DOSSIER ISRAEL: Heuchlerische Doppelmoral

von Dan Salomon (2), 16.09.2014, Veröffentlicht in Archipel 229

«Tzahal ist weltweit die Armee mit der höchsten Moral». Ein Satz, den sich jeder offizielle Sprecher Israels vorsagt, sobald er morgens aufwacht, und unentwegt wiederholt, bis er abends einschläft. Diesen Satz halten die meisten Israelis für eine absolute Wahrheit.

Aber kann eine «höchst moralische» Armee noch Moral haben, wenn sie in unmoralische Praktiken verwickelt ist? Kann ein Sklavenhändler mit dem höchst komfortablen Laderaum seines Schiffes prahlen, wenn er darin Af-rikaner_innen in die «Neue Welt» transportiert?
Israel sagt, es habe die Besetzung von Gaza im August 2005 mit dem einseitigen Abzug beendet, geschickt gelenkt vom Kriegsverbrecher Ariel Sharon. Aber in Wahrheit kontrolliert Israel dort die Luft-, See- und Landesgrenzen, die Gaza zum größten Gefängnis in der Geschichte der Menschheit gemacht haben. Seit General El Sisi in Ägypten durch einen illegalen Militärputsch im Juli 2013 die Macht übernahm, ist Gazas letzter Grenzübergang hermetisch abgeriegelt. Das Gefängnis wurde zum Hochsicherheitstrakt.
Die israelische Bevölkerung hat zu Palästinenser_innen keinen Kontakt, sie kennen sie nur aus ihrem Militäreinsatz in den I.D.F.– Israel Defense Forces (Israelische Verteidigungsstreitkräfte), aus Selbstmord-Bombenattentaten, Schießereien und anderen Terroraktionen – in ihrer Wahrnehmung werden die Paläs-tinenser_innen entmenschlicht. Wenn aber die von der anderen Seite Untermenschen sind, ist es kein Problem mehr, Kinder und Frauen zu töten, bei dem Versuch, einen vermeindlichen Terroristen auf einem Moped in der Innenstadt mit einer Drohne zu treffen. Diese «Entmenschlichung» funktioniert bestens, wenn man sie mit Medienpropaganda und den extrem rassistischen Ansichten kombiniert, die in der israelischen Bevölkerung verbreitet sind. Was in Israel als Mitte-Rechts-Politik durchgeht, lässt Marine Le Pen wie ein nettes, katholisches Schulmädchen aussehen. Die einzigen Staaten Europas mit extremen Rechtsparteien, die sich mit der Rechten in Israel messen können, sind vielleicht die griechische Partei der Strahlenden Morgenröte und Ungarns Jobbik-Partei.
Rache Nach der Entführung der drei jungen Israelis gab es eine Welle des antiarabischen Hasses. Der Mob füllte täglich die Straßen Jerusalems, schrie «Tod den Arabern» und hielt Ausschau nach Palästinenser_innen, um sie zu attackieren. Palästinenser_innen wurden als wilde Bestien dargestellt und das ganze Land betete geeint dafür, dass die Jungen sicher und gesund gefunden werden. Aber vor allem: Israel beschuldigte die Hamas offiziell, für die Entführung verantwortlich zu sein. Sie hatten keine Beweise zu bieten, es genügte, dass der allwissende, allmächtige Geheimdienst Shin Bet behauptete, es wäre die Hamas gewesen. Als man die Leichen der drei jungen Männer fand, wurden aus Worten Taten. Eine Gruppe junger religiöser Israelis entführte, tötete und verbrannte einen 16-jährigen Palästinenser. Natürlich gab es einen offiziellen Aufschrei gegen diese barbarische Rache, aber in den digitalen Medien des Internets war die Reaktion ungetrübte Freude. Im Internet reagierten die Leute auf allen Nachrichtenseiten mit ihren Facebook-Accounts unter echten Namen so, als wäre etwas Großartiges passiert. Entmenschlichung und Hass hatten schließlich Ergebnisse gezeigt. Wenn prominente Rabbiner ihren Anhänger_innen erklären, dass das Leben eines Nicht-Juden nicht den Fingernagel eines Juden wert sei, wenn rechte Ideologie mit religiösen Dogmas vermischt wird, entsteht ein gefährliches, giftiges Gebräu.
Der Hass wird geschürt Der Hass richtet sich jetzt nicht nur gegen die Araber_innen, sondern gegen alle, die nicht auf der Linie des rechten Rudels liegen. Ein linker Intellektueller ist noch schlimmer als ein Araber. Wer es wagt, Israel in Kriegszeiten zu kritisieren, ist automatisch ein Verräter «und soll nach Gaza leben gehen». Ist es eine linke Frau, sollte sie «von muslimischen Horden vergewaltigt werden.» Friedliche Protestierer_innen und Antikriegs-Demonstrant_innen werden körperlich attackiert. Hass-Foren im Internet forschen aus und verfolgen alle Menschen, die für Gegner_innen Israels gehalten werden.
Ich rede darüber, dass die Palästinenser_innen von der israelischen Bevölkerung nicht als Menschen behandelt werden. Als Israeli kenne ich vor allem diese Seite des Problems. Das Gleiche passiert aber auf Seiten der Palästinenser_innen, oft sogar systematischer. Falls dieser Kreislauf nicht baldmöglichst gestoppt wird, werden wir nie ein Klima schaffen können, das die Beendigung des beidseitigen Blutvergießens ermöglicht. Tatsächlich wird es immer schwieriger, sich eine friedliche Lösung dieses Albtraums vorzustellen.
Was tun? Gibt es etwas, das gegen diese Katastrophe unternommen werden könnte? Es sieht nicht danach aus, dass westliche Regierungen irgendetwas Ernsthaftes gegen die israelische Aggression unternehmen werden. Die USA sprechen ständig davon, beide Seiten zu zwingen zu wollen, erwachsen zu werden und einen Weg zur Vollendung des Friedensprozesses zu finden, aber es sieht nicht so aus, als würden sie damit weiter kommen. Die Vereinten Nationen mit Ländern wie Iran, Pakistan und China, wollen Israel moralische Lehren erteilen – das ist ein Hohn! Einige mutige südamerikanische Staaten wie z.B. Brasilien, Chile, Ecuador und Peru haben ihre diplomatischen Beziehungen mit Israel wegen des jüngsten Blutvergießens eingeschränkt, aber wie lange wird diese diplomatische Distanzierung von der zionistischen Entität Israel halten? Niemand kann das voraussagen.
Uns bleibt die Möglichkeit der Grasswurzelaktionen: BDS – Boycot Divesment Sanctions1 (Boykott, Entzug von Geldmitteln, Sanktionen). Jeder ist frei, zu interpretieren, was er sich unter BDS vorstellt und wie weit er persönlich sein Leben danach richtet. Die BDS - Bewegung hat in der Kampagne gegen Südafrika und sein Apartheid - Regime gezeigt, was man damit bewirken kann. Als weiße Südafrikaner_innen sahen, wie sie vom Rest der Welt der Weißen ausgestoßen waren, begriffen sie, dass man für das politische System, das man wählt, einen Preis zahlen muss.
Der Zweck und die Mittel Zionismus und Apartheid sind nicht dasselbe, aber sie haben ausreichend viel gemeinsam, was sie beide disqualifiziert. Als Israeli schäme ich mich immer, wenn ich an die Zeit denke, als Israel der stärkste Alliierte dieses zutiefst entwürdigenden Systems war. Der jüdische Staat auf der Suche nach seinem Platz in der Zeit nach dem Holocaust, Seite an Seite mit einer Entität des Weißen Suprematismus, dessen einziges Dogma auf dem rassischen Unterschied zwischen den minderwertigen Schwarzen und den überlegenen Weißen bestand. Könnten Sie sich die Situation vorstellen, dass der Präsidenten Südafrikas PW Botha einen offiziellen Besuch im Yad Va Shem Holocaust Museum macht und dabei eine Träne im Augenwinkel zerdrückt? Das ist ein Beispiel für die zionistische Logik: Jeder, der uns als möglicher Verbündeter helfen kann, kommt in Frage, egal, was er sonst ist.
All das macht mir klar, wie wichtig es ist, zwischen Antizionismus und Antisemitismus zu unterscheiden. Seltsamer Weise gibt es antisemitische Strömungen sowohl im rechten wie im linken politische Spektrum vieler Länder. Klassiker wie «die Juden haben jede Menge Einfluss auf die Medien und das Geldwesen» kann man überall hören. Sowohl Wissenschaftler_innen wie Ver-schwörer_innen behaupten, dass die jüdische Lobby in Amerika enormen Einfluss auf die US-Regierung hat. Es dient ihnen als Erklärung dafür, warum die USA Israel so maßlos unterstützen. Aber was sie in dieser Gleichung gerne auslassen, ist die blinde Unterstützung Israels durch den extrem mächtigen rechten christlichen Flügel, insbesondere der evangelikalen Gruppe. Was die evangelikalen Priester ihren Anhängern Tag für Tag sagen, ist, dass nur ein jüdischer Staat im Heiligen Land die Rückkehr Jesu auf die Erde und die endzeitliche Entscheidungsschlacht von Armageddon möglich machen wird, nach der alle in Ewigkeit mit Jesus und seinem Vater im Himmel leben werden. Amen. Geht der jüdische Staat unter, dann erweist sich all dieser Unsinn als falsch und ihr Glaubenssystem wird bis in die Grundfesten erschüttert.
Der moderne Antisemitismus hat hauptsächlich zwei Gesichter: Die klassische europäische Variante, die auf die Christianisierung des Römischen Imperiums zurückgeht, und der von Hass getriebene islamische Antisemitismus, wie er weltweit in den Moscheen gepredigt wird. Wann immer der israelisch-palästinensische Konflikt aufflammt, was üblicherweise in einem zwei- bis dreijährigen Zyklus passiert, beobachten wir das in beiden Formen. Das richtet sich dann nicht ausschließlich gegen Juden, wir sehen das stets auch beim antimuslimischen Rassismus, wenn jihadistische Gruppen in aller Welt ihre Attacken reiten. Anlässlich der letzten Wahlen in Frankreich reiste ein Mitglied des Front National im Rahmen der Wahlkampagne nach Israel, in der Hoffnung auf Stimmen französischer Juden, die in Israel leben. Jüdische Stimmen für den FN klingen wie ein Witz, aber bei der sich verbreitenden anti-islamischen Einstellung bei Teilen der französischen Bevölkerung ist das eine Realität.
Heuchlerische Doppelmoral Deshalb mache ich, wenn ich zu BDS gegen Israel aufrufe, einen sehr deutlichen Unterschied zwischen diesen -ismen. Antisemitische Ideen und die antizionistische Kampagne miteinander zu vermengen ist kontraproduktiv und gefährlich. Antisemitismus ist eine Doktrin des Hasses und des Rassismus, antizionistische Akte hingegen richten sich gegen eine grundsätzlich falsche, rassenbasierte Regierungsform in Israel. Dass dem Zionismus ein rassistischer Geruch anhaftet, gibt niemandem das Recht, ihn mit einer anderen Art von Rassismus zu bekämpfen. Israelische Kampfhandlungen als «ethnische Säuberung» und «Völkermord» zu bezeichnen verfälscht die Bedeutung dieser Begriffe und macht sie unbrauchbar für Fälle, in denen es darum geht, tatsächliche Völkermorde oder ethnische Säuberungen zu beschreiben.
Wann immer Israel kritisiert wird, verteidigt es sich erst einmal damit, die antisemitische Karte auszuspielen. Aber wenn es der Welt sein Vorgehen erklärt, bedient es sich paternalistischer Argumente, denen zufolge nur Israel weiß, wie «diese Araber» sind, und prophezeit, dass in einer Art Jüngstem Gericht muslimische Horden die europäische Zivilisation endgültig einnehmen werden. Erst dann werden die naiven Europäer_innen die wahre Natur der muslimischen Welt begreifen. Dieses heuchlerische doppelte Maß, erst Aktionen gegen Israel als Ergebnis antijüdischer Vorurteile zu diskriminieren, aber dann alles, was Israel unternimmt, mit antimuslimischen Vorurteilen zu verteidigten, ist genauso falsch, wie antisemitische und antizionistische Ideen in einen Topf zu werfen.
Israel ist bei weitem nicht der einzige Staat, der schreckliche Dinge macht. Bei weitem auch nicht der schlechteste Staat der Welt. Aber das bedeutet nicht, dass wir ihm durchgehen lassen müssen, was er den Palästinen-ser_innen in den letzten 47 Jahren antat, denn schließlich und endlich kommt es nicht darauf an, wie sehr ich Hamas und jegliche anderen extrem religiösen Gruppen hasse. Gaza muss aus der Gefangenschaft, in der es von Israel und Ägypten gehalten wird, befreit werden. Das liegt klar auf der Hand!

  1. Es gibt BDS-Komitees sowohl in Deutschland, Österreich als auch der Schweiz mit jeweiligen Internetseiten. Aufgerufen hat zum Boykott im Jahr 2005 eine breite Bewegung in den palästinensischen Gebieten.: www.bdsmouvement.net.
  2. Dan Salomon ist Israeli und im freiwilligen Exil in Frankreich.