Diyarbakir unter Zwangsverwaltung

von Delegation des «Brückenschlags Zürich <-> Amed/Diyarbakir», 26.04.2017, Veröffentlicht in Archipel 258

Im Herbst 2016 lud der «Brückenschlag Zürich <–> Amed/Diyarbakir» die Co-Bürgermeisterin Gültan Kisanak und den Co-Bürgermeister Firat Anli (beide HDP-Bündnis) zu einem Besuch nach Zürich ein. Zehn Tage nach ihrer Rückkehr wurden die beiden verhaftet und Amed/Diyarbakir unter Zwangsverwaltung gestellt.

Im Mai 2016 hatten sich links-grüne Parteien sowie soziale und türkisch-kurdische Organisationen in der Stadt Zürich zum Bündnis «Brückenschlag Zürich <–> Amed/Diyarbakir» zusammengeschlossen. Sie hatten ein Postulat erstellt, das einen solchen Brückenschlag zwischen Zürich und dem unter dem Ausnahmezustand leidenden Amed/Diyarbakir forderte und vom Gemeinderat der Stadt (Legislative) an die Stadtregierung überwiesen und angenommen worden war.
Nach den Verhaftungen konnte der Brückenschlag nicht mehr mit der dortigen Gemeindeverwaltung kooperieren. Aufgrund dieser neuen Situation will er über die Repression und Unterdrückung in der Türkei und Nordkurdistan im Speziellen informieren sowie aktive Solidarität organisieren. Dazu gehört, dass er bemüht ist, Beobachterdelegationen aus der Schweiz zu den Prozessen gegen Gültan Kisanak und Firat Anli zu organisieren. Eine erste Delegation weilte zur Prozesseröffnung gegen Firat Anli, Co-Bürgermeister von Amed/Diyarbakir und 51 Mitangeklagte am 20. Februar dieses Jahres in Amed/Diyarbakir.
Medienmitteilung vom 22. Februar 2017
Am späten Nachmittag vom Montag, 20. Februar, spielten sich am Strafgericht von Amed/Diyarbakir (Südosttürkei) unglaubliche Szenen ab. Die Verteidiger des in Untersuchungshaft sitzenden Co-Bürgermeisters Firat Anli plädierten für ihn und die sechs ebenfalls verhafteten Mitangeklagten auf sofortige Haftentlassung. Derweil plauderte und scherzte der beisitzende Richter mit dem Staatsanwalt, der sich erstaunlicherweise ebenfalls auf der Richterbank befand. Das Verhalten war der bildliche Schlusspunkt der Verhandlung, die während des ganzen Tages von Arroganz und Verachtung der klagenden und urteilenden Instanzen den Angeklagten gegenüber geprägt war: hier Richter und Staatsanwalt als Vertreter der Staatsmacht, ihnen gegenüber Angeklagte, denen Separatismus und Zugehörigkeit zu einer terroristischen Organisation vorgeworfen wird und denen hohe Gefängnisstrafen drohen.
Firat Anli hatte Anfang Oktober zusammen mit der Co-Bürgermeisterin Gültan Kisanak im Rahmen des Brückenschlags «Zürich <–> Amed/Diyarbakir» Zürich besucht. Bei dieser Gelegenheit führten sie unter anderem Gespräche mit Stadtpräsidentin Corine Mauch und verschiedenen Verwaltungsstellen zu praktischen Problemen einer Gemeindeverwaltung. Zehn Tage nach ihrer Rückkehr wurden sie verhaftet und Diyarbakir wurde unter Zwangsverwaltung gestellt. Seither tagt auch das Stadtparlament nicht mehr. In der ganzen Türkei herrscht noch immer Ausnahmezustand und in Sur, der Altstadt von Diyarbakir, eine Ausgangssperre – Sur wurde inzwischen sogar durch Mauern abgeriegelt.
Die Verteidigung und einheimische Prozessbeobachter_innen vermuten, dass es beim Prozess gegen Firat Anli – der Prozess gegen Gültan Kisanak steht noch aus – um die Amtsenthebung der gewählten Stadtregierung und die Installierung einer Zwangsverwaltung geht. Zu offensichtlich weisen Umstände ihrer Verhaftung und Anklagepunkte darauf hin. Firat Anli und Gültan Kisanak wurden am gleichen Tag zur exakt gleichen Zeit in verschiedenen Städten in Polizeigewahrsam genommen. Die Verteidiger gaben zu bedenken, dass diese koordinierte Verhaftung nahelegen würde, dass den beiden die gleichen Straftaten vorgeworfen würden, was nicht der Fall ist.
Der Staatsanwalt wirft Firat Anli im Zusammenhang mit dem Bau einer Wasserversorgung für eine kleine Gemeinde im Verwaltungsbereich von Diyarbakir Separatismus und Unterstützung einer terroristischen Organisation (PKK Guerilla) vor. Weitere Teile der Anklagepunkte sind ein Friedhof, auf dem gefallene Guerilla-kämpfer_innen bestattet wurden, ein Festzelt, das der Propaganda gedient haben soll, ein Generator, der elektrische Energie lieferte und eben das Wasser. Die Verteidigung spricht von einer kruden Vermischung verschiedener, zusammenhangsloser Elemente, die die Staatsanwaltschaft zu einer für die Angeklagten bedrohlichen Anklageschrift zusammengebraut hat. Diese Vorwürfe wurden schon vor eineinhalb Jahren konstruiert, Firat Anli jedoch erst im vergangenen Herbst als Hauptverantwortlicher in sie eingebaut. Er leugnet seine Verantwortung beim Bau der Wasserversorgung nicht; im Gegenteil, es sei seine Aufgabe gewesen, die Wasserversorgung für die Gemeinde, die seit Jahrzehnten auf einen Anschluss wartete, endlich zu realisieren. Ebenso wenig streitet er ab, öffentlich für Gemeindeautonomie und Föderalismus als wichtige demokratische Instrumente, wie sie auch die Schweiz kennt, für alle Gemeinden in der Türkei einzustehen. Daraus eine Anklage wegen Separatismus zu konstruieren ist absurd.
Steht das Urteil schon fest?
Mit Bestürzung mussten wir von der Delegation aus der Schweiz zum Schluss des ersten Verhandlungstags das Verdikt des Gerichts zur Kenntnis nehmen: Bis auf eine Person wird die Untersuchungshaft für alle Angeklagten bestätigt und der Prozess erst Mitte Mai weitergeführt. Da die Untersuchung abgeschlossen ist, kommt dieses Urteil einer Vorverurteilung gleich und die Angeklagten werden ohne Urteil monatelang in Haft gehalten.
Umso eindrücklicher war für die Delegation die gefasste Haltung der Angeklagten und ihrer Familienangehörigen. Seit vielen Jahren sind sie als kurdische Bevölkerung solche, auch juristische, Machtdemonstrationen des türkischen Staats gewohnt und geben dennoch ihre Überzeugung und Hoffnung nicht auf. Neben der Prozessbeobachtung wollten wir als Delegation sie und die Angeklagten unserer Solidarität versichern.
Politische Prozesse gegen engagierte Menschen finden in der Türkei im Moment zuhauf statt. In diesem Kontext fordern wir Bundesrat, EDA (Aussendedepartement) und Parlamentarier_innen auf:

  • sich für die Freilassung von Firat Anli und seiner Mitangeklagten einzusetzen,
  • die Einhaltung von rechtsstaatlichen Verfahrensgarantien in der Türkei einzufordern,
  • offizielle Beobachter_innen an die politischen Prozesse zu entsenden,
  • den Verlauf und die Abstimmung über das Verfassungsreferendum am 12. April 2017 zu beobachten,
  • keine Rückschaffungen in die Türkei vorzunehmen,
  • für politisch Verfolgte grosszügige Aufenthaltsregelungen in der Schweiz zu erlassen.

Die Delegation des «Brückenschlags Zürich <-> Amed/Diyarbakir» umfasste:
Ezgi Akyol (Gemeinderätin AL, Zürich), Maja Hess (Präsidentin medico schweiz international), Urs Sekinger (Koordinator SOLIFONDS), Ranil Welandagoda (Sozialpädagoge) und Heidi Merk, ehemalige Landesministerin von Niedersachsen/Deutschland.
Weitere Auskünfte:
Ezgi Akyol 076 493 25 95
Maja Hess 079 731 05 66
Urs Sekinger 078 852 92 25