DOSSIER: Die Roma und «wir»

von Roswitha Scholz WASTE TO WASTE, 15.12.2012, Veröffentlicht in Archipel 210

In Italien werden in der letzten Zeit verstärkt Pogrome gegen Roma veranstaltet. Seitdem Rumänien Anfang 2007 Mitglied der EU wurde, flüchten immer mehr Roma vor zunehmenden Diskriminierungen und äußerst schlechten Lebensbedingungen speziell für diese Gruppe nach Italien, wo sie am Rande der Städte wiederum unter Elendsbedingungen hausen. Der Reaktion des Mobs entspricht die Reaktion der rechten italienischen Regierung: Sie greift zu uralten Mitteln einer Bekämpfung der «Zigeunerplage», also zu Sondermaßnahmen, die ausschließlich die Gruppe der Sinti und Roma betreffen sollen.

Falsch wäre es jedoch, das neue antiziganistische Syndrom allein in Italien lokalisieren zu wollen, auch wenn diese Art des Rassismus dort aktuell die schlimmsten Blüten im westlichen Europa treibt. Antiziganistische Übergriffe und eine verstärkte antiziganistische Propaganda seitens der Medien sind seit den frühen 90er Jahren auch hierzulande beobachtbar 1, wobei die Massenvernichtung von Sinti und Roma im Nationalsozialismus eher nebenbei eingeräumt wird. Man denke nur als herausragendes Beispiel an die pogromartigen Ausschreitungen von Rostock-Lichtenhagen 1992 samt den Konsequenzen staatlicherseits. Da das Gedächtnis auch bei Linken hier erfahrungsgemäs etwas eingetrübt ist, zur Erinnerung: Am 24.9.92, einen Monat nach dem Pogrom in Rostock, der sich hauptsächlich gegen Roma-Flüchtlinge aus Osteuropa richtete, unterschrieb die Bundesregierung ein Abkommen mit der rumänischen Regierung. Darin wurde Rumänien verpflichtet, abgelehnte Asylbewer-ber_innen wieder aufzunehmen, insbesondere solche, die nicht im Besitz gültiger Ausweispapiere waren» 2. Diese Form der Diskriminierung hat eine lange Tradition, die kaum bekannt ist. Für Italien etwa ist das Phänomen des Antiziganismus weitgehend unerforscht 3. Ebenso hat in Deutschland mit seiner einschlägigen nationalsozialistischen Geschichte die Beschäftigung mit diesem Thema spät begonnen, und erst in jüngster Zeit liegen einige Ergebnisse vor.

Moderne und Antiziganismus

«Zigeuner» treten in Mitteleuropa zu Beginn des 15. Jahrhunderts in Erscheinung. Ende des 15. Jahrhunderts wurden sie erstmals in der Geschichte für vogelfrei erklärt, was von da an immer wieder von neuem geschah im Zusammenhang mit der Krise des Feudalismus und der Veränderungen in der frühen Neuzeit: «Das Zigeunerstereotyp erhält seine spezifische Färbung dadurch, dass seine Entwicklung mit der Durchsetzung territorialstaatlicher Verhältnisse und kapitalistischer Wirtschaftsgesinnung in Mitteleuropa zusammenfällt. Die vagierenden Teile der Bevölkerung gelten als politisch unkontrollierbar und ökonomisch unproduktiv. Sie werden deswegen mit hoheitlicher Unterdrückung und Verfolgung überzogen (...). Gleichzeitig verleiht ihnen das ideologische Gewicht des neuzeitlichen Arbeitsverständnisses mit der Gegenüberstellung von Arbeit und Müßiggang eine enorme Dynamik» 4.
Bis zur Aufklärung changierte das Bild des «Zigeuners» mit dem des Bettlers, Vagabunden und des «unflätigen» fahrenden Volks über-haupt. Im 18. Jahrhundert kam es dann zu einer eindeutigen «Rassifizierung» des Zigeunerstereotyps. Bekanntlich setzte sich in der Aufklärung die Meinung durch, dass nur die «weiße Rasse» zur Zivilisation fähig sei. «Zigeuner» wurden nun zu einer «primitiven Rasse» gemacht und Kant stellte fest, dass sie schon aufgrund ihrer «indischen Hautfarbe» keine Anlage zur Tätigkeit hätten 5. Soziale und rassistische Diskriminierung verschränkten sich in der Folge wesentlich im Zigeunerstereotyp. Gleichzeitig hatte dieses Stereotyp schon immer deutlich romantische Elemente. «Zigeuner» standen auf diffuse Weise für ungehemmte Freiheit 6. Nicht zuletzt über Musik und Tanz (Stichwort «Carmen») speiste sich diese romantische Dimension. Was die geschlechtliche Konnotation des Antiziganismus betrifft, so wurde die «Zigeunerin» als Gegenbild zur züchtigen Hausfrau, Ehefrau und Mutter konstruiert, die im Reproduktionsbereich komplementär zum Ideal des disziplinierten Lohnarbeiters gedacht wurde. Die «Zigeunerin» stellte man sich dabei in erster Linie als sexuell verführerisch und hexenhaft vor 7.

Antiziganistische Maßnahmen in Deutschland

Im 19. Jahrhundert galten «Zigeuner» als «Personen minderen Rechts», die pauschal behandelt werden könnten, wie etwa der «Fürstlich Reuß-Plauensche Criminalrath» Richard Liebich postulierte: «Wenn der Richter sonst allenthalben zu individualisieren hat, d.h. das zu behandelnde Subject erst in seiner Eigenthümlichkeit erforschen und kennen lernen, und danach den Gang seines Verfahrens bestimmen muss, so darf der eingeweihte, mit dem Wesen der Zigeuner bekannte Inquirent bei diesen ohne Gefahr generalisieren und keinen Fehltritt zu thun besorgen, wenn er alle mit gleichem Maße misst, (...) denn ein echter, wahrer Zigeuner ist der Typus aller anderen» 8.
Schon Mitte des 19. Jahrhunderts wurden systematisch Akten über «Zigeuner» angelegt. Seit Anfang des 20. Jahrhunderts sollten möglichst alle Sinti und Roma registriert werden, wobei Lichtbilder gemacht und Fingerabdrücke genommen wurden. 1926 trat das bayerische «Gesetz zur Bekämpfung von Zigeunern, Landfahrern und Arbeitsscheuen» in Kraft. Danach konnte jeder Sinto oder Rom, der keiner regelmäßigen Arbeit nachging, für zwei Jahre in einer «Arbeitsanstalt» untergebracht werden 9. Im Nationalsozialismus ging man vor dem Hintergrund rassistischer Annahmen davon aus, dass die «Zigeuner» ohnehin nicht mehr «reinrassig» seien, so der prominente NS-«Zigeunerforscher» Robert Ritter. Hervorgegangen aus der Paarung von Zigeunern mit «erbminderrassigen» Deutschen seien insbesondere die «Zigeunermischlinge» überwiegend asozial. Nach einem Gesetz von 1933 wurden Sinti und Roma zwangssterilisiert und für «sozial schwachsinnig» erklärt. Auch wurden die zunächst nur auf Juden bezogenen Nürnberger Rassegesetze auf diese Bevölkerungsgruppe ausgeweitet. 1935 ging man dazu über, Sinti und Roma in sogenannten «Zigeunerlagern» zu internieren 10.
1938 ordnete Himmler die «endgültige Lösung der Zigeunerfrage (...) aus dem Wesen der Rasse heraus» an. Dabei galten noch Personen mit nur einem «Zigeuner»-Urgroßelternteil als «Zigeunermischlinge» 11 Der systematische Mord an Sinti und Roma begann nach dem Angriff auf Polen 1939. Im Dezember 1941 wurde angeordnet, dass die «Zigeuner» in der Behandlung mit den Juden gleichgesetzt werden sollten. Entscheidungen wurden den Kommandeuren der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes überlassen, mit dem Resultat, dass viele Sinti und Roma sofort erschossen wurden. Im Juli 1944 fand die letzte Vergasung in Auschwitz statt, wohin sie seit Anfang 1943 aus zahlreichen Ländern deportiert worden waren.
In der Nachkriegszeit wurden Sinti und Roma häufig in heruntergekommenen Notunterkünften untergebracht und am Stadtrand angesiedelt. Sogenannte Zigeunerexperten wurden in die Amtstuben mit übernommen; ebenso wurde mit Beständen aus dem Aktenmaterial der NS-Zeit gearbeitet, die Sondererfassung der Sinti und Roma ging weiter. In verschiedenen Städten gab es Strategiepapiere, um den Aufenthalt von «Zigeunern» auf jeden Fall zu verhindern.
«Zigeunerwissenschaftler» wie Robert Ritter wurden nicht zur Rechenschaft gezogen bzw. freigesprochen und arbeiteten ungehindert weiter. Die Gutachter der Wiedergutmachungsanträge von Sinti und Roma waren die ehemaligen Mitarbeiter des Reichsgesundheitsamts. 1963 wurde mit Verspätung ein Urteil des Bundesgerichtshofes von 1956 aufgehoben, wonach Sinti und Roma erst seit 1943 und nicht schon seit 1938 rassistisch verfolgt wurden (womit endlich die rassistische Verfolgung und nicht «Asozialität» als Grund galt). In den 80er Jahren wurden neue Richtlinien erlassen und geringe Wiedergutmachungsleistungen gewährt, wobei zu sagen ist, dass manchen Sinti und Roma die deutsche Staatsbürgerschaft nicht mehr zurück gegeben wurde. 12 Voraussetzung für diese Wiedergutmachungsleistungen waren Protestaktionen der Sinti und Roma selbst, die auch dazu führten, dass sie mittlerweile als ethnische Minderheit in Deutschland anerkannt sind.

Antisemitismus, Antiziganismus und andere Rassismen

In der Moderne stehen «Zigeuner» für Ungebundenheit und Arbeitsverweigerung. Was ist nun aber der Unterschied zum Antisemitismus, der für ähnliches steht? Juden werden im Kapitalismus vornehmlich mit Macht, Herrschaft und zerstörerischer Zivilisation assoziiert; hingegen werden «Zigeuner» als minderwertig und naturverhaftet betrachtet, wenn sie an ein mögliches Leben jenseits der vermaledeiten Arbeitsgesellschaft erinnern: «Gemeinsam ist jedoch jener Mechanismus, welcher durch die Abgrenzung und die physische Verfolgung der «Nichtidentischen» eine vermeintlich psychische Entlastung ermöglicht und andererseits verdrängte Wünsche nach außen projizieren lässt. Dieser Mechanismus lässt sich als negativ gewendete Wunschvorstellung bezeichnen, negativ im Sinne eines sich im Hass auf «die anderen» manifestierenden Selbst -hasses (...). Was man selbst nicht haben kann, soll auch kein anderer besitzen.

Der Gedanke an Glück muss ausgetrieben werden»13.

Dabei ist hervorzuheben, dass es sich beim Antiziganismus im Gegensatz zum Antisemitismus um einen «romantischen Rassismus» (Wulf D. Hund) handelt. Es wäre sogar zu erwägen, inwieweit nicht «der Zigeuner» noch viel mehr den (verdrängten) Glücksvorstellungen der Massen, zumindest im Fordismus entsprochen hat als «der Jude». Vieles, was mit dem Zigeunerstereotyp in Verbindung gebracht wird, das gefühlvolle Volkslied, der Rummelplatz, der Zirkus, das «Auf- und Davon-Gehen», war gewiß den Glücksempfindungen der «einfachen Leute» in der fordistischen Phase näher als die Stereotype hinsichtlich der als reich und mächtig imaginierten Juden, die auch für eine fremde bürgerliche Kultur standen, selbst wenn sich der gemeinsame Nenner im Vorwurf des «arbeitsscheuen Parasiten» finden lässt. Im Gegensatz zu anderen «Wilden» (Indianern, Südseeinsulanern usw.), die ebenfalls mit Natur gleichgesetzt werden, ist der «Zigeuner» aber seit langem Bestandteil der eigenen Kultur und Gesellschaft, in der man lebt. Deshalb, und weil er sich im Gegensatz zum «Schwarzen» nicht versklaven lässt, wird er verfolgt; verbunden mit der immerwährenden Angst vor dem eigenen Abgleiten in die «Asozialität», an die der «Zigeuner» stets erinnert.

  1. Vgl. dazu die Untersuchung von Änneke Winckel (Antiziganismus, Münster 2002), die den Rassismus gegen Sinti und Roma bei staatlichen Stellen und bei der Mehrheitsbevölkerung im vereinigten Deutschland seit 1989 auf der Grundlage einer Auswertung von Zeitungen und Zeitschriften untersucht hat. Winckel zeigt, «wie präsent die Bilder von den «Zigeunern» in Deutschland sind und wie tödlich deren Folgen auch heute noch sein können» (Klappentext).
  2. Änneke Winckel, a.a.O., S. 52
  3. Vgl. dazu Wolfgang Wippermann: Fascismo? Non capisco. In: Jungle World 22/2008
  4. Wulf D. Hund: Romantischer Rassismus. In: Wulf D. Hund (Hrsg.), Zigeunerbilder, Duisburg 2000. S. 20 f.
  5. Nach: Wulf D. Hund, Das Zigeuner-Gen. In: Wulf D. Hund (Hrsg.), Zigeuner, Duisburg 1996, S. 28
  6. Vgl. Wulf D. Hund, Romantischer Rassismus, a.a.O.
  7. Dazu Genaueres bei Wolfgang Wippermann, «Doch allermeist die Weiber». In: Helgard Kramer (Hrsg.), Die Gegenwart der NS-Vergangenheit, Berlin 2000
  8. Zit. nach: Wolfgang Wippermann, Wie die Zigeuner, Berlin 1997, S. 114
  9. Vgl. Wolfgang Wippermann, Wie die Zigeuner, a.a.O., S. 113 f.
  10. Vgl. Wolfgang Wippermann, Auserwählte Opfer?, Berlin 2005, S. 32 ff.
  11. Vgl. Wolfgang Wippermann, Auserwählte Opfer? a.a.O., S. 34 ff.
  12. Vgl. Katrin Reemtsma, Sinti und Roma, München 1996, S. 126 ff.
  13. Holger Schatz, Andrea Woeldicke, Freiheit und Wahn deutscher Arbeit, Münster 2001,
    S. 123