DEUTSCHLAND: Rassismus in Deutschland

von Jürgen Holzapfel, EBF, 27.10.2016, Veröffentlicht in Archipel 252

Wie es zum Wahlerfolg der rechtsextremen «Alternative für Deutschland» (AfD) bei den Landtagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern (MV) kam – eine Analyse.

«Deutschland ist rassistischer geworden seit dem Wahlerfolg der AfD in Mecklenburg-Vorpommern», sagt Ryad aus Tunesien, der schon seit über 15 Jahren in Deutschland lebt. Mit seinem Theaterstück über die Beweggründe eines Jugendlichen, aus seinem Land zu fliehen, versucht er quer durchs Land Verständnis zu schaffen. «Ich sehe es an ihren Blicken, sie schauen mich an, als sei ich gestern in Deutschland angekommen und eine Bedrohung für sie.»
Rassistischer als nach den Ereignissen an Silverster 2016 in Köln, rassistischer als nach dem Amoklauf in München1 und nach der Axtattacke eines jungen Afghanen in einem Zug bei Würzburg? Rassistischer als nach den Landtagswahlen im März in Sachsen-Anhalt, bei denen die AfD 24,2 Prozent der Stimmen erhielt?
Ich, wie die meisten, die sich hier als Antifaschisten definieren, glaube nicht, dass die Menschen rassistischer geworden sind, verändert hat sich nur ihre Zurückhaltung in der Öffentlichkeit – sie scheuen sich nicht mehr, es zu zeigen.
Am 4. September 2016 wurde in dem nordöstlichsten Bundesland ein neuer Landtag gewählt. Flächenmässig ist MV zwar das grösste Bundesland, hat aber nur 1,3 Millionen Stimmberechtigte, von denen rund 820’000 (61 Prozent) gewählt haben. Dennoch sorgte das Wahlergebnis deutschlandweit und im europäischen Ausland für Schlagzeilen. Was schon Wochen zuvor in allen Medien angekündigt worden war, trat ein. Als Partei hat sich die AfD erst im Frühjahr 2013 gegründet und nahm zum ersten Mal an den Landtagswahlen in MV teil. Sie gewann 20,8 Prozent der Stimmen und damit immerhin weniger, als von vielen Medien geunkt worden war. Zu ihrer Wählerschaft gehören laut Umfragen ungefähr 56’000 Nichtwähler_innen, 23’000 von der CDU «Übergesprungene», 20’000 NPD, 18’000 von der Partei «Die Linke» und 16’000 von der SPD. Die AfD wurde von heute auf morgen zur zweitstärksten Fraktion im Landtag, hinter der SPD (30,5 Prozent der Stimmen) und vor der CDU (19 Prozent). Die rechtsextreme NPD und die Partei «Bündnis 90/ Die Grünen» sind nicht mehr im Landtag vertreten.
Parteiübergreifende Fremdenfeindlichkeit
Weil die Bundeskanzlerin Angela Merkel ihren Wahlkreis in MV hat, wurde, trotz der geringen Bevölkerungszahl, die Wahl in MV zur nationalen Testwahl erhoben: für oder gegen die Flüchtlingspolitik der Bundeskanzlerin. Genau das war das Ziel der AfD, und alle Parteien haben sich kritiklos darauf eingelassen.
Offensichtlich ist es im Interesse der NPD, die bisher mit etwas mehr als 6 Prozent der Stimmen im Landtag vertreten war: Da sie damit rechnen muss, auf Grund ihrer Verherrlichung des Nazismus und ihrer Rechtfertigung rassistischer Gewalt als Partei verboten zu werden (ihr Vorsitzender in MV, Udo Pasteurs, hatte sich zum Beispiel bei der nationalistischen Terrororganisation NSU bedankt), hat sie sich mit der AfD eine Weiterführung rassistischer Politik im Landtag gesichert. An einer Demonstration der AfD in Rostock konnte man beobachten, wie sich Abgeordnete der NPD in die erste Reihe der Demonstration eingereiht haben, ohne sichtbaren Widerspruch der AfD. Die Basis der NPD wird in Zukunft noch ungehemmter rechten Terror auf der Strasse gegen Ausländer und Andersdenkende ausüben.
Die CSU, «Schwesterpartei» der CDU in Bayern, verfolgt mit offen flüchtlingsfeindlichen Positionen die Demontage der Kanzlerin. In der SPD verspricht man sich durch die Schwächung ihres Ansehens einen Wahlvorteil bei den nächsten Bundestagswahlen. In der CDU hat so mancher Abgeordnete die Situation genutzt, um die bisher unumstrittene Führungsposition Angela Merkels in Frage zu stellen. Tatsächlich wurde die fremdenfeindliche Propaganda der AfD von allen Parteien in verschiedenen Abstufungen übernommen, bis hin zu Sahra Wagenknecht, der Fraktionsvorsitzenden der Partei «Die Linke», die argumentiert, die deutsche Gesellschaft sei überfordert von der hohen Anzahl von Flüchtlingen. Noch kurz vor der Wahl in MV bemühte sich der Bundesinnenminister de Maizière (CDU), der AfD den Wind aus den Segeln zu nehmen, indem er eine drastische Einschränkung der Rechte von Flüchtlingen und Schnellverfahren für ihre Abschiebung ankündigte. Dennoch haben sich die Wahlbeteiligten für das Original des Protestes entschieden, und nicht für diejenigen, die in ihren Augen die Nachahmer_innen sind. Dennoch gibt es auch die umgekehrte Analyse, dass die AfD im Interesse der nationalistischen Kräfte innerhalb der verschiedenen Parteien aufgebaut wurde.
Der Wahlerfolg der AfD ist eine Folge der politischen Anbiederung aller Parteien, die die Fremdenfeindlichkeit in Deutschland gesellschaftsfähig gemacht hat. Das bekommen die Flüchtlinge überall zu spüren, in der Bahn, auf den Ämtern, bei der Wohnungs- und Arbeitssuche. Es ist der AfD gelungen, die Wahlen in MV ausschliesslich auf die Flüchtlingspolitik zu polarisieren, alle regionalen Probleme wurden nur noch am Rand erwähnt.
Die AfD nimmt für sich in Anspruch, eine Bürger_innenbewe-gung zu sein. Ihre Demonstrationen stehen unter dem Motto der Bürger_innenbewegung der DDR «Wir sind das Volk». Kaum jemand kennt das Parteiprogramm der AfD, es lohnt sich aber, einen Blick darauf zu werfen. Sie ist für Atomenergie, sie leugnet den Klimawandel und sie ist für die Aufhebung der Sanktionen gegen Russland. In Wirtschaftsfragen ist sie für die Freiheit der Unternehmer_innen und hat wenig übrig für die sozial Ausgegrenzten, auch wenn manche_r Arbeitslose für die AfD gestimmt hat. Am Abend nach der Wahl in MV nennt der Landesvorsitzende der Partei als Ziel seiner Politik die Einführung von Volksabstimmungen und: «vielleicht gelingt es uns ja, die Kanzlerin zu stürzen». Die Dürftigkeit des politischen Programms gibt den Eindruck, dass die AfD die Rolle eines «nützlichen Idioten» erfüllt, in diesem Fall zur Renationalisierung der Politik und für die Remilitarisierung innerhalb Europas.
Für oder gegen Flüchtlinge
Auch in MV sind viele Flüchtlinge angekommen, da die Verteilung auf die Bundesländer entsprechend der Bevölkerungszahl erfolgt. Selbst in den kleinen Gemeinden wurden die Menschen mit der Aufnahme von Flüchtlingen konfrontiert. In den meisten Orten sind Unterstützungskreise von Freiwilligen entstanden, die oft weit mehr tun als die dafür zuständigen Ämter, und nicht davor zurückschrecken, sich in den Ämtern für die Rechte der Flüchtlinge zu streiten. Sie haben allerdings keine Protestpartei, die sie unterstützt, und auch nur eine schwer erkämpfte Präsenz in den Medien.
Begleitet wird das Wahlspektakel der Herren und Damen in Schlips und Kragen von einer massiven Zunahme rechter Gewalt gegen Flüchtlinge und ihre Unter-stützer_innen. So berichtet der Verein für Opfer rechter Gewalt in MV «Lobbi» von 130 Angriffen dieser Art im Jahr 2015, ein Drittel mehr als im Jahr 2014. Das Bundesinnenministerium registrierte 1000 Gewaltdelikte in ganz Deutschland gegen Einrichtungen von Flüchtlingen im Jahr 2015, im Jahr davor waren es noch 200 und in diesem Jahr hat die Gewalt gegen Flüchtlinge weiter zugenommen. In diesem Zusammenhang warnt – oder sollte man sagen droht – die Vorsitzende der AfD vor/mit einem «Bürgerkrieg», wenn die Bundesregierung ihre Politik nicht ändert.
Es gibt aber auch eine andere Kraft in diesem so gerne von den Medien als rassistisch und hoffnungslos bezeichneten Bundesland. Die Punkband «Feine Sahne Fischfilet» besteht aus Musiker_innen, die aus den Dörfern und Kleinstädten von MV kommen und sich gegen die Langeweile zusammengefunden haben. Sie haben die Zeit des Wahlkampfes genutzt, um mit einer Tournee durch Dörfer und Städte die «Andersdenkenden», die «coole Projekte» machen, zu unterstützen und bekannt zu machen. In den Medien wird denjenigen, die sich für den Empfang der Flüchtlinge engagieren, nur wenig Aufmerksamkeit gegeben. Die Band ist mit Schrift-steller_in-nen, mit Filmen und mit Musik in die Orte gegangen, wo solche «Andersdenkende» oft isoliert sind. Ihren grössten Erfolg hatten sie in der als Hochburg der Nazis bekannten Kleinstadt Anklam, wo 2’000 Besucher zu dem von ihnen organisierten Konzert gekommen sind. Das Motto ihrer Tournee war: «Noch nicht komplett am Arsch». Sie begannen ihre Auftritte mit fundierten politischen Reden, um danach gemeinsam zu feiern unter dem Motto «Lass deine Freunde nie im Stich».
Mit Humor reagierte die Band auf ihre Kriminalisierung durch den Innenminister, der sie als «Gefahr für den Staat» bezeichnet und von seinen Geheimdiensten überwachen lässt. Zum Dank überreichten sie ihm einen Geschenkkorb.
Sie sind zum Gesicht einer antifaschistischen und vielfältigen Jugendbewegung in MV geworden, die sich den rechtsextremen Aufmärschen in den Weg stellt und auf der Seite der Flüchtlinge steht.