EUROPA: Sei jung und halt die Klappe! (1. Teil)

von Isabelle Sens (EBF), 17.06.2003, Veröffentlicht in Archipel 106

Bereits seit einigen Monaten bastelt die Europäische Union hinter geschlossenen Türen an einer Verfassung, um sich eine demokratische Legitimität zu geben. Man erklärt uns, dass es im Rahmen des Verfassungsentwurfs, angeführt vom ehemaligen französischen Präsidenten Giscard d'Estaing, zwar zu heftigen Kontroversen zwischen kleinen und großen Ländern kommt, aber die Medien hüten sich davor, uns zu erläutern, inwiefern die Gewalt direkt von den Bürgern und inwieweit von den Institutionen ausgehen soll.

Die Legitimität, auf die sich die europäischen Institutionen berufen, wie ihre Praktiken auch aussehen mögen, beruht grundsätzlich auf den demokratischen Traditionen ihrer Mitgliedsländer und auf dem Europäischen Parlament, dessen Kompetenzen allerdings recht begrenzt sind.

Die nationalen Parlamente laufen Gefahr, zu simplen Ausführenden der hohen europäischen Beamten und Ministern der verschiedenen Regierungen der EU zu werden.

In solch einem Umfeld versteht man besser, warum die kleinen Länder beunruhigt sind, denn für sie würde es in Zukunft schwer werden, ein Gegengewicht zum französischen und deutschen Staatsapparat zu bilden.

Konkret beschäftigt sich der Verfassungsentwurf der Mitgliedsländer der EU mit den grundlegenden Fragen des Rechts und der politischen Freiheit jedes einzelnen und dies mittels zukünftiger Kompetenzen der nationalen Parlamente und des Europäischen Parlaments. Für alle anderen Interventionsformen von Seiten der Bürger ist nichts vorgesehen, abgesehen vom Recht, ins Leere zu debattieren und zwischen zwei Polizeikordons zu demonstrieren.

Letzterem Punkt werden wir uns in späteren Artikeln widmen, im Augenblick möchten wir aufzeigen, wie die Exekutive im Herzen Europas zur "autoritären Versuchung" hingleitet.

Auf diese Gefahr war vom niederländischen Juristen Herman Meijers und ausgewiesenem Kenner der europäischen Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Justiz und inneren Angelegenheiten bereits vor Abschluss des Vertrages von Amsterdam im Jahr 1996 hingewiesen worden. Meijers betonte: "In antidemokratischen Umfeldern sind es immer die exekutiven Organe des Staates und nicht das Parlament oder die Justiz, die die endgültigen Entscheide treffen... Das ist die Gefahr, die der Europäischen Union derzeit droht: Jetzt, wo zentrale Bereiche des Rechts und grundlegende Befugnisse der nationalen Demokratien auf internationale Institutionen einer europäischen Gesellschaft überführt werden, droht diese Verlagerung von Ministern und Beamten ausgeführt zu werden, die der Exekutive angehören – wobei gesetzgebende Organe, wie das Europäische Parlament und die Gerichtsbarkeit, die ihre Aufgabe im Rahmen des Europäischen Gerichtshofes ausübt, im Abseits landen".

In Anbetracht des Verfassungsentwurfs hat Meijers Warnung nichts an Aktualität eingebüßt; der Trend in Richtung einer Stärkung der Exekutive auf Kosten der Parlamente wird mit dem Verfassungsentwurf bestätigt. Die Motive sind in den offiziellen Dokumenten klar formuliert. Es geht darum, "...auf die häufig geäußerte Kritik hinsichtlich der übermäßigen Detailliertheit der gemeinschaftlichen Gesetzgebung und der mangelnden Flexibilität und Langsamkeit der Verfahren zu reagieren... Dieses Übermaß an Detailregelung in den Rechtsakten wurde für kaum angemessen gehalten, insbesondere in einigen Wirtschaftsbereichen, in denen es sehr wichtig ist, sich rasch einem sich ändernden Umfeld anpassen zu können. Der gemeinschaftliche Gesetzgeber sieht sich somit einem doppelten Bedürfnis gegenüber: Er muss Rechtsvorschriften unzweifelhafter demokratischer Legitimität erlassen, wie sie nur Rechtsetzungsverfahren garantieren können, und er muss rasch und effizient auf die Herausforderungen und Erfordernisse der Wirklichkeit reagieren und somit eine gewisse Flexibilität wahren".

Das einzige Problem in dieser schönen Überlegung, die das Ziel hat, eine "effiziente Führung" der Union zu gewährleisten besteht darin, dass die ökonomischen Geschäfte und die fundamentalen Rechte der Menschen, von denen wir nicht wussten, dass sie derart geändert werden, gleich behandelt werden und zum Infragestellen der berühmten Rechtsetzungsverfahren führen, welche die demokratische Unanfechtbarkeit der Entscheidungsträger garantieren.

Der Verfassungsentwurf sieht zwei Kategorien von in allen Mitgliedsstaaten direkt verbindlichen und gültigen Rechtsakten vor: einerseits "Rechtsakte mit Gesetzgebungscharakter" (das heißt Gesetze und Rahmengesetze) und andererseits "Rechtsakte ohne Gesetzgebungscharakter" (das heißt Verordnungen und Entscheide), die jedoch ebenfalls unmittelbar verbindlich und allgemein gültig sein können. Letztere erfordern jedoch keine Mitbeteiligung und Zustimmung der Parlamente.

Der Vertragsentwurf geht jedoch noch einen Schritt weiter, indem er die Schaffung der "delegierten Rechtsakte, als eine neue Kategorie von Rechtsakten vorschlägt, mit denen einige nicht wesentliche Vorschriften von Gesetzgebungsakten näher ausgeführt oder geändert werden können. Damit soll der Gesetzgeber angehalten werden, sich auf die grundlegenden Aspekte zu konzentrieren und zu vermeiden, dass Gesetze und Rahmengesetze allzu detailliert sind". "Hülsengesetze"

Anders ausgedrückt: Aus Besorgnis die Parlamentarier zu überfordern, ist dies nichts anderes als eine Aufforderung an die Gesetzgeber, "Hülsengesetze" zu erlassen, deren eigentliche Ausgestaltung in Form von Verordnungen danach den Experten der Exekutive überlassen werden soll.

Ein wichtiges Beispiel einer solchen Rechtshülse ist das Europol-Abkommen: Wichtige und sehr fragwürdige Befugnisse werden z. B. in Durchführungsbestimmungen zu den Analysedateien festgelegt. Der Rat kann die Zuständigkeit für eine kaum begrenzte Liste von Verbrechensformen ohne parlamentarische Zustimmung ausweiten und die Zusammenarbeit von Europol mit Drittstaatsbehörden erlauben – ohne Zustimmung des Parlaments.

So steht in einem Dokument des Verfassungsentwurfs zu lesen: "Im derzeitigen System sind die einzelstaatlichen Parlamente am Erlass geltender Rechtsnormen insbesondere in der Weise beteiligt, dass Übereinkommen auf nationaler Ebene ratifiziert werden müssen. Diese Art von Rechtsakt soll nun in der Verfassung nicht mehr vorkommen, doch sollten die einzelstaatlichen Parlamente weiterhin eine bedeutende Rolle spielen".

Doch inwiefern diese Rolle "weiterhin bedeutend" sein wird, bleibt aufgrund der bisher vorliegenden Vorschläge im Verfassungsentwurf schleierhaft. Von einem tatsächlichen Mitentscheidungsrecht, einer Beteiligung des Parlaments am Gesetzgebungsprozess oder effizienter Kontrolle der Exekutive ist nirgends die Rede. Stattdessen schlägt man den Parlamentariern ein dickes Beschäftigungstherapieprogramm vor mit "inhaltlichen Debatten nach Wahl, die vom Europarat geprüft werden müssten" oder regelmäßige interparlamentarische Konferenzen bzw. eine Einbindung in den Mechanismus der gegenseitigen Bewertung. Sind jetzt nach den "eingebetteten Journalisten" während des Irakkriegs die "eingebetteten Parlamentarier" an der Reihe?

Die Herrschaft über den europäischen "Menschenpark" wird im Rahmen der Kommission Justiz und innere Angelegenheiten geregelt, die unseren "Raum von Freiheit, Sicherheit und Recht" verwaltet. Diese Kommission unterscheidet gar zwischen zwei Bereichen des Tätigwerdens: dem legislativen und dem operativen.

Nachdem wir hier nun informiert haben, was der Verfassungsentwurf unter parlamentarischer Demokratie versteht, sei die Frage erlaubt, wann es sich denn um operative Legitimität handelt?

Man kann schlussfolgern, dass die operative Zusammenarbeit mit anderen Mitteln als gesetzgeberischem "Tätigwerden" erreicht werden sollen, allenfalls auch mit Hilfe exekutiver Organe und ohne parlamentarische Beteiligung erlassener "Rechtsakte ohne Gesetzgebungscharakter" sowie durch informelle Zusammenarbeit ohne gesetzliche Grundlage. Dabei darf nicht vergessen werden, dass heutzutage Polizei- und Justizapparat bereits länderübergreifend zusammenarbeiten, ohne dass irgendein Parlament diese Aktivitäten reell kontrollieren kann.

Im demokratischen Rechtsstaat, wie er heute definiert wird, wächst gegenseitiges Vertrauen auf der Basis von gemeinsamen Normen und Regeln, die für alle gültig und in einem demokratischen und transparenten Rechtssetzungsverfahren erlassen wurden. Derartiges existiert in der Europäischen Union nicht und ist auch nicht geplant.

Koordinierung

In Anbetracht des bisherigen enormen Einflusses des "Artikel 36" -Ausschusses und der ihm unterstellten Beamtengruppen sowohl in der Exekutive als auch Legislative für alle unsere Grundrechte betreffenden Fragen, muss man sich ernsthaft Sorgen machen.

Es wird vorgeschlagen, eine effiziente Struktur für die Koordinierung der operativen Zusammenarbeit auf Ebene hochrangiger Fachleute zu schaffen, deren Aufgabe es ist, die Arbeit des Rates auf dem Gebiet der Kooperation von Polizei und Justiz in Zivilsachen vorzubereiten.

In der Praxis existiert dieser Ausschuss bereits seit dem Treffen des Europarats 1988 in Rhodos. Dieser sieht sich im Rahmen der Verfassung noch verstärkt und könnte "zum ersten Mal alle im Bereich "innere Sicherheit" zuständigen Behörden, und nicht nur die Polizeikräfte, einbeziehen... Die Folgen der Anschläge vom 11. September haben gezeigt, wie wichtig eine Mobilisierung aller Dienste und eine übergreifende Zusammenarbeit sind".

Anders ausgedrückt werden Prävention, Repression und Einschätzung der Gefahren für die öffentliche Ordnung mit dazugehörender Registrierung in den selben Topf geworfen mit dem einzigen Ziel, den Beamten ihre Machtposten zu bewahren. Sie werden sagen, was kümmert uns die Demokratie zu Zeiten, in denen unsere Mächtigen aufgeklärt sind? Doch wer garantiert, dass sie es sind? Und welche Mittel haben wir, um uns gegen sie zu wehren?

Dieser Artikel entstand auf Grundlage der Arbeit von Nicolas Busch, dessen komplette kritische Auseinandersetzung mit dem Vertragsentwurf auf der Website des Europäischen Bürgerforums zu finden ist. (www.forumcivique.org)