DOSSIER : FLÜCHTLINGE. Verfolgungen in Belgien

von Gérald Hanotiaux (Ambassade Universelle), 13.10.2003, Veröffentlicht in Archipel 109

Diese Treibjagd ereignete sich in Saint-Gilles, eine von 19 Gemeinden, die zur belgischen Hauptstadt Brüssel gehören. Am 24. Juni 2003 telefoniert eine junge Frau mit der Universalen Botschaft (Ambassade Universelle) 1. Sie ist in Begleitung von drei ecuadorianischen Freunden, die einen Platz zum Schlafen suchen, denn sie sind völlig eingeschüchtert und trauen sich nicht nach Hause.

Im Morgengrauen steht die Bundespolizei vor deren Tür. Uns wird sehr schnell klar, dass es sich um eine erneute Razzia gegen die Sans-Papiers in dieser Gemeinde handelt, ein Polizeieinsatz, der seit einigen Jahren regelmäßig an der Tagesordnung steht. Nach und nach erfahren wir mehr und müssen feststellen, dass mehr als 80 Lateinamerikaner aus dem Viertel verschwunden sind.

Um 7.15 Uhr schlägt die Polizei in der rue de la Perche Nr. 17 die Haustür ein. Die Leute werden umgehend mitgenommen, oft nur mit einem Schlafanzug bekleidet. Die Wohnungen werden verwüstet und einige Personen auch geschlagen. Man bringt die Leute zuerst aufs Kommissariat, um sie dann auf die verschiedenen geschlossenen Zentren zu verteilen 2.

Paare werden bisweilen getrennt und in verschiedenen Zentren untergebracht; diejenigen Personen, die der Razzia entgehen konnten, haben keine Nachricht von ihrer kranken Mutter, ihrem Bruder oder Cousin. Polizisten in Zivil fangen die Leute, die in ihr Zuhause wollen, vor der Tür ab. Die Türschlösser wurden ausgewechselt und eine Bekanntmachung an die Türen geheftet: "Schlüssel und persönliche Sachen sind beim Kommissariat abzuholen!"; zum Glück geht niemand dorthin. Etliche werden in den folgenden Stunden ausgewiesen, was bleibt, sind leere Wohnungen, in denen das pulsierende Leben urplötzlich aufgehört hat. Die Schuhe noch in Brüssel und mit beiden Beinen schon in Quito. Die Polizeioperation umfasst mehrere Wohnhäuser, die alle einem Universitätsprofessor gehören, der für das "Ausbeuten von Menschen" strafrechtlich verfolgt wird. Offiziell kämpft der Staat gegen skrupellose Personen, die zu skandalösen Preisen Ausländer in kleinsten, ungesunden Wohnungen unterbringen. So zumindest erfährt es die belgische Bevölkerung in den abendlichen Fernsehnachrichten. Dagegen wird mit keinem Wort auf das Schicksal der Opfer dieser Ausbeutung eingegangen. In den darauf folgenden Tagen informieren wir die Einwohner des Viertels über die Vorfälle und erleben oft dieselbe Reaktion: "Was, so etwas passiert bei uns? Im Jahr 2003?" Ja, und aus diesem Grund halten wir es für wichtig, sowohl dieses Problem als auch die Diskussion über die Reaktionen an die Öffentlichkeit zu bringen.

Zu einer Zeit, in der die Medien uns mit Debatten zu mehr oder wenigen seichten Fragen überschwemmen, ist der Gedankenaustausch zur Gestaltung des Lebens in der Gesellschaft fast völlig aus der Öffentlichkeit verschwunden. Dieses kollektive Leben soll sich ohne uns, hinter geschlossenen Türen von regierungsfreundlichen Organisationen regeln. Es ist folglich notwendig, den öffentlichen Platz wieder als konkreten politischen Ort zu definieren und zugleich zu zeigen, dass wir es ablehnen, in einer Gesellschaft zu leben, in der solche Polizeiaktionen möglich sind.

Eine Einladung auf Französisch, Spanisch und Arabisch landete in den Briefkästen der Bewohner und wurde per E-Mail verschickt. Sie lautet folgendermaßen:

"Wir, Bewohner und Nachbarn von Saint-Gilles, stellen uns Fragen zur:

  1. Mittäterschaft der Gemeinde bei einer massiven Razzia (nicht der ersten); War die Gemeinde über die Operation der Bundespolizei auf dem Laufenden und wenn nicht, wie ist es möglich, dass die Bundespolizei handelt, ohne die Gemeinde davon in Kenntnis zu setzen?

  2. Welches ist die Rolle der Medien, die kaum von einer Verletzung der elementaren Menschenrechte und von Willkürakten im Laufe der Razzia sprachen?

  3. Wie kann Saint-Gilles, die sich rühmt, eine multikulturelle und friedliche Gemeinde zu sein, derartige Polizeiaktionen, die Angst und Unsicherheit verursachen, bei sich zulassen? Damit es nie wieder zu solchen Razzien in unserer Gemeinde kommt, treffen wir uns und tragen Ideen für unsere Aktionen, Anliegen, Spruchbänder, Vorschläge bei unserer ersten Nachbarschaftsversammlung gegen die Razzien in Saint-Gilles zusammen.

Somit ist eine Tür geöffnet, und wer will, kann sich hineinbegeben. An besagtem Tag erfahren wir, dass den Angestellten der Gemeinde in einer Weisung ihrer Behörden "von der Teilnahme an dieser Versammlung eindringlich abgeraten wird". Etliche Verantwortliche von sozialen Vereinigungen verteilten dennoch die Einladung und werden seitens ihrer Vorgesetzten mit Ermahnungen zu rechnen haben.

Am 9. Juli um 18 Uhr fand die erste Versammlung an einem zentral gelegenen Platz der Gemeinde in französischer und spanischer Sprache statt. Zwischen 200 und 250 Personen nahmen daran teil. Neben Opfern von Razzien, die aufgrund der anhaltenden Bearbeitung ihrer Gesuche wieder freigelassen wurden, waren auch deren Bekannte, Nachbarn vom Viertel sowie der ecuadorianische und peruanische Konsul gekommen. Verschiedene Konsulate von lateinamerikanischen Ländern versuchen in den folgenden Tagen, präzise Informationen über die Praktiken des belgischen Staates gegenüber ihren Staatsangehörigen zu bekommen. Gemeinsam denken sie über die einzuleitenden Maßnahmen nach und protestieren besonders beim Außenminister bezüglich der Rechtsverletzungen während des Polizeieinsatzes. Nach letzten Informationen haben sie bis jetzt keine Antwort erhalten.

Bei den Diskussionen in der Versammlung geht es vor allem um ganz konkrete Schritte wie die Wiederbeschaffung der in den Wohnungen zurückgelassenen Sachen, den Aufbau von Unterbringungsstrukturen für Sans-Papiers in Notfällen sowie einer Telefonkette, die bei Razzien in der Gemeinde ein schnellstmögliches Handeln zulässt. Zugleich diskutierte die Versammlung über die Durchführung einer Demonstration in Saint-Gilles, die eine Woche später, am 16. Juli, stattfand.

Gegen 17 Uhr trafen die Menschen am Sammelpunkt ein. Ein Polizist in Zivil hinderte sie daran, den Platz zu verlassen. Eine Demonstrationserlaubnis war eingereicht worden, doch die Vertreter des Bürgermeisters meinten: "In einem Rechtsstaat mit Regeln müssen Sie eine Woche im voraus die Anfrage einreichen und die Antwort abwarten." Ein Rechtsstaat, in dem man vor dem Klingeln die Türen einschlägt! Schlussendlich kann nach einstündiger Verhandlung und zweifelsohne aufgrund des bestimmten Auftretens der Demonstranten sowie der eindrucksvollen Präsenz von 40 Trommlern die Demonstration endlich beginnen. Innerhalb weniger Minuten wächst die Gruppe an und erreicht schließlich 1.000 Teilnehmer. Der Demonstrationszug durchzieht die Straßen von Saint-Gilles, vorbei an etlichen Häusern, die von der Razzia betroffen waren. Deren Bewohner berichten von der Art und Weise, wie sie am 24. Juni behandelt wurden und unter welchen Bedingungen sie leben. Für die anwesenden lateinamerikanischen Gemeinschaften ist klar: "Wir leben hier und werden weiterhin hier leben. Diese Gewalt und Demütigung nehmen wir nicht länger hin!"

Im Verlauf des Sommers fanden jeden Freitag am gleichen Ort Versammlungen statt, um diese Thematik weiter zu entwickeln. Der Vorteil dieser Art von Zusammenkünften ist, die gängigen Praktiken der Behörden, die diese versteckt halten wollen, mit größtmöglicher Transparenz aufzuzeigen und eine Öffnung in alle Richtungen anzubieten.

Versammlungen im engen Rahmen und unter Ausschluss der Öffentlichkeit zu vermeiden, führt ein ganz anderes Kräfteverhältnis zu Behörden und Repression herbei. Mitunter ist es gar interessant, dass ein Polizist dabei ist und weiß, dass wir in der Lage sind, im Falle eines neuerlichen Polizeieinsatzes schnell zu mobilisieren und am Ort des Geschehens einzutreffen.

Es ist an der Zeit, vor allem für diese gefährdeten Bevölkerungsgruppen, den ständigen Debatten um Sicherheit, in denen die Straße als unsicherer Ort aufgezeigt wird, entgegenzutreten.

Die Personen mit ungeregeltem Aufenthaltsstatus sind offen und wollen mit den Leuten, die denselben Lebensraum teilen wie sie, über ihre Existenzbedingungen diskutieren.

Die Nutzung des öffentlichen Platzes muss weiter behauptet werden; die Idee ist reif unter anderen Bedingen sowie zu anderen sozialen Fragen bezüglich der Kollektivität wieder aufgenommen zu werden. Beispielsweise fanden im Sommer Versammlungen verbündeter Nachbarn auch in einem anderen Brüssler Quartier statt: Vor einer Kirche, die von mehreren Hundert Afghanen besetzt war und die sich im Hungerstreik befinden, um ihre Regularisierung zu erkämpfen. Aber wir sind nicht über alle Polizeiaktionen informiert. Anfang 2003 berichtete der Innenminister stolz von 14.922 durchgeführten Ausweisungen im vergangenen Jahr. Das macht ungefähr 41 pro Tag. Woher kommen diese Menschen? Vor allem von den Razzien in unseren Häusern, unseren Straßen und unseren Vierteln.

  1. Die Universale Botschaft befindet sich im Diplomatenviertel Brüssels. Die leerstehenden Räumlichkeiten der ehemaligen somalischen Botschaft sind seit dem 8. Januar 2001 von einer Gruppe Sans-Papiers unterschiedlichster Nationalitäten besetzt. Es soll eine Vertretung der Migranten und ihrer Rechte sein. Informationen unter: http://www.universal-embassy.be

  2. Zentren zur Gefangenhaltung in Belgien