen.2 Denn die Geschichte des Londoner Schuldenabkommens lehrt, dass Auslandsverschuldung nur bei Leistungsbilanzüberschüssen tragfähig reduziert werden kann. Und natürlich braucht es dazu auch Zeit für die Entwicklung der Wirtschaftskraft. Die wird Griechenland nicht gegeben, zu viele gieren nach den Filetstücken des Landes.
Ausverkauf der Staatsvermögen
Griechenland im 21. Jahrhundert ist nicht Deutschland nach dem 2. Weltkrieg. Der Beginn des Kalten Krieges brauchte ein starkes, prosperierendes, antikommunistisches Bollwerk. Soweit zurück in die Vergangenheit wollten die Organisator_innen der Veranstaltung «Von Bischofferode nach Athen» an einem Oktober-Wochenende in Berlin nicht gehen. Das Seminar der Bundeskoordination Internationalismus (BUKO) und der gewerkschaftlich organisierten Griechenland-Solidaritätsreisegruppe beleuchtete den Ausverkauf des Staatsvermögens der DDR durch die Treuhandanstalt und den Ausverkauf des Staatsvermögens von Griechenland durch die griechische Privatisierungsagentur «Hellenic Republic Asset Development Fund» (HRADF). Auch wenn die gegenseitige Information den Hauptteil des Seminars ausmachte, wurden auch Möglichkeiten transnationaler Solidarität diskutiert.
Gekommen waren Aktivist_in-nen der Kämpfe gegen die Treuhandpolitik zu Beginn der 1990er Jahre, der italienische Autor Dr. Vladimiro Giacché, Aktivist_in-nen aus Griechenland und der BRD, die heute gegen die Privatisierungspolitik der Troika kämpfen.
Am Freitagabend wurde auf die vergessenen Kämpfe in der «Noch-DDR» verwiesen. Der Historiker Bernd Gehrke3, damals «Vereinigte Linke», sprach über die umfangreichen Widerstandskämpfe von Betriebsbelegschaften zwischen 1990 bis 1995, die kaum bekannt sind, auch nicht unter Linken, und heute öffentlich nirgendwo thematisiert werden. Gerhard Horn, ehemals Stahlwerker und Betriebsratsvorsitzender in Henningsdorf, war sichtlich bewegt, als er über den Kampf und den Verrat der Gewerkschaften damals erzählte.
Ich selbst berichtete über die Vernichtung von Frauenarbeitsplätzen in der Industrie und den Versuch einer Gemeinde, das Land eines Volksgutes (staatliches Eigentum) in Gemeindeeigentum zu übernehmen.
Wenn heute AfD (Alternative für Deutschland) und Pegida grossen Zulauf haben, so ist das, wie Bernd Gehrke ausführte, das Resultat zweier Niederlagen aller emanzipatorischen Linken: der Niederlage des radikaldemokratischen Aufbruchs der Bürgerbewegungen vom Herbst 1989 und der Niederlage des sozialen Widerstands der Betriebsbelegschaften des Ostens in der ersten Hälfte der 1990er Jahre.
Die grösste Holding der Welt
Am nächsten Tag stellte Vladimiro Giacché seine Erkenntnisse dar, die er bei der Erarbeitung seines Buches «Anschluss. Die deutsche Vereinigung und die Zukunft Europas»4 gewonnen hatte. Er beschreibt darin den neoliberalen Gesellschaftsumbau (Privatisierung und Deregulierung) sowie die Auswirkungen einer Währungsunion zwischen ungleichen Partnern (Deindustrialisierung, Abwanderung, Abhängigkeit von Transferleistungen). Auch die Entwicklungen in Frankreich und Italien seit der Euro-Einführung bezieht er mit ein.
Auf Beschluss der Volkskammer der DDR wurde am 1. März 1990, noch mit der Modrow-Regierung, die «Gründung der Anstalt zur treuhänderischen Verwaltung des Volksvermögens» beschlossen. Am 17. Juni 1990 ging die Regierung der «Allianz für Deutschland» über zu einem «Gesetz zur Privatisierung und Reorganisation des Volksvermögens», nach dem die Treuhandanstalt, die grösste Holding der Welt, dann agierte. Mit fragwürdigen Kriterien wurde privatisiert: Es gab keine öffentliche Versteigerung, sondern geheime Verhandlungen der Treuhand mit interessierten Investoren; den Investoren wurden kaum Verpflichtungen auferlegt; Hasardeure wurden nicht überprüft. Am 26. Oktober 1990 befreite der damalige Finanzminister Theo Waigel alle Mitarbeiter_innen der Treuhand von Haftung. Es kamen 87 Prozent der privatisierten Betriebe in die Hand westdeutscher Unter-nehmer_innen. Viele der Betriebe wurden geschlossen und die Grundstücke anderweitig genutzt. Sieben Prozent der privatisierten Betriebe gingen an ausländische Unternehmen und sechs Prozent an ostdeutsche Bürger_innen.
Eine EU-Treuhand?
Giacché entkräftete die Mär von der überschuldeten DDR, charakterisierte die Währungsunion als «point of no return» und ging dann darauf ein, wie das «erfolgreiche Agieren der Treuhandanstalt» zu einem Modell für Krisenländer, allen voran Griechenland, wurde. Im Jahr 2011 sagte der damalige Eurogruppenchef Jean-Claude Juncker: «Ich würde es zum Beispiel begrüssen, wenn unsere griechischen Freunde nach dem Vorbild der deutschen Treuhandanstalt eine regierungsunabhängige Privatisierungsagentur gründeten, die auch mit ausländischen Experten besetzt ist.». Ebenfalls 2011 wurde der damalige Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion und heutige Aussenminister Frank-Walter Steinmeier in einem Interview mit der «Rheinischen Post» noch deutlicher: «Ich halte (...) den Vorschlag für ein europäisches Treuhandmodell für durchaus nachdenkenswert, an welches griechisches Staatsvermögen übertragen wird. Diese EU-Treuhand privatisiert dann innerhalb von 10 bis 15 Jahren».
Vortrag und Buch sind spannend wie ein Kriminalroman. Vladimiro Giacché, befragt nach einem Ausweg aus der derzeitigen Situation, sagte: «Entweder eine schnelle und radikale Änderung der EU-Verträge oder die Auflösung der Währungsunion. Der Euro ist weder Religion noch Schicksal, der nichts Irreversibles an sich hat.»
Privatisierungen in
Griechenland
Am Samstagabend wurde das Seminar für weitere Interessierte geöffnet. Der Saal war zum Bersten gefüllt, als die griechischen Gäste die Situation im Lande schilderten. Eine temperamentvolle, ältere Frau machte gleich zu Anfang ihre Haltung klar: Diese Schulden sind keine öffentlichen Schulden, es sind Schulden der weltweiten Banken. Eleni Potaliou, Architekturprofessorin der TU Athen, ist Mitglied der Basisinitiative «Kampfkomitee für den Grossstadtpark von Ellenikon». Flughafen und Strand sollen privatisiert werden, und eine Privatstadt mit teuren Wohnungen, Büros, Hotels, Casinos, Einkaufszentren, Schulen und Universität soll dort entstehen. Die Basisinitiative will einen Platz für Kultur und Sport für alle. Der Preis, der von den Investor_innen verlangt wird, ist viermal niedriger als der eigentliche Wert. In den verschiedenen Privatisierungsfonds sind unter anderem enthalten: 35 Häfen, 3‘000 öffentliche Immobilien; Gebäude, die unter Denkmalschutz stehen; Post, Bahn, Militärindustrie, 37 Flughäfen (von denen 14 an Fraport, Frankfurt/Main, gegangen sind), Wasser- und Gaswerke. Die Fonds verwaltet ein fünfköpfiger Rat: zwei Funktionäre der EU und drei Griechen ohne Einspruchsrecht. Eleni: «Die begrenzte Demokratie der letzten Jahre wurde nun ganz abgeschafft.»
Inzwischen leben 33 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze, die Selbstmordrate steigt an, viele verlassen das Land. Viele Aktivist_innen sind nach den Niederlagen krank geworden, viele haben resigniert. Und doch bleiben viele weiterhin aktiv in Initiativen gegen die Privatisierungen, welche über ein Komitee miteinander in Kontakt stehen. «Wir müssen die Linke neu erfinden», sagte Eleni, «und die sozialen Bewegungen stärken. Auch die Probleme zwischen Internationalismus und Nationalismus müssen neu formuliert werden.»
Wasser ist Gemeingut!
Marianna Grigoraskou ist in der Initiative gegen die Privatisierung der kommunalen Wasserwerke Eyath von Thessaloniki. Es ist auch ihre Arbeitsstelle, in der sie die Leiterin für Öffentlichkeitsarbeit der Betriebsgewerkschaft ist. Den Kampf um die Wasserwerke gab es schon unter Papandreou, der vor der Wahl versprach, sie nicht zu verkaufen und nach der Wahl dieses Versprechen vergass. Im Jahr 2009 besetzte die Gewerkschaft die Büros der Wasserwerke und unterbrach die Vorstandssitzung.
Danach gab es 180 Verfahren gegen die Beset-zer_innen. Dennoch hat die Betriebsgewerkschaft unterschiedliche Preise für Zahlungskräftige und Arme erkämpft, die mit der Privatisierung aufgehoben werden. Es gibt mehrere interessierte Unternehmen an den Wasserwerken, das Aussichtsreichste ist der französische Konzern SUEZ. Mit vielen Aktionen waren die Initiative und auch viele Einwohner_innen der Stadt unterwegs, haben die stellvertretende Bürgermeisterin von Paris eingeladen, wo die Wasserwerke rekommunalisiert wurden. Ebenso waren Aktivist_in-nen des Berliner «Wassertischs» eingeladen die ein Referendum durchgesetzt haben, bei dem 98 Prozent der Bevölkerung gegen die Privatisierung des Wassers waren. Als Syriza im Juli 2015 auch das Wasser dem Privatisierungsfonds übertragen wollte, stellten die Wasserwerker den Parteibüros für einen Tag das Wasser ab. Aber viele Mitkämpfer_innen, meint Marianna, sind resigniert.
Das Seminar fand im ehemaligen Aquarium Meyer statt, einer riesigen Ladenfläche am Kotti (Kottbusser Tor in Berlin), die gerade zu einem neuen Veranstaltungsort umgenutzt wird, gleich hinter dem Gemeinschaftshaus von «Kotti & Co», einer seit 2011 bestehenden selbstorganisierten Mieter_inneninitiative. Einige kampferprobte Bewohner_innen der umliegenden Sozialwohnungen kamen ebenfalls vorbei und informierten über eine Ausstellung über die Kämpfe gegen Zwangsräumungen in Berlin seit 1872.

  1. Die Treuhandanstalt war eine in der Spätphase der DDR gegründete Anstalt des öffentlichen Rechts in Deutschland, deren Aufgabe es war, die Volkseigenen Betriebe der DDR zu privatisieren und/oder stillzulegen. Im Umfeld der Privatisierungen kam es zu Fördermittelmissbrauch und Wirtschaftskriminalität.
  2. Hermann Josef Abs, in: Zeitfragen der Geld- und Wirtschaftspolitik, Frankfurt 1959
  3. Bernd Gehrke, Renate Hürtgen (Hrsg.): Der betriebliche Aufbruch im Herbst 1989: Die unbekannte Seite der DDR-Revolution. Bildungswerk Berlin der Heinrich Böll Stiftung, 2001.

  4. Vladimiro Giacché. Anschluss. Die deutsche Vereinigung und die Zukunft Europas. Laika Verlag 2014, Edition Provo.