DOSSIER: 1989-UND DANACH ? : Frauen nach der Wende*

von Renée Ginger Timult(Dieser Artikel ist ein Auszug aus der Zeitschrift «Timult»), 05.03.2010, Veröffentlicht in Archipel 179

Die Bilder sind bekannt: Massen von Menschen überqueren in der Nacht vom 9. November 1989 die Grenze zwischen Berlin und Berlin – die Mauer ist gefallen. Deutsche aus dem Osten und dem Westen fallen sich in die Arme. Die Zeit zwischen dem Fall der Mauer und dem Ende der DDR sowie die sozialen und politischen Auswirkungen der Ereignisse für Deutschland und die ganze Welt sind schwer zu fassen und zu messen.

Die Mauer in Berlin fällt am 9. November1989. Es wird engagiert diskutiert während einigen Wochen, auf den Straßen und in verqualmten Küchen, um die Situation zu begreifen und um Wege für das Kommende zu suchen, um Vorschläge zu machen. Die Chance ergreifen, das System zu erneuern, zu restaurieren, radikal zu ändern. Oder sich an dem Zusammenbruch erfreuen, auf den Ruinen so lange
wie möglich tanzen…

Brüche entdecken

Viele Frauen der DDR sind in den sozialen Kämpfen engagiert, schon lange vor den Ereignissen von 1989. Es sind Sozialistinnen, Feministinnen, Frauen gegen den Krieg oder auch gegen die Umweltzerstörung1. Zahlreich die, die das System ändern wollen, sie haben dazu beigetragen, dass es zusammenbricht. Sie fragen ganz konkret nach der Veränderung der Gesellschaft, mit selbstverwaltetem Pragmatismus oder revolutionärem Reformismus. Eine tiefe Überzeugung eint sie im Kampf gegen die gut geölte Maschinerie der Vereinigung beider deutscher Staaten unter einem kapitalistischen Regime: Diese Vereinigung verspricht nichts Gutes – weder für die Frauen, noch für alle anderen.
Andere Frauen, zum Teil aus dem Westen, besetzen leer stehende Häuser im Ostteil der Stadt. Aber die Zeit rast und die Schwierigkeiten sind riesig: Einerseits reorganisiert sich der Repressionsapparat gegen die, welche die Freiräume nutzen, in dem sie sich nehmen, was sie zu einem guten Leben brauchen (leer stehende Häuser, Piratensender, inoffizielle Bars); andererseits die Wiederaneignung der Öffentlichkeit durch diejenigen, die versuchen, kollektiv ihre Vorstellungen von Demokratie und Veränderung zu formulieren.
Jede und jeder denkt und handelt von einem Tag auf den anderen, und es ist schwer, dem öffentlich-medialen Diskurs, der die kapitalistische Vereinigung befördert, effektiv etwas entgegen zu setzen.
Die Konflikte und Missverständnisse unter denen, die sich gemeinsam organisieren könnten, sind zahlreich. Viele kreuzen sich kaum oder gar nicht. Und falls sie sich kreuzen – in ihren verschiedenen Kämpfen, wenn sie endlich zusammenkommen und sich unterstützen – fehlen ihnen die gemeinsame Sprache und Praxis sowie politische Kriterien, auf die sie sich einigen können. Ihre Strategien – konfrontiert mit einem beträchtlichen Wandel der sozialen und kollektiven Organisation, der Aneignung dieser neuen Realitäten und dem Aufbau autonomer, landesweiter, männerfreier Strukturen – verlieren schnell ihre Substanz und geraten in Gefahr, überholt zu sein, zerquetscht zu werden durch die Kraft und Schnelligkeit der Vereinigungs-Dampfwalze.
Trotz ihrer ungleichen Realitäten, einer Periode, in der alle Festpunkte sich auflösen, bringen sie den Mut auf, den Wandel weiter treiben zu wollen. Kraftvoll lehnen sie es ab, zurück in die Normalität eines patriarchalen und profitorientierten Staates zu kehren. Es sei daran erinnert, dass auf der ostdeutschen Seite diejenigen zahlreich vertreten sind, die sich seit Jahren ihrem System entgegen gestellt haben, ohne an die kapitalistischen Modelle des Westens zu glauben. Einige sind entschlossene Sozialistinnen und Kommunistinnen, aber gegen das autoritäre Regime; andere lehnen den Staat überhaupt ab und propagieren anarchistische Ideen – Punkerinnen und Besetzerinnen, hervorgegangen aus den Jazz- und Hippie-Szenen der 1960er und 1970er Jahre. Die einen wie die anderen waren inspiriert von den feministischen und autonomen Kämpfen im Westen, aber vor allem bestärkt durch die Geschichte ihrer eigenen Kämpfe.
Wie stellten sie sich kollektiv dem Kampf in diesem Moment der großen Umwälzung? Was waren ihre Strategien? Welche Rolle spielte ihre feministische Position im großen Ensemble der Kämpfe? Welche Erfahrungen ergaben die männerfreien Räume? Und schließlich: Warum wurden diese gemeinsamen Kämpfe verloren?

Wer hat gesiegt?

Kein Vaterland zu verlieren, sondern eine Welt zu gewinnen2

  1. Dezember 1989: In der Volksbühne, einem Theater in Ostberlin, versammeln sich viele Frauen mit ihren vielen Kindern. Die Atmosphäre war fröhlich, ernsthaft, langsam und gelöst. Es gab kaum Telefone, die Post war nicht die schnellste, so war es verrückt, wie viele sich so schnell zusammenfanden. Während dieses etwas chaotischen Treffens wurde die Gründung des Unabhängigen Frauenverbandes (UFV) der DDR beschlossen. Eine der Frauen, die schon einen Computer besaß und an der Universität arbeitete, wo sie seit langem an die Texte der westlichen Feministinnen heran kam, brachte einen von ihr verfassten Text mit, das «Manifest für eine autonome Frauenbewegung». Es wurde während 28 Minuten laut vorgelesen. Dieser Text sprach sich aus für:
  • einen modernen Sozialismus auf deutschem Boden in einem gemeinsamen europäischen Haus;
  • eine ökologische Reorganisation der Wirtschaft;
  • Demokratie, Selbstverwaltung und Öffentlichkeit;
  • eine multikulturelle Gesellschaft;
  1. Einige stehen der Sammelbewegung «Neues Forum» nahe, das beim Fall der Mauer mehr als 10.000 Personen zählte. Es wurde im September 1989 gegründet und definiert sich als einen «politischen Zusammenschluss von Personen aller Berufe, Milieus, Gruppen und Parteien mit dem Ziel, die Teilnahme an Diskussionen und Entscheidungen der wesentlichen Probleme der Gesellschaft zu ermöglichen».
  2. Dieser Teil des Textes bezieht sich in großen Teilen auf den Text «Alte Filme» der deutschen Journalistin und Aktivistin Annett Gröschner, veröffentlich 1999 in der feministischen Zeitschrift «Weibblick».
  • ein solidarisches Miteinander aller sozialen Gruppen.
    Diese Positionen sind vor allem bestimmt von einem politischen Reformismus, der sein Vertrauen daraus zog, dass sich das politische System der DDR im freien Fall befand: Die Frauen wollen ihre Beteiligung an der Reformierung des sozialistischen Staates durchsetzen. Sehr schnell wird eine gewisse Form der «Politikerin» angenommen: Zwei Frauen werden gewählt, um den UFV am Runden Tisch, an dem verschiedene oppositionelle Gruppen und die provisorische Regierung der DDR zusammen kamen, zu vertreten. Sie machen deutlich, dass sie mit den Politikern um bessere Lebensbedingungen für Frauen, Kinder und Männer kämpfen wollen – in einer neu zu schaffenden sozialistischen Republik.
    Der gerade entstandene UFV veröffentlicht sofort einen Text, um die Frauen für die verhängnisvollen Folgen einer Vereinigung zu sensibilisieren. Sie unterstreichen, dass nur 54 Prozent der Frauen in der BRD arbeiten (in der DDR sind es 91 Prozent), dass der Schwangerschaftsabbruch in der BRD illegal ist und dass allein erziehende Mütter und alte Frauen die ersten sind, die unter dem schlagartigen Ansteigen der Lebenshaltungskosten leiden werden. So viele Anzeichen für den Autonomieverlust der Frauen… Der Text schließt mit einem Zitat von Elisabeth Oakes Smith: «Meine Freundinnen, wissen wir, warum wir uns hier versammeln? Sind wir uns bewusst, dass wir nicht weniger als die totale Umwälzung des gegebenen Systems, die totale Änderung des existierenden Gesellschaftsvertrag angehen wollen?»
    Den Ereignissen hinterher laufen
  1. Dezember 1989: Die provisorische Regierung der DDR lädt die RepräsentantInnen der sozialen Bewegungen ein, in Ostberlin einen Zentralen Runden Tisch zu schaffen. Dem UFV wird der Zugang schwer gemacht. Der Moderator meint, wenn man die Frauen zulasse, müsse man auch jeden Kaninchenzüchterverein einladen. Das zeigt deutlich, welchen Stellenwert Fraueninteressen in der offiziellen Politik haben.
  2. Februar 1990: Der zweite Kongress des UFV findet in einer Atmosphäre der Übermüdung und des Stresses statt. Pessimistisch wird festgestellt: Wir laufen den Ereignissen hinterher. Die Wahlen zur Volkskammer im März drängen auf eine Entscheidung. Auf die Schnelle und ohne Diskussion wird ein Wahlbündnis mit den Grünen der DDR eingegangen. Für die Bundestagswahl im Dezember 1990 geht der UFV mit den oppositionelle Bewegungen und den Grünen eine Listenverbindung - Bündnis90/Die Grünen –BürgerInnenbewegungen - ein.
    Im UFV stoßen zwei Tendenzen aufeinander: Vertreterinnen der sozialen Bewegung und professionelle, seriöse Politikerinnen. Als in einer Versammlung vorgeschlagen wird, für den 8. März einen Generalstreik auszurufen, stimmen die meisten Delegierten dagegen. Eine Teilnehmerin beschreibt die Diskussion im Nachhinein so: «Ich stelle fest, dass wir nicht bereit sind zum Kampf, nicht weit blickend, nicht wirklich
    mutig.»
  3. März 1990: Die Resultate zur Volkskammer der DDR sind wirklich deprimierend. Die Verfechter einer schnellen Vereinigung, die «Allianz für Deutschland», gewinnen, während Grüne/UFV nur 2 Prozent der gültigen Stimmen erhalten. Das ist die politische Niederlage der sozialen Bewegungen, die anderes wollten als eine kapitalistische Vereinigung.
    Kurz darauf findet die Ost-West-Konferenz der Frauen und Lesben statt. Die Teilnehmerinnen wollen sich mit Kunst und Literatur beschäftigen, aber sie diskutieren vor allem und in jedem Moment die Veränderungen in der Politik und in den Lebensbedingungen. Sie entdecken eine komplexe und schmerzhafte Wirklichkeit: Zwischen den Frauen aus Ost und West gibt es wenig gemeinsame Probleme, aber viel Unverständnis.
    Der utopistische Elan hat sich verflüchtigt und das einzige Feld, auf dem sie sich sammeln, ist der Kampf für den Schwangerschaftsabbruch, legal und gratis, und gegen den Paragrafen 218. Dieser Kampf wird verloren, der Abbruch bleibt im vereinten Deut-schland illegal.
    Die «Wiedervereinigung»
    Im Oktober 1990 findet die offizielle «Wiedervereinigung» beider Deutschländer statt.
  4. und 11. November 1990: Die Frauen versammeln sich ein letztes Mal im Rahmen des UFV zur Konferenz «Der andere Blick auf das Leben». Ein zentraler Konflikt zeichnet sich ab: Die Westfrauen werfen den Ostfrauen vor, dass sie zu sehr auf die Männer fixiert und kaum in ihrer feministischen Entwicklung vorangekommen sind. Eine kollektive Kraft scheint kaum noch realistisch. «Wir sind den Ereignissen noch einige Jahre weiter hinterher gerannt, dann ist die autonome Frauenbewegung eingeschlafen – gefallen in einen Dornröschenschlaf», schlussfolgert eine Aktivistin der ersten Stunde.

*Dieser Artikel ist ein Auszug aus der Zeitschrift «Timult», die sich in der Nummer 1 mit den «Feministischen Erfahrungen der Zwischenzeit» an Hand der Erfahrungen vom Piraten-Radio, dem Unabhängigen Frauenverband (UFV), der Vollversammlungen der Hausbesetzerinnen beschäftigt. «Timult» – Eine feministische, autonome Zeitung, wo frau sich Zeit nimmt, um über die Kämpfe und ihre Geschichten zu reden, ihre Fragen, Hoffnungen, Zweifel, Schocks, Kräfte aufzuzeigen – mit dem Ziel der radikalen Veränderung unserer Welt.