FEMINISMUS / AFGHANISTAN: Schlag gegen die Frauen

von Bianca Pessoa u. Tica Moreno, 27.10.2021, Veröffentlicht in Archipel 307

Durch die Machtübernahme der Taliban in Afghanistan hat sich die Situation der Frauen und Mädchen noch mehr verschlimmert. Die Rechte, für die sie während zwei Jahrzehnten gekämpft haben, werden mit einem Schlag niedergemacht. Hier die Einschätzung einer afghanischen Frauenrechtsaktivistin, die im Exil in Europa lebt.*

Wie beurteilen Sie die aktuelle Situation in Afghanistan? Die Situation in meinem Land ist ein Albtraum für die Menschen, insbesondere für die Frauen. Alles brach in wenigen Stunden zusammen: die hart errungenen Rechte der Frauen, die für mehr Sichtbarkeit und Mitspracherecht im öffentlichen Leben zu kämpfen begonnen hatten, indem sie sich in staatliche Einrichtungen integrierten und Zugang zu Universitäten und Schulen erhielten. Sie gewannen allmählich Vertrauen in die Demokratie und in die Möglichkeit, Rechte zu haben und an eine bessere Zukunft zu denken.

Die Situation ist entsetzlich. Heute lebe ich im Westen, in Europa, und ich kann mir nur vorstellen, wie die Frauen in meinem Land leben. Leider können meine Familienmitglieder, die an der Universität studiert haben, ihr Studium im Moment nicht fortsetzen. Obwohl die Taliban angekündigt haben, dass es keine Einschränkungen geben werde, glaubt ihnen niemand, weil wir wissen, was sie vor 20 Jahren getan haben. Die Verbrechen, die sie in dieser Zeit begangen haben, sind noch immer im Gedächtnis der Menschen.

Die Menschen sagen, sie wüssten nicht, was sie von der Zukunft zu erwarten hätten. Jede·r hat Angst, zur Zielscheibe zu werden. Jede·r leidet darunter, aber Frauen sind immer das leichteste Ziel. Die Menschen haben Angst, zur Arbeit zu gehen und auf dem Heimweg verfolgt zu werden, und fürchten, dass ihren Familien etwas zustösst. Die Stille in Kabul ist erschreckend. Man hört niemanden, nicht einmal spielende Kinder auf der Strasse.

Kabul ist das Herz Afghanistans, und die meisten der Kämpfer lebten dort. Einige der Journalist·inn·en sind heute wieder an die Arbeit gegangen. Ich habe Videos aus Kabul gesehen, die zeigen, dass einige der Moderatorinnen bei privaten Fernsehsendern aufgetreten sind. Gleichzeitig haben die Menschen kein Vertrauen in die Situation. Das könnte sich nach dem 31. August ändern, dem letzten Tag, an dem die Amerikaner das Land evakuieren müssen.

Im Moment zeigen sich die Taliban wohl noch von einer gemässigteren Seite, aber sobald sie die Regierung bilden, werden sich die Dinge ändern. Es gibt ein Video, in dem ein Taliban-Soldat speziell zu Frauen befragt wird, und er antwortet, dass sie „festlegen wollen, was die Scharia (1) für Frauen vorsieht“, wobei er betont, dass die Kleiderordnung der Scharia befolgt werden muss. Er liess durchblicken, dass er meint, Frauen sollten zu Hause bleiben. Andererseits sagen ihre Führer, dass die Frauen Zugang zu den öffentlichen Strukturen haben werden, dass sie gebraucht werden und dass sie Teil dieser Gesellschaft sind. Das ist es, was sie vorgeben, aber vor Ort sagen die Soldaten etwas anderes.

Die einen sagen, die USA hätten in Afghanistan versagt, die anderen sagen, das sei ihr Ziel gewesen. Was bedeuten die letzten 20 Jahre der US-Besatzung in diesem Land? Als die USA Afghanistan besetzt haben, erwarteten die Afghan·inn·en Veränderungen. Aber es ist nichts Wesentliches passiert. Sie wendeten sich der afghanischen Regierung zu und hatten gleichzeitig eine gewisse Verbindung zu den Taliban, in dem Sinne, dass sie keinen Druck auf sie ausüben wollten, selbst wenn sie zeigten, dass sie die Gruppe bekämpften. Die Dorfbewohner·innen begannen sich generell gegen die USA zu wenden, wobei deren Bombardierungen einer der Hauptgründe waren. Zivilist·inn·en wurden getötet. Die Menschen begannen, den Amerikanern gegenüber Ressentiments zu hegen, was aber nicht bedeutete, dass sie die Taliban wieder an der Macht sehen wollten. Die Menschen hatten die Zeit der Taliban-Kontrolle bereits erlebt und wussten, was sie bedeutete. Seit 15 Jahren ist mein Dorf sozusagen unter ihrer Kontrolle. Mädchen durften nur bis zur sechsten Klasse lernen, nicht darüber hinaus. Die Menschen wussten, dass die Taliban ihnen nichts geben würden. Sie wollten die Unterstützung der Regierung, sie wollten, dass die Regierung stärker wird. Sie glaubten an dieses kleine Stückchen Demokratie, das die Regierung anbot.

Wir fordern die USA nicht auf zu bleiben. Wir wollen die Besetzung nicht. Das Problem ist die Art und Weise, wie sie gegangen sind, das Vakuum, das sie hinterlassen haben. Sie haben die Afghan·inn·en buchstäblich in die Höhle des Löwen geworfen. Das ist es, was die Amerikaner tun: Sie nehmen sich, was sie wollen, und lassen dich dort zurück. Im Moment herrscht in Afghanistan eine schreckliche Panik. Es geht nicht darum, dass die Menschen die Amerikaner vermissen. Die Menschen wollen eine demokratische Regierung mit Vertreter·inne·n und Wahlen, ein Land in dem die Frauen Rechte haben. Selbst nach 20 Jahren der Besatzung haben die USA nichts unternommen. Sie wollten nur vor dem Rest der Welt angeben.

Die Afghan·inn·en hatten ein Parlament und die Mädchen gingen zur Schule: Das ist das einzige Bild, das die USA der Welt zeigen wollten. Es sind aber die afghanischen Familien, die dafür Anerkennung erhalten sollten. Sie sind diejenigen, die ihre Töchter zur Schule und zur Universität schickten und erreichten, dass sie arbeiten durften. Dabei hat es in dieser Zeit Entführungen und Selbstmordattentate gegeben, bei denen Frauen die Zielscheibe waren. Damals hat die Bevölkerung für ihre eigene Sicherheit sorgen müssen, nicht die Vereinigten Staaten oder die Marionettenregierung – die haben uns nicht geholfen. Jetzt ist die Bevölkerung sehr wütend, vor allem die Frauen. Sie sind der Meinung, dass die Amerikaner das Land ordnungsgemäss und auf dem richtigen Weg hätten verlassen müssen. Die Menschen haben die Amerikaner nicht gebeten zu kommen. Bin Laden wurde in Pakistan getötet, nicht hier. Sie kamen, und jetzt lassen sie uns wieder mit einer mittelalterlichen Gruppe zurück, die das Land weiterhin beherrschen wird.

Was bedeutet dies für den regionalen und internationalen Kontext? Im Moment sind alle verwirrt, auch die Taliban. Sie haben kein Programm, sie wissen nicht, wie sie eine Regierung bilden sollen. Das ist für alle ein bisschen verwirrend. Nun hat China erklärt, dass es die Taliban anerkennen wird, und die Türkei hat bereits ihre Unterstützung zugesagt. Dies verleiht ihnen Legitimität. In den letzten 20 Jahren haben sich die Dinge sehr verändert, was das Bewusstsein der Frauen für ihre Rechte und ihren Zugang zu den Medien und zum Internet angeht. Die Taliban zeigen sich im Moment von ihrer gemässigteren Seite, um zumindest in den Ländern der Region eine gewisse Anerkennung zu finden. Es ist eine verwirrende Zeit, aber wir werden sie nach dem 31. August besser verstehen. Es kam alles sehr plötzlich.

Was ist das mögliche Ergebnis in Afghanistan und wie kann die internationale Unterstützung angesichts der wachsenden Zahl von Afghan·inn·en, die zu Geflüchteten werden, aussehen? Als der Rest des Landes in die Hände der Taliban fiel, flohen die Menschen Provinz für Provinz nach Kabul. Innerhalb von drei oder vier Tagen flohen über 20.000 Menschen in die Hauptstadt. Als die Taliban in Kabul ankamen, versuchten die Menschen, Afghanistan zu verlassen. Das ist eines der Dinge, die der Welt gezeigt werden müssen: Die Menschen unterstützen die Taliban nicht; sie wollen das Land um jeden Preis verlassen. Die drei Menschen, die bei dem Versuch, sich in dem startenden Flugzeug zu verstecken, ums Leben kamen... diese schreckliche Episode zeigt, wie sehr die Menschen weg wollen. Die Gegend um den Flughafen von Kabul ist überfüllt, weil die Menschen denken, sie könnten das Land verlassen. Die Vereinten Nationen selbst haben an die Nachbarländer appelliert, den Flüchtlingen die Einreise zu ermöglichen. Die Menschen wollen nicht unter der Kontrolle der Taliban leben, weil sie nicht wissen, wie die Zukunft für ihre Kinder aussehen wird.

Im Idealfall haben sich die Taliban wirklich geändert und erlauben den Frauen zu arbeiten, die Ausbildung der Mädchen nicht zu behindern und den Frauen zu erlauben, die Universität zu besuchen. Aber wir haben Beispiele aus Ländern wie Iran und Saudi-Arabien, in denen Frauen unterdrückt und zu leichten Zielscheiben geworden sind. Intellektuelle haben keine Freiheit zu arbeiten, Menschen, die die Menschenrechte verteidigen, können nicht handeln. Die Taliban werden nicht zurückweichen. Das ist bedauerlich, denn viele Menschen hatten begonnen, ein Leben zu führen. Wenn man in seinem Dorf ein Stück Land hatte, wusste man, dass man es für sich selbst nutzen konnte. Die Menschen in Kabul begannen, ihre eigenen Häuser zu haben. Vor einigen Jahren wollten die Afghan_inne_en ebenfalls das Land verlassen, allerdings nicht so viele. Damals ging es um die gezielten Morde an der Hazara-Bevölkerung (2), die durch die Armut verursacht wurden. In den kommenden Monaten werden wir über Millionen von Menschen sprechen, die flüchten möchten.

Welche internationalen Solidaritätsaktionen können soziale und feministische Bewegungen in dieser Zeit durchführen? Die grösste Unterstützung besteht darin, der Stimme des afghanischen Volkes und der afghanischen Frauen Gehör zu verschaffen. Dies ist die grösste Aktion der Solidarität, Unterstützung und Hilfe, die das afghanische Volk erhalten kann. Vergessen Sie unser Land nicht. Heute sind wir in den Nachrichten, aber in ein paar Wochen, wenn die Taliban die Regierung verkünden, wird sich die Lage beruhigen und niemand wird sich mehr fragen, was in dem Land vor sich geht. Sobald das Thema aus den Schlagzeilen verschwunden ist, wird die harte Arbeit beginnen. Zu diesem Zeitpunkt werden unsere Frauen ihre internationalen Begleiter·innen brauchen, um sich Gehör zu verschaffen.

Ich befürchte, dass das Internet irgendwann abgeschaltet wird. Dies kann geschehen, weil die Taliban möglicherweise nicht wollen, dass Beweise für ihre Verbrechen veröffentlicht werden. Dann sollten diese Stimmen in alle Ecken der Welt gelangen, damit die afghanischen Frauen nicht allein gelassen werden. Es gibt Leute, die sagen, wenn das, was passiert, friedlich ist, wie die Taliban behaupten, gibt es kein Problem. Aber nein, es ist nicht in Ordnung. Ein Friedhof kann auch friedlich sein. Wir wollen nicht, dass unser Land zu einem Friedhof wird.

  1. Die Scharia ist das islamische Recht, das sich auf den Koran und den Hadith, die ergänzenden Texte dieses Glaubens, stützt. Sie wurde in mehreren Ländern mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit übernommen.
  2. Die Hazara, welche überwiegend schiitische Muslime sind, waren einst eine der grössten ethnischen Gruppen in Afghanistan und stellten rund 67 Prozent der Bevölkerung des Landes. Man schätzt, dass mehr als die Hälfte dieser Gemeinschaft im späten 19. Jahrhundert massakriert wurde und sie bis heute eines der grössten Angriffsziele der Taliban ist.