EUROPA: Existenzunsicherheit überall in Europa

von Rachel Knaebel, 25.06.2016, Veröffentlicht in Archipel 249

Eines der wesentlichen Argumente von Befürwortern einer Reform des Arbeitsrechts in Frankreich lautet: Die anderen Europäer haben es gemacht, also machen wir es auch.

Italien, Spanien, Griechenland, Grossbritannien und mehrere osteuropäische Länder haben Entlassungen, Lohnsenkungen und den Zugang zu zeitlich ausgedehnten unsicheren Arbeitsverhältnissen erleichtert. Ein Teil dieser Länder sind zu einer von der Europäischen Kommisssion aufgezwungenen Politik übergegangen und haben dafür Kredite zum Abbau ihrer Staatsschulden erhalten oder wurden in die Europäische Union aufgenommen. Von den dort ins Werk gesetzten Reformen profitierten Arbeitgeber und Aktionäre am meisten. Tatsächlich wurde weder der Anstieg von Arbeitslosigkeit gebremst noch die Unsicherheit von Arbeitsverhältnissen reduziert. Kurz vor den Aktionen des 9. März gegen das Arbeitsrecht war der französische Präsident François Hollande in Italien. Matteo Renzi, der italienische Premierminister, hat seine Unterstützung für die eingeleitete Reform des Arbeitsmarktes in Frankreich bekundet, indem er diejenige anpries, die er selbst einige Monate vorher durchführen liess, Jobs act genannt. Das entsprechende italienische Gesetz hat Entlassungen im Einzelfall vereinfacht, Arbeitgeber bei Einstellungen von ihrem Beitrag befreit und den Schutz unbefristeter Arbeitsverträge aufgeweicht.
Eines der beliebten Argumente von Befürwortern einer neuen Arbeitsgesetzgebung, die die Arbeitsministerin Myriam El Khomri vorlegte, lautet: Andere europäische Länder haben ihre Gesetzgebung geändert, jetzt ist Frankreich gefordert, in gleichem Sinne nachzuziehen. In den letzten Jahren vollzogen mehrere EU-Mitgliedsländer substantielle Veränderungen ihres Arbeitsrechts. Alle folgten dabei bestimmten Grundtendenzen: Entlassungen, die auch mit weniger Kosten für den Arbeitgeber verbunden sind, werden erleichtert, Tarifverhandlungen werden immer öfter umgangen, die Höhe der Vergütung hängt zunehmend von Werktarifen oder dem guten Willen des Unternehmers ab.
Griechenland als Labor
Unter dem Druck der Europäischen Kommission haben Italien, Spanien, Portugal, Rumänien, Ungarn und natürlich Griechenland ihr Arbeitsrecht weitgehend reformiert. In Spanien wurden die Entlassungsmöglichkeiten erweitert, mögliche Kosten für den Unternehmer reduziert, ein neuer Vertragstyp wurde für junge Arbeitnehmer in kleinen und mittleren Betrieben eingeführt. Dieser sieht eine Probezeit von einem Jahr vor, in der eine Entlassung ohne jede Begründung möglich ist. In Griechenland wurde der Mindestlohn gesenkt, jetzt gibt es ebenfalls einen neuen Vertragstyp für junge Arbeitnehmer, bei dem diese sofort in den Niedriglohnsektor fallen. Dabei haben sie eine Probezeit von zwei Jahren zu absolvieren, nach der keinerlei Anspruch auf Arbeitslosengeld besteht. Diese wie auch andere Änderungen des Arbeitsrechts in Griechenland wurden zum grössten Teil von der Troika (Europäische Kommission, EZB, IWF) durchgesetzt als Gegenleistung für gewährte Kredite, mit denen Athen seine Staatsschulden tilgen sollte. «Die Programme zur Arbeitsrechtsreform sind von Land zu Land verschieden. Es gibt solche, die ziemlich klar und offen im Rahmen des Wirkens der Troika in Irland, Griechenland, Portugal und Zypern durchgesetzt wurden. Andere Reformen wurden mit weniger Öffentlichkeit durchgeführt, so in den östlichen Ländern nach deren Beitritt zur EU. Auch in diesen Fällen hat der Internationale Währungsfonds grossen Druck ausgeübt, um dort den Arbeitsmarkt zu liberalisieren», unterstreicht Isabelle Schömann, Forschungsbeauftragte am Europäischen Gewerkschaftsinstitut. Zum Beispiel sieht das Wirtschaftsprogramm, das begleitend zum EU-Beitritt von Kroatien im Jahre 2013 aufgelegt wurde, vor, dass das Land «das Kündigungsverfahren im Tarifrecht vereinfacht, dass Agenturen für Zeitarbeit wesentlich mehr Spielraum für ihre Aktivitäten einräumt wird und die Beschränkungen für monatliche Mehrarbeit aufgehoben werden.» Dann fährt die Wissenschaftlerin fort: «Ab 2011 gibt es das Europäische Semester. Dieses Instrument ist nicht so zwingend und brutal wie die Massnahmen der Troika, aber es ist ein System, das die Länder ebenso nötigt, ihr Arbeitsrecht zu reformieren.» Das Europäische Semester wurde von der Europäischen Kommission ins Leben gerufen und dient dazu, die Wirtschafts- und Finanzpolitik der EU-Mitgliedsländer zu überwachen. Letzten Februar erst kritisierte die Kommission die französische Arbeitsmarktpolitik als unnachgiebig, weil der Schutz vor Entlassung eine zu hohe Hürde sei.
Geschenke für Arbeitgeber
«In Bezug auf Entlassungen, Einstellungen oder prekäre Arbeitsverhältnisse gibt es Länder, deren Gesetzgebung schon als flexibel gilt. Anderen Ländern wird von der Europäischen Kommission eine zu rigide Gesetzgebung bescheinigt. Diese sollen ihre Gesetze flexibler gestalten, was den Schutz von Arbeitern in Anstellung, die Regeln zu Arbeitsbedingungen, wie z.B. Arbeitsschutz und Gesundheit am Arbeitsplatz, betrifft.» präzisiert Isabelle Schömann. Im Konkreten konzentrieren sich die in der EU durchgeführten Reformen auf bestimmte wesentliche Aspekte. In jedem einzelnen Fall bringt die gepriesene Flexibilisierung Vorteile für die Arbeitgeber: Entlassungen werden erleichtert und sind weniger kostenaufwendig; Möglichkeiten, vom Tarifrecht abzuweichen, werden ausgeweitet. Diese zwei Aspekte tauchen auch in der Gesetzesvorlage auf, die in Frankreich zu den aktuellen Kontroversen führt.
Seit 2009 wurden in der Tschechischen Republik, in Portugal, in Spanien, in der Slowakei, in Grossbritannien, Estland, in Griechenland und in Rumänien die Bestimmungen aufgeweicht, nach denen Entlassungen geregelt sind. In Portugal wurde das konkrete Entlassungsverfahren vereinfacht, die Entlassungsmöglichkeiten wegen Nichteignung wurden ausgeweitet und Abfindungen eingeschränkt. Zudem wurden mit dem italienischen Jobs act Entlassungen wesentlich kostengünstiger für die Arbeitgeber. Bei den neuen Arbeitsverträgen, die als «zunehmend geschützt» gelten sollen, erweisen sich nicht regelkonforme Entlassungen nur dann als kostenaufwendig, wenn sie Lohnempfänger mit langer Betriebszugehörigkeit betreffen. In Grossbritannien wurden selbst Verfahren vor dem Arbeitsgericht gebührenpflichtig; Kosten für einen Lohnempfänger belaufen sich auf rund 300 Euro allein schon für das Einlegen eines Einspruches, bis zu 1‘200 Euro werden fällig, wenn die Sache zur Verhandlung kommt. Das allein schreckt viele ab, gegen ihre Entlassung Widerspruch einzulegen.
0-Stunden-Verträge
Ein recht aussergewöhnlicher Vertragstyp wurde zudem in Grossbritannien kreiert: Lohnempfänger verzichten auf ihre Rechte, werden dafür aber am Gewinn beteiligt. Mit diesem Vertrag erhalten die Lohnempfänger als «Arbeitnehmer und Aktionär» Aktien des Unternehmens, wenn sie auf ihr Recht verzichten, Widerspruch gegen regelwidrige Entlassungen einzulegen. Eine Abfindung bei Entlassung steht ihnen damit auch nicht mehr zu. Seit 2012 wurden auf den britischen Inseln mehr und mehr sogenannte «0-Stunden-Verträge» üblich. Dieser Vertragstyp garantiert keinerlei Beschäftigungszeit und auch keinen Lohn. Der Arbeitnehmer verpflichtet sich mit seiner Unterschrift zu arbeiten, ohne dass sich der Arbeitgeber über die monatliche Arbeitszeit und folglich auch nicht zum Lohn und dessen Höhe festlegen muss. Die Erwerbsperson hat ihrerseits jedoch verfügbar zu sein, wenn es von ihr verlangt wird. «Diese 0-Stunden-Verträge existierten auch schon vor der Krise, sind seitdem jedoch allgemein üblich geworden», unterstreicht Isabelle Schömann. Mehr als 740‘000 Personen arbeiteten 2015 auf Basis dieser Verträge, dreimal mehr als 2012. «In Polen ist es sogar möglich, Personen nicht mit einem Arbeitsvertrag, sondern mit einem auf dem Zivilrecht basierenden Vertrag arbeiten zu lassen, also ohne irgendeine soziale Absicherung.»
Anderswo wurden die Richtlinien für befristete Verträge weiter flexibilisiert. In der Tschechischen Republik können Verträge bis auf drei Jahre befristet werden, mit der Möglichkeit einer Verlängerung auf bis zu neun Jahren bei demselben Arbeitgeber. Die jüngsten Reformen in Rumänien haben die Gesamtdauer eines befristeten Arbeitsvertrages in ein und demselben Unternehmen auf fünf Jahre ausgedehnt. Die Dauer eines befristeten Arbeitsvertrages wurde auch in Griechenland, Portugal und Spanien ausgedehnt – auf maximal drei Jahre.
Enorme Arbeitslosigkeit
Mit der Gesetzesvorlage der Arbeitsministerin El Khomri soll Werktarifen der Vorzug vor Flächentarifen gegeben werden. Dies würde eine Reihe von Themen betreffen, wie beispielsweise die Arbeitszeit. Auch das ist eine, zum Teil unter dem Druck aus Brüssel, in ganz Europa verfolgte Tendenz und wird «Dezentralisierung» von Verhandlungen genannt. In Spanien wurde 2012 der Werktarifvertrag über den Branchentarifvertrag gestellt, sofern Vergütung, Überstunden und die Verteilung von Arbeitszeit betroffen sind.
Darüber hinaus haben mehrere Länder in ihrer nationalen Gesetzgebung die Möglichkeiten erweitert, von Tarifvereinbarungen ganz einfach abzuweichen. Allein zwischen 2009 und 2012 wurde das in Irland, in Spanien, Portugal und Italien praktiziert. «Die Idee, den Sozialpartnern die Möglichkeit der Festlegung von Lohnhöhen zu entziehen, ist eine Konstante in der Politik der Europäischen Kommission», bemerkt Isabelle Schömann. Resultat: In den Ländern, denen die Troika ihr Austeritätsprogramm verordnet hat, wird in den Tarifverträgen immer seltener die Höhe von Vergütungen festgelegt. In Spanien zum Beispiel hat sich die Zahl von Branchentarifverträgen zwischen 2008 und 2013 halbiert. Die Zahl der Lohnempfänger, die von Branchentarifen erfasst werden, ist von 12 auf nur noch 7 Millionen gefallen. Auch in Belgien, Bulgarien, Zypern, Deutschland und in der Slowakei hat sich die Zahl der Tarifabschlüsse verringert. «Der Norden Europas widersteht bisher noch dieser Art von Reform. Denn in Skandinavien besteht das Arbeitsrecht im Wesentlichen aus Tarifverträgen. Wenn die weggenommen werden, gibt es nichts mehr, denn sie werden durch keine Gesetzgebung ersetzt», erklärt Isabelle Schömann.
Wozu aber noch Widerstand leisten, wenn doch die laut Richtlinien der Europäischen Kommission gemachten Reformen die Arbeitslosigkeit senken und den Ausbau von Beschäftigung erleichtern sollen? Haben also die in Südeuropa seit der Schuldenkrise durchgeführten Reformen dazu geführt, die Arbeitslosigkeit spürbar zu senken? In Griechenland lag die Arbeitslosenrate 2010 bei 12 Prozent, 2011 bei 18 Prozent und erreichte 2014 die Marke von 26 Prozent. Seit Jahren sind dort bis zu 48 Prozent der Jugendlichen unter 25 Jahren arbeitslos. Die Arbeitslosenrate in Spanien lag 2015 bei 22 Prozent, also weiterhin über dem Niveau von 2010 (20 Prozent). Und 45 Prozent der jungen Spanier haben dauerhaft keine Arbeit. Ganz offensichtlich hatten die extrem unsicheren Verträge für junge Arbeitnehmer doch nicht die verkündete Wirkung.