DOSSIER LANDWIRTSCHAFT: Das kalifornische Modell

von Jean-Pierre Berlan, 04.05.2002, Veröffentlicht in Archipel 93

Landwirtschaft, die viele Arbeitskräfte benötigt, hat eine lange Geschichte: Vor der Mechanisierung wanderten zahlreiche Saisonarbeiter von einer Region zur anderen, um Weizenfelder zu mähen, Rüben zu verziehen oder Wein zu ernten. In Kalifornien wurde mit der Einfuhr ausländischer Arbeitskräfte für die Produktion von Obst und Gemüse in riesigen landwirtschaftlichen Betrieben seit über hundert Jahren ein System entwickelt, das Europa heute als Vorbild dient.

Kalifornien hatte, wie viele von Spanien kolonisierte Länder, eine äußerst ungleiche, latifundistische Struktur des Grundbesitzes geerbt: Als das Land den Vereinigten Staaten beitrat, verfügten 550 Großgrundbesitzer hispano-mexikanischer oder mexikanischer Herkunft über 30 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche. Sie besaßen das leicht zugängliche Land, zum Beispiel entlang der Flüsse. Mit der Unterschrift unter den Beitrittsvertrag, mit dem sich Kalifornien und andere Länder der Souveränität der Vereinigten Staaten unterstellten, wurden Besitzgarantien gegeben, die mit der Ankunft der Yankee-Siedler in ihren Planwagen in Vergessenheit gerieten. Die Eigentumsrechte wurden durch eine Reihe völlig skandalöser Vorgänge mit Füßen getreten. Zum Beispiel
Kalifornien hatte, wie viele von Spanien kolonisierte Länder, eine äußerst ungleiche, latifundistische Struktur des Grundbesitzes geerbt: Als das Land den Vereinigten Staaten beitrat, verfügten 550 Großgrundbesitzer hispano-mexikanischer oder mexikanischer Herkunft über 30 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche. Sie besaßen das leicht zugängliche Land, zum Beispiel entlang der Flüsse. Mit der Unterschrift unter den Beitrittsvertrag, mit dem sich Kalifornien und andere Länder der Souveränität der Vereinigten Staaten unterstellten, wurden Besitzgarantien gegeben, die mit der Ankunft der Yankee-Siedler in ihren Planwagen in Vergessenheit gerieten. Die Eigentumsrechte wurden durch eine Reihe völlig skandalöser Vorgänge mit Füßen getreten. Zum Beispiel wurden gegen die Grundeigentümer dieser riesigen Territorien systematisch Prozesse angestrengt: Das Gelände war schlecht vermessen, und so waren endlose Prozesse ein einfaches Mittel, mit dem man die hispano-mexikanischen Latifundisten in den Ruin trieb. Eine andere Methode bestand darin, ihnen Kredite mit 5 Prozent Zinsen pro Tag anzubieten, denn sie konnten nicht allzu gut rechnen. So verwandelte sich ein am ersten Januar ausgeliehener Dollar in einige Millionen Dollar Schulden am Ende des Jahres. In kurzer Zeit waren die Großgrundbesitzer finanziell am Ende.
Diese Gebiete gelangten also sehr schnell unversehrt in die Hände der amerikanischen Siedler, die sich nun mit der Frage auseinandersetzen mussten, wo die Arbeitskräfte herkommen sollten. In der Zeit des Goldrausches strömten Individuen mit Unternehmergeist aus aller Welt nach Kalifornien, um schnell reich zu werden, aber nicht, um sich als Arbeitskraft zu verkaufen. Die Zeitung der Grundeigentümer, also der zukünftigen Latifundisten, schreibt zum Beispiel 1848, dass es keine Arbeiter gibt. Dazu ein amerikanischer Historiker: „Das Land war voller potentieller Unternehmer, aber außer den Indianern und einigen aus dem Süden importierten Negern fehlten Arbeiter, die bereit gewesen wären, sich für einen Lohn zu verkaufen.“ Die Zeitung ‚Der Kalifornier‘ weiß Abhilfe: „Wenn die weißen Arbeiter für die Landwirtschaft zu teuer sind, können aus China oder anderswoher Arbeiter importiert und unter Vertrag genommen werden; gut behandelt, werden sie bei niedrigen Löhnen brav arbeiten.“
Wie sollte man diesen Arbeitsmarkt einrichten? Mit Rassismus. Der Goldrausch zieht auch Massen von chinesischen Arbeitern an, die für den Bau der Eisenbahn gebraucht werden. Die Chinesen werden in dieser Zeit gut empfangen, weil man hofft, dass sie die Arbeitskräfte stellen, auf die alle warten. Aber die ihnen entgegengebrachte Herzlichkeit dauert nicht lange an, denn schnell stellt sich heraus, dass auch die Chinesen in die Goldminen wollen und keine Quelle von Arbeitskräften für Landwirtschaft und Industrie darstellen. Anfang 1850 beginnt die antichinesische Agitation mit Morden, Lynchjustiz und Plünderungen der chinesischen Goldsucherlager. 1854 legitimiert der Oberste Gerichtshof all diese Ausschreitungen: Die Chinesen seien eine Art Indianer (ein ethnologisch bemerkenswertes Argument) und ihre Zeugenaussagen seien nichts wert, wenn sie gegen Personen der weißen Rasse gerichtet sind. 1855 schicken die amerikanischen Minenarbeiter folgende Petition an die kalifornische Nationalversammlung: „Der amerikanische Arbeiter fordert das Privileg und das exklusive Recht, die immensen Goldminen unseres Staates zu besetzen und auszubeuten. Er erachtet die Goldminen als das legitime Erbe der armen Arbeiter der Vereinigten Staaten. Die einzige Kategorie von Arbeitern, mit denen er bereit ist, dieses reiche Erbe zu teilen, sind seine Landsleute, die er wie Brüder aufnehmen wird (...) Der Ausschuss der Nationalversammlung ist der Meinung, dass der einzige Ort in unserem Staat, wo die Chinesen nutzbringend für das Land eingesetzt werden können, die Urbarmachung der Sumpfgebiete sei. Glaubt einer von Euch, dass sie sich eines Tages freiwillig auf diesem Land ansiedeln werden, um im Morast, umgeben von Mücken und Kröten, zu schuften, solange sie das Privileg genießen, in unseren Minen zu arbeiten und die reine Luft unserer Berge zu atmen ?“ Zu diesem Zeitpunkt sind die Chinesen also keine Arbeitskräfte, die man ausbeuten kann. Vor allem die Indianer werden als Zwangsarbeiter eingesetzt: Wenn der Sheriff in den Distrikten proklamiert, dass man vagabundierende Indianer gefunden hat, reicht das aus, um sie festzunehmen und zu zwingen, in den landwirtschaftlichen Betrieben zu arbeiten, die in dieser Zeit entstehen. Eine Katastrophe für die Indianer: Die Zwangsarbeit bei den Weißen läßt sich nicht mit ihrer nomadisierenden Lebensweise vereinbaren. Sie verhungern. Zusätzlich sind sie wie immer Opfer von Lynchjustiz, Morden und Plünderungen; das übliche Schema.
Ein anderes Beispiel: 1854 prophezeit der ‚Kalifornische Farmer‘ großartige Reis-, Baumwoll- und Zuckerkulturen, weil man festgestellt hat, dass hier alles wächst. Die Zeitung kommentiert diese Perspektiven wie folgt: „Kalifornien ist dazu bestimmt, ein großer Produzent von Baumwolle, Reis, Tabak, Zucker und Kaffee zu werden; aber wo soll man die Arbeiter finden? Die Amerikaner werden unseren Boden nicht bearbeiten, dieses Sumpfland, nicht unsere Reisfelder und Baumwollpflanzungen; sie werden nicht Ernten hervorbringen, die Sklavenarbeit erfordern. Im Süden machen diese Arbeit Sklaven, aber die Sklaverei gibt es hier nicht. Wo sollen wir Arbeiter finden? Die Chinesen! Und alles deutet darauf hin: Die große chinesische Mauer muss zerstört werden und diese ausgebildete Bevölkerung, die mit dem Anbau dieser Kulturen vertraut ist, muss für Kalifornien das werden, was der Afrikaner für den Süden ist. Das ist der Wille des Allmächtigen und kein Mensch kann es verhindern.“
Wie wird das Modell der kalifornischen Landwirtschaft in die Tat umgesetzt? Das Datum kann mit großer Genauigkeit genannt werden: 1869 kommt das ‚Treffen des Proletariers mit dem Mann des Geldes‘ zustande, um einen Ausdruck von Marx zu gebrauchen. In diesem Jahr wird die transkontinentale Eisenbahn fertiggestellt. Plötzlich werden 10.000 bis 15.000 Kulis auf dem Arbeitsmarkt freigesetzt, die von den Eisenbahn-Baugesellschaften ins Land geholt worden waren. Gleichzeitig wird Kalifornien von einer beispiellosen Krise erschüttert, weil die Transportkosten nur noch einen Bruchteil von dem betragen, was sie einmal waren. Die kalifornische Industrie, die im Schutz der hohen Transportkosten aufgeblüht war, bricht zusammen. In den Städten entsteht eine neue Welle antichinesischer Agitation. Die zahlreichen Chinesen, die dort Zuflucht gefunden haben, werden verjagt. Außergewöhnliche Methoden werden zu diesem Zweck angewandt: Pogrome, die sich in antichinesischen Aufständen äußern; eine ganze Reihe von Maßnahmen, wie etwa die Einführung von Hygiene-Vorschriften in Bezug auf das Luftvolumen: Alle Behausungen, in denen die Bewohner nicht über eine bestimmte Zahl von Kubikmetern Luft zum Atmen verfügen, sind gesundheitsschädigend und ihre Bewohner werden ausgewiesen. All diese Praktiken erlauben es, einen großen Teil der chinesischen Bevölkerung aus den großen Städten zu vertreiben. Die Chinesen finden sich auf dem Land ohne Mittel zum Überleben wieder; sie werden die ersten Arbeitskräfte für die kalifornische Landwirtschaft.
Bald danach endet die chinesische Immigration und wird, beginnend mit den Jahren 1892/93, durch eine Welle japanischer Einwanderer ersetzt. Auch ihre Geschichte ist interessant. Zunächst werden die japanischen Immigranten mit sehr viel Wohlwollen aufgenommen. Schnell stellt sich heraus, dass die Japaner, die in den USA ankommen, zu den gebildeten Migranten zählen: Sie sind praktisch alle alphabetisiert und machen sich sehr schnell selbständig. Die amerikanischen Großgrundbesitzer sind außer sich vor Entrüstung, dass die Japaner sich niederlassen und ihnen auf dem Arbeitsmarkt zur unlauteren Konkurrenz werden. Sie versuchen, sich der Japaner zu entledigen ... Nach dem Angriff auf Pearl Harbour 1941 werden die Japaner deshalb enteignet, nicht aber die Deutschen und Italiener. Man lässt den japanischen Eigentümern drei Tage Zeit, ihre Ländereien zu verkaufen, dann werden sie in Konzentrationslagern interniert. Manche haben das Glück, später auf den Landgütern arbeiten zu dürfen, die ihnen von den Amerikanern zu Niedrigstpreisen abgekauft wurden. Nach dreissig bis vierzig Jahren haben die USA schließlich eingesehen, dass sie den Japanern Unrecht getan haben. Die Japaner wurden um ihre Ländereien gebracht, und es würde mich wundern, dass man ihnen die Güter rückerstattet! Sie werden „for ever“ in den Händen der Amerikaner bleiben! Auf die Japaner folgte eine kleinere Immigrationswelle von Hindus und eine bedeutendere von Philippinos. Das waren die berühmten ‚Honkis‘ und Harkis’ in Steinbecks Roman ‚Früchte des Zorns‘.
Seit dem Zweiten Weltkrieg sind es die Mexikaner, die einwandern. Die mexikanischen ‚braseros‘ kamen im Rahmen eines Programmes, das gigantische Ausmaße annahm und bis zu 500.000 mexikanische Arbeiter ins Land ließ. In der Form illegaler Einwanderung setzt sich diese Bewegung heute weiter fort. Die Mauer, die Kalifornien von Mexiko trennt, ist allen bekannt. Aber diese Mauer beunruhigt unsere Medien nicht, denn es handelt sich selbstverständlich um eine demokratische Mauer – wie die Mauer des Schengener Abkommens – und es wäre unschicklich, sie mit der Berliner Mauer zu vergleichen.

Jean-Pierre Berlan ist Wissenschafter am Landwirtschaftlichen Forschungsinstitut INRA, Frankreich.