Flucht ist kein Verbrechen

von Camillo und Claude, EBF Schweiz, 01.06.2019, Veröffentlicht in Archipel 282

Flucht und Fluchthilfe werden europaweit kriminalisiert. Der Iuventa Crew drohen 20 Jahre Haft in Italien, weil sie über 14‘000 Menschen vor dem Ertrinken gerettet hat1. Jetzt hat die Schweizer Paul Grüninger Stiftung die Iuventa mit einem Menschenrechtspreis geehrt. Auch das Mosaik-Projekt aus Lesbos und die Schweizerin Anni Lanz wurden für ihr Engagement ausgezeichnet.

Paul Ernst Grüninger war Polizeihauptmann in St. Gallen und rettete in den Jahren 1938 und 1939 als leitender Grenzbeamter mehrere hundert jüdische und andere Flüchtlinge vor der nationalsozialistischen Verfolgung und Vernichtung. 1939 wurde er deswegen vom Dienst suspendiert, seine Ansprüche auf Pension wurden aberkannt. Er verstarb 1972 in Armut. Erst 1993 wurde er durch die St. Galler Regierung politisch rehabilitiert. 1995, und damit 23 Jahre nach seinem Tod, hob das Bezirksgericht St. Gallen das Urteil in der Sache Paul Grüninger auf und sprach ihn frei. Der Grosse Rat des Kantons St. Gallen stimmte 1998 einer materiellen Wiedergutmachung zu und entschädigte die Nachkommen Grüningers für die durch die fristlose Entlassung entstandenen Lohn- und Pensionseinbussen des Hauptmanns. Die Nachfahren seiner Familie verzichteten auf dieses Geld und gründeten mit dem gesamten Betrag die Paul Grüninger Stiftung. Diese soll sich unter anderem für die aktive Verteidigung von Menschenrechten einsetzen.

Wie das Stiftungsratsmitglied Wolfgang Kaleck, Rechtsanwalt aus Berlin, in seiner Laudatio ausdrückte, stand die diesjährige Preisverleihung ganz im Zeichen des politischen Erbes Paul Grüningers, indem in der Fluchthilfe aktive Gruppen und Personen ausgezeichnet wurden. Der Hauptpreis, der mit 50‘000 Franken dotiert ist, ging an die Crew des Rettungsschiffes Iuventa, das seit August 2017 von den italienischen Behörden beschlagnahmt wurde. Wir legen diesem Exemplar des Archipels einen Flyer bei und bitten unsere Leser·innen der Crew ihre Solidarität auszudrücken. Die zwei anderen Ausgezeichneten waren einerseits die «älteste Schlepperin der Schweiz» Anni Lanz aus Basel2 und die Flüchtlings-Hilfsgruppe Mosaik aus Lesbos, die je 10‘000 Franken erhielten. Bei der Auszeichnung, die am 11. Mai 2019 in St. Gallen stattfand, wurde sichtbar, dass nicht nur die Aktivist·inn·en als Personen geehrt werden sollten, sondern auch ihr Engagement. Als die Iuventa-Crew auf die Bühne gebeten wurde, forderte sie mehrere andere Fluchthelfer·innen auf, sich zu ihnen zu gesellen. Es waren dies zwei Vertreter von «Are you Syrious» aus Kroatien, Stefan Schmidt von Cap Anamur, ein Mitglied von «Jugend rettet» und der in Briançon verurteilte Théo Buckmaster aus Genf.

Koordination und Zusammenarbeit

Es nahmen ca. 150 Menschen aus verschiedenen Kreisen aus der Schweiz, Deutschland, Belgien, Griechenland, Grossbritannien, Italien, Kroatien und Österreich am Anlass teil. Diese Breite ergab denn auch ein beeindruckendes Bild des zivilen Engagements gegen die Kriminalisierung von Rettung und Unterstützung von Menschen in Not. Die zahlreichen Ansprachen gaben dieser Vielfalt auf eindrückliche Weise ein Gesicht. Zum Abschluss des Abends gab es eine Podiumsdiskussion, welche von Christian Jakob, Co-Autor des Buches «Diktatoren als Türsteher Europas – wie die EU ihre Grenzen nach Afrika verlagert»3, moderiert wurde. Mit am Podium waren Ben Hayes (Transnational Institute, GB), Reto Plattner vom Alarmphone Zürich, Tajana Tadi von Are you Syrious Kroatien, Théo Buckmaster aus Genf und die Kapitänin der Iuventa Pia Klemp. Gemeinsam stellten sie uns dar, wie vielfältig der Widerstand gegen den Bau der Festung Europa ist und wie schnell dieses Engagement von der EU kriminalisiert wird und menschliche Grundwerte von unseren Beamten und Regierungen ad acta gelegt werden.

Die Iuventa-Crew hatte sich bereits im Vorfeld des Ereignisses entschieden, einen Teil des Preisgeldes für die Vernetzung mit ähnlich gesinnten Gruppen zu verwenden. Und so trafen sich am darauffolgenden Tag an die 40 Personen, um sich kennenzulernen und Erfahrungen auszutauschen. Dieses Treffen war für alle Teilnehmer·innen sehr motivierend und es wurde beschlossen, sich auch in Zukunft miteinander zu koordinieren, um nicht alleine gegen die übermächtige Gegnerschaft anzutreten. Camillo und Claude, EBF Schweiz

  1. Mehr Informationen und einsehbare Videos unter jugendrettet.org, siehe auch Artikel «Iuventa – Lebensrettung unter Anklage», Archipel Nr. 280

  2. siehe Artikel «Mut zeigen», Archipel Nr. 277

  3. siehe Artikel «Wenn Entwicklungshilfe dem Grenzschutz dient», Archipel Nr. 266