DOSSIER:1989-UND DANACH? Denkbewegungen vor und nach 1989 2. Teil

von Christina Thürmer-Rohr, 10.06.2010, Veröffentlicht in Archipel 182

Ohne Beschönigung muss man feststellen, dass mit dem Datum 1989/90 diese Debatten, an denen unzählige Frauen teilnahmen, von der Bildfläche verschwanden, ihre Intensität ebenso wie ihre Inhalte. Es war einfach Schluss damit.

Die Antwort sind wir uns noch schuldig. Auch in diesem Jubiläumsjahr hat der anhaltende Hagel öffentlichen Redens über jene Zeit zu den angedeuteten Fragen keine Antworten gefunden bzw. sie gar nicht erst gestellt.

Die Zeit der Wende

Zunächst war der Mauerfall auch für Westberlinerinnen eine Phase des atemlosen Erstaunens, der Begeisterung und Bewunderung, der Neugierde und des Lernens. Dabei war schnell zu ahnen, dass es sich hier nicht nur um ein DDR-Ereignis handelte und dass es nicht nur Deutschland betraf, sondern die ganze Welt, dass sich mit dem Verschwinden des Ostblocks ein Ereignis von weltgeschichtlicher Bedeutung abspielte, das unser aller Denkhorizonte zutiefst verändern würde, dass diese Veränderungen außerdem nicht nur Freudenfeuer und Freiheitsräusche auslösten, sondern auch politische und persönliche Dramen, die unterschiedliche Menschen unterschiedlich hart betrafen. Wer dem allen nicht nur wie einem äußeren Spektakel zusehen wollte, ließ alles liegen, um Kontakte zu suchen, fast wahllos. Wir wollten uns begegnen, treffen, kennenlernen, denn wir kannten uns nicht. Es gab wunderbare Erfahrungen, unvergessene Überraschungen, unerwartete Offenheiten, gelungene Freundschaften, die Spannung auf die erste Zusammenarbeit, überraschende anrührende Details, wenn z.B. Brandenburgerinnen zu unseren Treffen selbstgepflückte Blumen oder selbstgeschmierte Brote mitbrachten, und diese schönen Dinge spielten sich vor allem an informellen, mehr oder weniger privaten Orten ab.

Meine Enttäuschungen betrafen zunächst die eigene, die westliche Seite. Zum Beispiel habe ich 1990 einen Text „Zur Deutsch-deutschen Sturzgeburt“ geschrieben, der von Anklagen gegen den westlichen Teil des neuen Deutschlands nur so strotzt: Das Veränderungshandeln gehörte der DDR-Bevölkerung, und niemandem sonst, aber es wurde so getan, als sei der Mauerfall das Werk westlicher Politiker oder „der Deutschen“. Die (west)deutsche Jagdgesellschaft vereinnahmte die Ereignisse schnellstens für eigene Interessen, sie schwamm auf einer Woge der Selbstgerechtigkeit und im Adrenalin/Testosteron der eigenen Macht. Vorwürfe trafen auch Frauen. Unvergessen der Film „Auf der Mauer auf der Lauer“ (Sybille Plogstedt), in dem verschiedene Westfrauen aus Stadt und Land zu Wort kamen, um sich in unverhohlener Herablassung über die neuen Bundesbürger herzumachen - wie sie Plastiktüten mehrfach benutzten, wie sie über die Läden herfielen, wie sie mit ihren Trabis „unseren“ Stadtteil verschmutzten etc. Ich will das jetzt nicht alles wiederholen.

Sprachlosigkeit

Die meisten West-Feministinnen verharrten in paralysiertem Schweigen. Das betraf z.B. die Frage der Nation: Die taz schrieb damals, jetzt müssten feministische Fragen zurückstehen, jetzt gehe es um Weltpolitik, um die ganz großen Fragen also, um eine Neuordnung der Macht. Ja, aber für uns war Feminismus „Weltpolitik“, ihm ging es um eine Neuordnung der Macht – aber in einem ganz anderen Sinne. Das Beunruhigende war, dass die „deutsche Frage“ den männlichen Machern überlassen blieb und deren Dominanz ungebrochen zurückkehrte. Die Lockungen des Wortes „Weltpolitik“ rechtfertigten das Vorpreschen eines zupackenden Überlegenheitsbewußtseins der Stärkeren ohne Einhalt gebietende Gegenmacht. Was für ein Deutschland sollte das nun werden? Unsere Verschiedenheiten durch die Prägung konträrer Gesellschaftssysteme einschließlich ihrer Oppositionskulturen waren tiefgreifender als wir wahrhaben wollten. Die Benennung dieser Verschiedenheiten und eine wirkliche Auseinandersetzung um das gemeinsame und das getrennte deutsche Geschichts-Erbe gab es kaum. Wie wir wissen, war das wohl zu früh, vielleicht waren die Befürchtungen auch übertrieben. Aber, ob zu früh oder nicht, es fehlte meist eine gegenseitige Verstehensbereitschaft, und die Lähmung und Sprachlosigkeit der Westfeministinnen angesichts der „großen Fragen“ signalisierte die Wiederholung des Gleichen. Jede antipatriarchale Grundsatzkritik war annulliert, und mit Blick auf dieses neue Gesamtdeutschland handelte es sich nicht um eine revolutionäre Situation. Das Gesamt-Volk schien wieder zum „allseits reduzierten Gesamtmann“ zu werden (Pieke Biermann). Mit ihm hatte auch der Silvestertanz am Brandenburger Tor 1989/90 keine neue Qualität. Und der Frau, die zu diesem Mann passt, gelang als Krönung des politischen Umsturzes der Sprung aufs Titelblatt der Herrenmagazine. Als erstes Playmate aus der DDR symbolisierte sie den Fortschritt, und mit diesem die Degradierung zum Objekt und zum Symbol einer „nachholenden Entwicklung“, einer Angleichung an westliche Bilder und „Freiheiten“1. Und dass das so war, fand auch auf westlicher Seite kaum jemand erwähnenswert. Entweder wurde es mit klammheimlicher Freude registriert oder überhaupt nicht bemerkt. Allzu verständlich war, dass der Mann Geschichte macht. Und dieser konnte sich weitgehend sicher sein, dass Frauen ihm dieses Vorrecht nicht abspenstig machen2.
Vielen verschlug es die Sprache. Das Schweigen vieler West-Feministinnen wurde dadurch verstärkt, dass die naiv erhoffte Übereinstimmung mit den Ost-Frauen ausblieb. Gut ging es nur auf einem persönlichen Terrain und wenn bestimmte politische Fragen ausgeblendet blieben. Wir Westlerinnen mussten handsome sein, vorsichtig, zurückgenommen, sonst ging das nicht. Der wiederholte Vorwurf, der Westfeminismus sei elitär, männerfeindlich, normalitätsfeindlich, revisionistisch, kleinbürgerlich, theoretisch, abgefahren in bloße Minderheitenregionen etc. provozierte hilfloses Schulterzucken, aber auch nachhaltige Rückzüge. Wir wurden nicht fertig mit einer Nachbargesellschaft, für die die Worte Feminismus und Patriarchat nicht viel mehr zu sein schienen als Schimpfworte für dekadente Erscheinungen des westlichen Kapitalismus. Bei Ausflügen ins Berliner Umland sahen wir uns behandelt wie Besatzungsoffiziere oder wie Ehefrauen von Immobilienmaklern. Wir sahen uns Identitätszuweisungen ausgesetzt - alle Westler sind Kolonisatoren, Ellenbogenmenschen, konkurrent, arrogant etc. - , die uns in eine vorgefertigte West-Spezies hinein kategorisierten und auf die Seite derjenigen verfrachteten, der wir uns nie hatten zuordnen wollen und die wir erbittert bekämpft hatten. Wir sahen unsere Oppositionsrolle entwertet, ausgerechnet von Seiten derer, mit denen wir uns ja eigentlich verbünden wollten.

Unterschiedliche Begriffe

Wenn wir in Ost und West gleiche Worte für verschiedene Inhalte benutzten – z.B. „Emanzipation“ und „Emanzipationsvorsprung“ - häuften sich Fallstricke und Fettnäpfe. So brachten Ostlerinnen einen ganz anderen Begriff von „Normalität“ mit, einen positiven nämlich, und sie waren und sind stolz darauf, diese Normalität in die Wende eingebracht zu haben3. Es brauchte Zeit, um mitzukriegen, was Ostlerinnen mit „normalen Frauen“ meinten. Denn uns fehlte ja gerade das Vertrauen in eine Normalität, die für uns zumindest auch das Verhängnis einer Prägung beherbergte, die wir attackierten: die Normalität der Unterwerfung. Eine Verführung zu Missverständnissen brachte auch die Verknüpfung gesellschaftlicher und persönlicher Veränderungen mit sich, für die der West-Feminismus ja eigentlich stand. Das betrifft z.B. den berühmten Satz „Das Persönliche ist politisch“. Dieser Satz war schon längst vor der Wende nachhaltig verzerrt worden, nämlich immer wieder reduziert auf seine eine, die persönliche Seite. Übrig blieb dann die Sorge um die eigene Befindlichkeit oder die Beziehung „Ich und mein Freund“. Die Forderung, auch das Private zu politisieren, war also immer schon in der Gefahr, zum Freibrief für egozentrische Sackgassen und Blickverengungen zu werden. Diese psychologische Schlagseite kollidierte, wie Sibyl Klotz kürzlich sagte, mit dem Pragmatismus der Ostfrauen. Dem ist sicher nicht zu widersprechen. Nur: Diese Psychologisierung war zwar weit verbreitet, aber sie war immer wieder innerfeministisch kritisiert und analysiert worden. Der Satz war eben gar nicht psychologisch gemeint gewesen. Was er sagen wollte, war, dass Gewalt Gewalt ist und Diskriminierung Diskriminierung, egal ob sie sich in aller Öffentlichkeit oder im verborgenen Privaten abspielt. Wenn also viele Frauen sich in den Mikrokosmos der eigenen Psyche zurückgezogen oder verirrt hatten, hatte das weniger mit dem Feminismus zu tun als mit dem Anwachsen einer Therapiegesellschaft, die schon in den 1980er Jahren viele Frauen mitgerissen hatte: Spiegel eines gesellschaftlichen Leidens oder Unwohlseins, auch Ausdruck einer spezifisch „weiblichen“ Neigung, das Persönliche in den Mittelpunkt aller Aufmerksamkeit zu rücken und sich auf das überschaubare Territorium des eigenen Ichs zu beschränken. Manche Feministinnen legitimierten ihre Psychozentrierung mit der Meinung, man müsse im ersten Schritt das eigene psychische Haus in Ordnung bringen, um dann im zweiten Schritt „nach draußen“ gehen zu können. An diese Stufen-Abfolge habe ich nie geglaubt. Jedenfalls, es ist bis heute ein potenziertes Missverständnis, den West-Feminismus mit diesem sowieso schon so oft missverstandenen Satz „Das Persönliche ist politisch“ zu identifizieren und zu meinen, den Westfeministinnen sei es in erster Linie um den eigenen Platz an der Sonne und die Erwärmung des eignen Ichs gegangen. Ich war der Meinung: „Feminismus ist nicht Glück, sondern Erkenntnis. Wenn diese etwas mit Glück zu tun hat, dann ist es das Glück, zur menschlichen Würde zu gelangen, die Geducktheit der weiblichen Norm und ebenso die Fesselung im eigenen Ich hinter sich zu lassen: Das Glück, etwas zu entwirren, aufzudecken, zu beleuchten, das normgemäß unentdeckt bleiben soll und das von niemand anderem als von Frauen selbst ans Licht gebracht werden kann“4.

Unverständnis

Man kann die Herausforderung feministischer Gesellschaftskritik als Aufklärungsarbeit bezeichnen, Aufklärung als „Geisteshaltung und Arbeitsmethode“5, eine Selbstaufforderung, die die Oberfläche scheinbar selbstverständlicher Normen und hergebrachter Alltagsmeinungen durchdringen will, um dahinter zu sehen. Es ging darum, Zusammenhangsblindheiten zu überwinden - ein Wort, das wir schließlich den marxistischen Klassikern entnommen hatten. Für solche Anstrengungen braucht man gesellschaftstheoretische Annahmen. Und meines Erachtens waren es vor allem die theoretischen Vorgaben des Westfeminismus, die - so schien es - für Ostfrauen seltsam oder irgendwie entbehrlich waren. Wir verstanden das nicht. Wir sahen den theoretischen Anspruch des Feminismus verkannt. In dem Studiengang z B., für den ich verantwortlich war, legten wir besonderen Wert auf ein feministisches Studium, das Praxis und Theorie verbindet. Wir waren stolz auf eine Untersuchungsarbeit, die sich gegen die stählernen theoretischen Waffen der Linken durch eigenständige Theorieproduktion behaupten konnte, wir wollten dieser ebenso wie den Praxisprojekten das gleiche Gewicht zugestehen. Wir wollten die althergebrachte Zuständigkeit der Männer für die Theorie, der Frauen für die Praxis aufheben. Denn diese alte Arbeitsteilung war immer hierarchisch und hatte die Frauen bestenfalls zu Ausführerinnen und Handlangerinnen vorgedachter Erklärungen gemacht. Das wollten wir auf keinen Fall fortsetzen. Wir wollten auf keinen Fall bloße Reparateurinnen angerichteter Schäden bleiben, die an die Grundfesten nicht rühren.
Hinzu kam, dass in den achtziger Jahren - nach den ersten empörten Erkundungsphasen und Berichterstattungen über die Situation von Frauen - der Bedarf an feministischer Theorie gewachsen war. Die Frauenbewegung war ja - im Unterschied zur Linken - bekanntlich ohne theoretische Grundlagen gestartet, die wir fix und fertig hätten zur Hand nehmen und nachlesen können. Während anfangs das Gemeinsame des Frauenaufbruchs noch im Flair des Wortes „Veränderung“ lag, in der Suche nach neuen Wegen, in der Bereitschaft, mit Konventionen zu brechen, sich aus der Bahn zu werfen und werfen zu lassen, in diesem Aufstand gegen den Stillstand der Zeit6, ging es jetzt um die systematische Aufdeckung gesellschaftlicher Herstellungsmuster und Machtverfestigungen, die die Permanenz der historischen Geschlechterungleichheiten und Verhaltensprägungen erklären konnte. Wir brauchten einen Schlüssel, der Zugang zu den verborgenen Gesetzmäßigkeiten schafft, Hypothesen, die das, was wir sahen, in Zusammenhang bringen konnten. Wir sahen darin nichts Elitäres, keine „Anleitung zum Handeln“ von oben, sondern eine allen zuzutrauende und allen zugängliche Anstrengung des Denkens, um hinter die Alltagsphänomene zu sehen und die praktische Arbeit zu fundieren7. Jedenfalls, wir hatten angenommen, dass wir gerade durch die Schwestern aus dem Osten mit ihrer historisch-materialistischen Bildung Verstärkung unserer theoretischen Bemühungen bekämen, auch Verstärkung gegen die traditionelle Theoriefeindlichkeit vieler Frauen. Und wir verstanden nicht, warum sich das als Irrtum herausstellte.
Umgang mit „der Frauenfrage“
Die feministische Patriarchatstheorie basierte nicht nur auf einer Untersuchung der Gegenwart, sondern wesentlich auch auf einer patriarchalen Geschichte, von der wir meinten, sie sei keineswegs überwunden, sie wirke fort. Was wir in diesen Geschichtsinspektionen weitgehend ausgelassen hatten, war die Geschichte des Sozialismus - auch wenn die sozialistische Nachbarschaft subkutan ihre Wirkung tat. Aber seine frauenpolitische Erfolgsgeschichte hatte uns nicht wirklich überzeugt. Die ungeduldige und unversöhnliche feministische Fundamentalkritik war nicht recht bereit, den Umgang sozialistischer Länder mit „der Frauenfrage“ soweit anzuerkennen, dass sie unsere Radikalansprüche hätten befriedigen können. Für uns war ein Gleichheitspostulat nicht wirklich glaubwürdig, das Frauen erstrangig als Mütter und Arbeitskräfte definiert, aber Halt macht vor ihrer Einbindung in alle Bereiche des politischen Lebens, d.h. Halt macht vor ihrem politischen Veränderungspotential. Wenn wir vom weltweiten Patriarchat sprachen, sahen wir auch in der Parallelität der damaligen Aufrüstungslawine den sinnfälligsten Ausdruck einer patriarchalen Gewaltlogik, die sich in den beiden Systemblöcken des kalten Kriegs nicht unterschied. Wir fanden die Waffensysteme des Warschauer Pakts nicht besser als die der Nato. Diese Einschätzung war nicht dazu angetan, uneingeschränktes Vertrauen in eins der beiden Systeme zu entwickeln.
In der Uniarbeit spürte man schnell Reserve oder Desinteresse der Ost-Studentinnen gegenüber feministischen Fragen. Man hätte sie ihnen von oben verordnen, also überstülpen müssen. Gerade das wollte ich nicht. Das hätte dem basisorientierten Konsens unseres Studiengangs total widersprochen. Also habe ich in einem schnellen Entschluss den seit 1976 bestehenden – später abgewickelten - feministischen Studienschwerpunkt inhaltlich verändert und umbenannt. Ich meinte, das Gebot der Stunde sei jetzt, gemeinsame und für alle Beteiligten neue Fragen anzugehen – Fragen der Menschenrechte und des politischen Denkens, und Fragen des dialogischen Prinzips. Dialog und dialogisches Denken schien eine entscheidende Quelle der Neuorientierung werden zu können, ein Weg, um vorschnelle Verallgemeinerungen und Vorurteile nicht aufkommen zu lassen. Denn jeder praktizierte Dialog konfrontiert vorbehaltlos mit den konkreten Anderen. Die Anderen können nicht mehr weggedacht, sondern müssen mitgedacht werden. Diese Arbeit war produktiv. Sie förderte immer neue Unterschiede zu Tage, die nun für alle Beteiligten unübersehbar auf dem Tisch lagen. Das Bild über die DDR – sofern wir eins hatten – bekam viele Varianten, auch neue Fragezeichen. Es waren oft paradoxe Erfahrungen. Je nachdem, ob der Abschied vom Sozialismus als freudiges oder als erschreckendes Ereignis wahrgenommen worden war, traf man auf ein grenzenloses Vertrauen in die Demokratie oder auf eine pauschale Demokratie-Skepsis. Das erstere war vielen Westfeministinnen in ihrer Staatsferne und ihrem Generalmisstrauen suspekt und allenfalls aus Fensterreden vertraut. Das Gegenstück aber war uns ebenso fremd und erschien uns vor allem ignorant gegenüber den vielen Veränderungsinitiativen von unten, in die wir ja alle politischen Hoffnungen setzten. Unverständlich fanden wir auch, wenn Ostlerinnen den Wert der Meinungsfreiheit bezweifelten und sagten, sie bewirke ja nichts, man könne jetzt alles sagen, aber alles lande in Watte! Hätten wir jetzt sagen sollen, dass öffentliche Meinungsäußerung keine Angelegenheit schnellen Erfolgs ist? Hätten wir sagen sollen, dass der Versuch, „von der Vernunft öffentlich Gebrauch zu machen“, immer hartnäckige Argumentations- und Überzeugungsfähigkeit braucht, damit Minderheitenpositionen überhaupt so etwas wie Diskursmacht gewinnen können? Welche besserwisserische, ja lächerliche Rolle wäre das gewesen? Wir fingen plötzlich an – mehr oder weniger verstohlen – Errungenschaften des westlichen Systems zu verteidigen. Das aber ging nun gar nicht. Erstens hätte uns solche Verteidigung systemkonform gemacht, was ein rücksichtsloser Verstoß gegen unsere oppositionellen Grundsätze gewesen wäre, und zweitens hätte diese Verteidigung automatisch die Ostlerinnen wiederum gekränkt. Denn man konnte nicht einfach so tun, als wäre unser Verhältnis als politisches Verhältnis gleichgewichtig, symmetrisch. Das war es nicht, und so waren wir es, die die eigenen Argumente zurückstellten, für uns behielten oder aufgaben.
Christina Thürmer-Rohr

  1. Maria Mies: Patriarchat und Kapital. Frauen in der internationalen Arbeitsteilung. Wien 1989, S.269
  2. Christina Thürmer-Rohr: Feminismus und Sozialpädagogik. Vortrag FHSS am 18.1.1090. In: Texte zur feministischen Gesellschaftskritik, TUB 1990
  3. Tatjana Böhm: Interview mit Ulrike Helwerth und Simone Schmollack in: taz vom 4.12.2009, S.13
  4. Christina Thürmer-Rohr: Befreiung im Singular – Zur Kritik am weiblichen Egozentrismus. In: Beiträge zur feministischen Theorie und Praxis, H.28, 1990, S.17
  5. Hans Mayer: Das unglückliche Bewusstsein. Frankfurt am Main 1989, S.234
  6. Xaver Brenner: Mythos 68 – Oder die Fortsetzung einer Bewegung. In: Kommune H.1, 2008, S 18 (S.18-22)
  7. Christina Thürmer-Rohr: Gesellschaftstheoretische Grundlagen feministischer Frauenforschung. Studien-Manuskript TU Berlin 1988