DOSSIER TUNESIEN: Detailansicht der Politik

von Cedric Bertaud Radio Zinzine, Frankreich, 10.05.2013, Veröffentlicht in Archipel 215

Nach einer Woche Aufenthalt in Tunis ist es mir natürlich nicht möglich, eine klare und präzise Sicht der sehr komplexen politischen Situation in Tunesien zu haben. Dennoch, hier meine Eindrücke, verbunden mit dem Ansatz einer Analyse.

Gleich zu Anfang wurden wir von El Watad, der Partei der demokratischen Patrioten, empfangen. Dieser Partei gehörte der linksextreme Oppositionelle Chokri Bélaïd an, der am 6. Februar 2012 umgebracht wurde. Sein Mord, der - so scheint es - von Professionellen ausgeführt wurde, hat die tunesische Gesellschaft zutiefst schockiert. Eine Konsequenz daraus war die Beschleunigung des bereits begonnenen Aufbaus einer Volksfront gemeinsam mit der P.O.T., der tunesischen Arbeiterpartei (das C für «Communiste» wurde fallen gelassen) mit Hamma Hammami, und einer Reihe anderen, kleineren Parteien. Diese Front soll die drittstärkste politische Kraft im Land werden und entweder mitregieren, oder zumindest die Linie der Regierung beeinflussen. Chokri Bélaïd gilt als Märtyrer und wird als solcher benutzt. Da er der Rechtsanwalt des Fernsehsenders Nesma war, hat die Direktion des Senders sämtliche Werbepfeiler auf den großen Straßen gekauft, um diese mit seinem Porträt zu schmücken. Wie ein Freund richtig bemerkte: Der nahtlose Übergang von den allgegenwärtigen Porträts Ben Ali’s zu denen eines Ermordeten der Opposition, ist höchst symbolisch. Bei meiner Ankunft war ich ziemlich berührt von den Angehörigen Belaïds, die ich kennenlernte. Die Anstecker und Schlüsselanhänger mit seinem Bildnis, die sie uns schenkten, fasste ich als Ehrung des Toten auf. Mit der Zeit kam mir seine Abbildung auf T-Shirts, Werbeplakaten, Broschüren, Flugblättern und sogar als Maske für Demonstrant_innen eigenartig vor. Die Allgegenwärtigkeit seines Porträts und seines Namens lässt sehr auf eine politische Vereinnahmung schließen, deren Sinn und Ziel ich nicht wirklich verstanden habe, die aber ganz deutlich zu spüren ist. Die politische Grundlage von El Watad und anderen politischen oder gewerkschaftlichen Organisationen, wie z.B. die Union der diplomierten Arbeitslosen, die auf dem WSF sehr präsent war (und den Ordnerdienst organisiert hat, denn einen Ordnerdienst braucht man auf jeden Fall, oder?), oder von der Generalunion der Tunesischen Student_innen, ist geschichtlich etwas überholt. Das erklärt sich dadurch, dass diese Organisationen während der Diktatur Ben Ali’s und auch schon unter Bourguiba im Untergrund bleiben mussten. Sie verbleiben oft in recht verstaubten marxistisch-leninistischen Schemen. Eine der Widersprüche ist beispielsweise, dass der einzige Abgeordnete von El Watad in einem reichen Viertel von Tunis gewählt wurde, sich jedoch keiner Beliebtheit in den ärmeren Vierteln erfreuen kann.

Islam und Laizität

Das Thema Nummer eins ist jedoch der Kampf zwischen Laizismus und Islamismus. Wird Tunesien in islamistischer Barbarei versinken? Wie kann man verhindern, dass die Islamisten immer stärker werden? Der Übergangspräsident Moncef Marzouki ist, milde gesagt, ungeschickt in seinen Beziehungen zur Opposition mit seinen dick aufgetragenen Bekundungen, im In- und Ausland, wie z.B. als er nach Doha reiste, wo er der Opposition angedroht hat, die Guillotine wieder einzuführen. Da seine Partei Der Kongress für die Republik mit der Islamistischen Mehrheitspartei Ennahda verbunden ist, fällt er in den linken, laizistischen Kreisen in Ungnade. Wahr ist auch, dass die Verspätung der verfassungsgebenden Nationalversammlung (ANC) bei der Ausarbeitung der Verfassung die Vermutung aufkommen lässt, dass die Wahlen hinauszögert werden, damit Ennadah solange wie möglich an der Macht bleiben kann, und sie deswegen die ANC am Arbeiten hindert. Diese Spannungen zwischen Islamisten und Laizisten geben den islamophoben Klischeevorstellungen wieder neuen Aufwind. Die linken Gruppen scheinen oft zu vergessen, dass Ennahda unter Ben Ali sehr hart unterdrückt wurde und dass 40.000 ihrer Mitglieder in den Folterzellen der Gefängnisse landeten. Dort haben sich die Oppositionellen zwar zusammengefunden, konnten jedoch kein politisches Programm, geschweige denn eine sozialökonomische Vision entwickeln. So werden sozial-ökonomische Überlegungen durch die Religionsproblematik verhindert. Da die Meinungen in wirtschaftlichen Fragen innerhalb der Partei Ennahda zwischen den eher linken und den eher liberalen Personen sehr auseinan-der gehen, könnte es passieren, sollte die sozial-ökonomische Frage je behandelt werden, dass Ennadah explodiert. Die Anhänger von El Watad sind davon überzeugt, dass Ennadah hinter dem Attentat auf Chokri Belaïd steht, ohne diese Behauptung wirklich beweisen zu können. Und angesichts der unangenehmen Konsequenzen dieses Attentats für Ennahda, die Zielscheibe sämtlicher Demonstrationen zur Zeit des Mordes war und auch danach beim vierzigsten Trauertag, kann man sich die Frage stellen, welches Interesse Ennahda an dem Mord haben sollte. Zwei Personen, die mit dem Attentat zu tun haben, wurden bereits festgenommen; es fehlt aber der Mörder und man weiß nicht, wer das Kommando hatte. Ob man das je erfahren wird? Wir können verschiedene Hypothesen in Betracht ziehen, aber zurzeit hält keine wirklich stand und die stützenden Beweise fehlen…

Die Salafisten sind aktiv

Ein Teil der Laizisten beschuldigt Ennahda auch, die Salafisten zu unterstützen. Seit dem Sturz der Diktatur sind fünfzehn Salafisten gestorben; vier von ihnen im Hungerstreik, ohne dass das die Leute, die ja angeblich die universellen Menschenrechte für sich gepachtet haben, irgendwie berührt hätte. Unter den Kreisen der Salafisten gibt es einige, die in den Armenvierteln sehr verankert und gut organisiert sind. Sie haben konkrete Antworten auf die Probleme der Bevölkerung. Eines der zahlreichen Beispiele: Der Gaspreis steigt ständig, obwohl in etlichen Haushalten Gas lebensnotwendig ist. Die Salafisten eines Viertels haben in einem Gasflaschendepot eine «eigene Preissenkung» organisiert, indem sie nur den Preis gezahlt haben, der ihnen angemessen schien und dann diese Flaschen an die Bevölkerung verteilt. Kein Wunder, dass sie so populär sind! Nach dieser Aktion fanden Hausdurchsuchungen statt, bei denen eine Frau von der Polizei erschossen wurde; das hat niemanden aufgeregt - es war der «islamische Teufel». Nicht, dass jetzt jemand denkt, ich hätte mir in dieser Woche einen Bart wachsen lassen (nein, ich habe mich sogar von einem alten, sehr geschickten Barbier der Medina rasieren lassen) und halte den Islam nicht für speziell emanzipatorisch. Meiner Ansicht nach ist er, wie jede andere Religion, dazu da, die Menschen zu unterjochen. Die Salafisten jedoch sind für einen großen Teil der Bevölkerung in die Rolle der revolutionären Befreier geschlüpft. Viele der jungen Menschen, die an der Spitze der Widerstandsbewegung gegen Ben Ali kämpften, fühlen sich jetzt von den Salafisten angezogen, da diese weiterhin als revolutionäre Kraft auftreten1. Ich bin mir nicht sicher, ob man sich ihrer entledigen kann, indem man sie kriminalisiert oder einsperrt. Eher müsste man die soziale Frage direkt angehen, um ihren Einfluss zu mindern. Das tun die laizistischen, linken Gruppen aber nicht. Außerdem sind sie in den Vierteln, in denen die Salafisten werben, über-haupt nicht präsent.
Es ist schon unerhört, dass kaum irgendwelche Informationen über die laufenden Verhandlungen zwischen Tunesien und dem IWF zu bekommen sind. Anscheinend ist ziemlich klar, dass Tunesien finanzielle Hilfe in Höhe von 2,7 Milliarden Dinar, das entspricht 1,35 Milliarden Euro, bekommen soll2. Damit sollen «Reformen» durchgeführt werden. Was das jedoch für «Reformen» sein sollen und wo sie diskutiert und beschlossen werden, weiß man nicht. Die geheimen Verhandlungen finden außerhalb der demokratischen Instanzen statt, was, bei aller Kritik an der bürgerlichen Demokratie, zu wünschen übrig lässt. Die Verhandlungen im Januar wurden ohne den ANC geführt und die im Februar überhaupt ohne offizielle Regierungsmitglieder3. Bei den Verhandlungen geht es zwangsläufig um die Liberalisierung der verschiedenen Wirtschaftszweige. Zum Beispiel sollen 400.000 Hektar Ackerland und Wald, sowie vier Banken privatisiert werden. Angeblich sollen die Subventionen für Energie eingestellt werden, aber auch darüber gibt es keine Debatte, weder unter den Linken, noch sonst wo.

Die Kanäle der Djihadisten

Worüber zurzeit viel geredet wird, ist die Rekrutierung von jungen Tunesiern, die mit den Djihadisten nach Syrien gehen, um dort zu kämpfen. Die Schätzungen belaufen sich auf 3000 bis 10.000. In vielen Kreisen macht man sich Sorgen über diese jungen Menschen, die irgendwann als ausgebildete, bewaffnete Kämpfer ins Land zurückkommen werden. Bis jetzt war das Thema tabu, aber mittlerweile fangen die Leute an, darüber zu sprechen und auch in den Medien wird diese Problematik thematisiert. Eine Untersuchung wurde eingeleitet, um die Kanäle der Djihadisten zu durchleuchten. Das ist eine der Folgen des Krieges in Syrien und es wird nicht die Einzige bleiben.

  1. In einem Bericht der International Crisis-Group, ist mehr über Salafismus zu erfahren.
  2. Auf der Website nawaat.org wurden darüber einige Informationen publiziert.
  3. Während der politischen Krise, die auf den Mord Belaïds folgte, hat der Regierungschef Jebali seinen Rücktritt erklärt. Am 19. März bildete sich eine neue Regierung unter Laarayedh. Die
    Verhandlungen mit dem IWF fanden bereits am 22. Februar statt; mit Pseudorepräsentanten des
    tunesischen Volkes.