DOSSIER TÜRKEI: Schweigen brechen

von Nicholas Bell EBF, 10.10.2010, Veröffentlicht in Archipel 185

Anfang Juli begaben sich Martina Widmer und Nicholas Bell in die, wo sie von verschiedenen Freunden und Bekannten auf ihrer Entdeckungsreise durch das Land begleitetet wurden.Für Longo maï und Radio Zinzine ist die Türkei ein wichtiger Bestandteil des politischen Engagements der 1980er Jahre. Anlässlich des Referendums vom 12. September 2010 über eine Reform der Verfassung von 1982 hat Nicholas Bell ein Dossier über dieses faszinierende Land zusammengestellt, beginnend mit einem Rückblick auf die Arbeit nach dem Militärputsch von 1980.

Wie so oft der Fall, begann alles mit einem Anruf: Anfang 1982 läutet im Büro von Longo maï in Basel das Telefon. Am Apparat ist ein befreundeter deutscher Anwalt. Er verteidigt gerade einen türkischen Aktivisten, der auf Anfrage der Militärjunta in Ankara an die c ausgeliefert werden soll. Sein Eindruck ist, dass es etliche ähnliche Fälle von türkischen und kurdischen Flüchtlingen gibt, die in Gefahr schweben, direkt an ihre Henker ausgeliefert zu werden. Ihre Anwälte, sofern sie welche haben, seien nicht untereinander koordiniert und hätten so auch keine gemeinsame Verteidigungsstrategie was absolut notwendig wäre.

Daraufhin macht sich Christian Pillwein von Longo maï auf den Weg. Wochenlang durchforstet er Deutschland, um diese Anwälte ausfindig zu machen und sie miteinander in Verbindung zu bringen. Er kommt auf ungefähr dreißig.
Das war der Anfang eines bedeutenden, fünf Jahre andauernden Kapitels unserer politischen Arbeit. Plötzlich ist uns bewusst geworden, wovon wir vorher nur eine vage Vorstellung hatten: In einem Land an der Peripherie von Europa herrscht eine extrem brutale Militärdiktatur, und zigtausende politische Flüchtlinge sind von Abschiebung dorthin bedroht.
Die Türkei ist ein befreundetes Land, die zweitstärkste Armee der NATO, und diese Leute sind Linksextreme. Ihre Berichte über Verhaftungswellen, Gefängnissein denen Folter herrscht, und die Massenprozesse sind niederschmetternd.
Wir überlassen den Flüchtlingen einen großen Teil unseres Büros in Basel, das zu einem Treffpunkt, Kaffeehaus und einer Diskussionsplattform für türkische Asylbewerber wird.

Arbeitsgruppe Türkei-Flüchtlinge

Damals ist die Öffentlichkeit kaum über die Situation in der Türkei informiert. Die europäischen Regierungen können die unerwünschten Ausländer in aller Ruhe ihren Kollegen nach Ankara zurückschicken.
Wir gründen die „Arbeitsgruppe Türkei-Flüchtlinge“, die zwei Broschüren herausgibt: eine über die skandalösen Abschiebungen1 und die andere, „Die Arbeiter von Yeni Celtek“, über die grauenvolle Unterdrückung des Minenarbeiterstreiks in diesem Ort nahe bei Samsun und den darauf folgenden Massenprozess gegen die Streikenden.
Im April 1982 beschließen wir, das „Europäische Komitee zur Verteidigung der Flüchtlinge und Gastarbeiter“ (CEDRI) zu gründen. Das CEDRI stellt sich zwei Prioritäten: Das Vorgehen der ,zu denunzieren und die Flüchtlinge zu verteidigen, die es geschafft haben, das Land zu verlassen, denen jedoch Abschiebung droht.
In den Jahren 1983-1985 führen wir zwei große Kampagnen durch: Erstens eine intensive Informationsarbeit über den schrecklichen Alltag, demdie Kurden in der Türkei ausgeliefert sind. Vor allem die Zeugenaussagen von Hüseyin Yildirim, einem mutigen kurdischen Anwalt, helfen uns sehr dabei. Er ist einer der ganz wenigen Anwälte, die es gewagt haben, die politischen Gefangenen vor den Militärgerichten von Diyarbakir zu verteidigen, bis er selber festgenommen und dort im berüchtigten Gefängnis eingesperrt wurde.2

Fatsa

Bei der zweiten Aktion geht es um einen der größten Massenprozesse der Türkei, nämlich den gegen 759 Bürger von Fatsa, einer Stadt am Schwarzen Meer, die vor dem Militärputsch 1980 zu einem der Zentren für den Kampf von Dev-Yol (Revolutionärer Weg) geworden war. Nach seiner Wahl im Oktober 1979, hat der unabhängige Bürgermeister Fikri Sönmez eine ausgesprochen populäre und effiziente Selbstverwaltung in seiner Gemeinde eingeführt. Sie wird zu einer beispielhaften Organisationsform, die Aktivisten aus allen Ländern anzieht. In gleichem Maße zieht sie sich natürlich auch den Unmut der türkischen Armee zu.
Im Juli 1980, zwei Monate vor dem Putsch, wird die Stadt von Tausenden Soldaten umstellt. 390 Personen werden festgenommen, darunter der Bürgermeister, der eingesperrt und gefoltert wird. Die repressive Strafverfolgung in der Region geht weiter – bis zum Staatsstreich am 12. September. Ab diesem Zeitpunkt weitet sie sich auf das ganze Land aus.

Europäische Aktion

Das CEDRI beschließt, die Kollegen von Fikri Sönmez in ganz Europa zu alarmieren. Bürgermeister und Gemeinderäte etlicher Dörfer und Städte, von Island bis Portugal, werden angefragt, ob sie an internationalen Delegationen teilnehmen, oder diese bevollmächtigen können. Es geht darum, den Massenprozess, der 1983 in Amasya begonnen hat und bei dem 268 von insgesamt 759 Angeklagten zur Todesstrafe verurteilt werden sollen, zu beobachten.
Zwischen Juni und November 1983 brechen vier Delegationen im Auftrag von mehr als 300 Gemeinden aus 14 Ländern in die Türkei auf. Ihre Arbeit wird von Mal zu Mal schwieriger. Als die dritte Gruppe ankommt, beschließen die Richter, die Prozessverhandlungen zu vertagen. Der vierten Delegation wird der Zutritt zum Gericht verweigert – sie wird mit Gewalt behindert und bedroht. Es wird unmöglich, diese Aktion weiter zu führen. Die Bilanz vor Ort ist sehr mager. Die Angeklagten sitzen viele Jahre unter miserablen Bedingungen im Gefängnis, wo Fikri Sönmez 1985 an den Folgen der Folter stirbt.
In Westeuropa hingegen dient diese Aktion immerhin dazu, die Unterdrückung in der Türkei sichtbar zu machen und die Regierungen zu zwingen, mehr türkischen und kurdischen Flüchtlingen Asyl zu gewähren, oder zumindest weniger zurück zu schicken. Die immer schärfer werdende Kritik an der Regierung in Ankara bringt zweifellos auch eine langsame Verbesserung der Haftbedingungen und die Verminderung der verhängten Todesstrafen mit sich.

Das Bild von der Türkei

So war die Türkei in unseren Augen lange ein brutales Land, wo Verfolgung und Folter herrschten. Erst jetzt, dreißig Jahre später, ergriffen wir die Gelegenheit in ein Land zu reisen, das sich sehr verändert hat. Es ist immer noch von sehr beunruhigenden Strömungen und Haltungen geprägt. Die Entwicklung, die sich heute vor unseren Augen abspielt, ist aber auch sehr spannend und faszinierend3.
In den letzen Jahren haben wir vor allem mit Leuten aus Bauernorganisationen, mit Bürgern von Istanbul, die Stadt-Land-Beziehungen aufbauen möchten, mit Leuten aus dem universitären Milieu und mit einigen jungen Leuten Freundschaften geknüpft. Diese Freunde haben uns auf unserer Reise begleitet. Wir haben auch am Europäischen Sozialforum Anfang Juli in Istanbul teilgenommen. Darüber werden wir in den nächsten Monaten im Archipel berichten.
Diesmal möchten wir über unsere Reise nach Fatsa erzählen und auch versuchen, einen Eindruck von der politischen Situation in der Türkei zu vermitteln, heute, zwei Monate vor dem dreißigsten Jahrestag des Putsches im September 1980, der das Land dermaßen aus den Fugen gebracht hat.

1: „Gefahr für das Recht auf Asyl - Auslieferungsbegehren gegen türkische Flüchtlinge“ (1982). Darin wird aufgezeigt, dass das türkische Militärregime bis April 1982 65 Ausliefer-ungsanträge gestellt hat, von denen acht akzeptiert wurden. Die Flüchtlinge wurden daraufhin dem türkischen Militär übergeben.
2: Hüseyin wurde nach zehn Monaten Haft unter grauenvollen Bedingungen dank einer Kampagne von Amnesty International und der Internationalen Juristenkommission frei gelassen. Er bekam politisches Asyl in Schweden.

  1. Siehe auch in Archipel 171, Mai 2009, die Besprechung des Buches der langjährigen NZZ-Korrespondentin in Istanbul, Amalia van Gent: Leben auf Bruchlinien, Die Türkei auf der Suche nach sich selbst. Rotpunktverlag Zürich, 320 S., ISBN 3-85869-377-4