FRANKREICH: Die hässliche Fratze des Staudammprojekts

von Bertrand Louart, Chronist für Radio Zinzine, 22.12.2014, Veröffentlicht in Archipel 232

Ende Oktober wurde ein junger Mann bei einer Demonstration gegen das Staudammprojekt in Sivens, Südwestfrankreich, durch eine von der Polizei abgefeuerten Granate getötet. Seither wird der Protest gegen das sinnlose Bauvorhaben auf skandalöseWeise von Politik und Medien verunglimpft.

Anfang September 2014 verkündete der französische Premierminister auf offiziellem Besuch im Departement Gironde vor den Mitglieder_innen der FNSEA – der produktivistisch ausgerichteten konservativen Bauerngewerkschaft – stolz: «Wir haben beim Staudamm von Sievens nicht nachgegeben». Diese politische Unnachgiebigkeit scheint, trotz des Todes eines Demonstranten, anzudauern.
Im Fadenkreuz der Behörden sind die Opponent_innen, die gegen dieses völlig überdimensionierte Projekt eine neue ZAD1 gebildet haben. Rémi Fraisse, ein 21-jähriger Ökologiestudent, wurde in der Nacht vom 25. auf den 26. Oktober 2014 bei einer Demonstration gegen dieses Staudammprojekt von Sievens, im Tal des Testet im Südwesten Frankreichs, von der Polizei durch eine auf die Demonstrant_innen gezielt abgefeuerte Granate getötet. Am Sonntag, den 16. November 2014, gab Innenminister Bernard Cazeneuve die Erklärung ab, Rémi Fraisse wäre ohne die Randalierer nicht umgekommen – nicht die leiseste Anteilnahme gegenüber seinen Eltern, Geschwistern und Freund_innen, geschweige denn eine Entschuldigung. Stattdessen rechtfertigte der Innenminister noch einmal die Anwesenheit der 250 mobilen Einsatzkräfte und ihr Verhalten am Ort der Anti-Staudamm-Großveranstaltung, die an diesem Wochenende stattfand, mit dem Halbsatz: «weil Gewalt ausgeübt worden war.» Hinter diesen Lügen verbirgt sich der Wille, die Gegner_innen des Staudamms zu kriminalisieren und die Opfer der Gewalttaten der Polizei als Schuldige hinzustellen. Seit sich eine Opposition zu diesem Raumplanungsprojekt gebildet hat, ist dies zur Strategie der Staatsorgane auf nationaler sowie regionaler Ebene geworden. Denn Cazeneuve weiß nur zu gut, dass die Realität ganz in Gegensatz zu seinen Äußerungen steht: gerade eben weil «Ordnungskräfte» am Ort des geplanten Staudamms waren, kam es zu Zusammenstößen. Sie wollten die Demonstrant_innen mit Waffengewalt vertreiben und haben dabei einen jungen Mann mit einer Angriffsgranate, einer Kriegswaffe, getötet. In Wirklichkeit hatten die Organisator_innen einige Tage vor der langgeplanten Großveranstaltung mit dem Präfekten des Departement Tarn den völligen Abzug der Ordnungskräfte ausgehandelt. Die Maschinen der Baustelle waren einige Tage zuvor ausgelagert worden. Die Handvoll Wachleute und Gendarme, die noch eine Baubaracke und einen Generator bewachten, beides von einem tiefen Graben umgeben und durch zwei Reihen hoher Gitter umzäunt, waren von Projekt-gegner_innen am Vorabend vertrieben und die Baracke und der Generator in Brand gesetzt worden. An der Baustelle blieb absolut nichts mehr für die Ordnungskräfte zu verteidigen.
Was rechtfertigte danach ein derartig demonstratives Auftreten von Ordnungskräften? Die Antwort ist einfach und in der Presseerklärung der Koordination der Projektgegner_innen vom 27. Oktober zu finden:
«Zum Zeitpunkt, da alle Lügen und Interessenskonflikte, die von den Gegnern vor Monaten aufgedeckt wurden, nun durch das Nachforschen von Journalisten und den Bericht der Experten des Ministeriums bestätigt wurden[...], haben der Präsident des Conseil Général2 und der Präfekt des Tarn kein einziges Argument mehr zu Gunsten des Staudamms, außer die angebliche Gewalttätigkeit der Gegner, die sie zu diesem Zweck aufbauschen mussten. Sie brauchten also am Samstag Gewalt und haben sie provoziert. Sie kostete Rémi das Leben.» Anders gesagt haben die zuständigen Organe die Strategie der Erzeugung von Spannungen eingesetzt und sind in ihre eigene Falle getappt.
Was steht auf dem Spiel? Zuerst einmal ist es ein stilles Tal. Hierher kam man zum Spazierengehen, zum Auftanken, Jagen oder Pilzesuchen – vernakuläre3 Tätigkeiten, die nicht merkantil, sondern in einem gewissen Sinn autonomieträchtig sind. Kurzum, dieser Landstrich hat in den Augen der Technokrat_innen und der gewählten Politiker_in-nen das typische Profil, «für nichts nützlich zu sein». In ihren Köpfen gibt es schon lange die Idee, diesen Boden «aufzuwerten» und etwas daraus zu machen, was der wirtschaftlichen Entwicklung dienen könnte. Expert_in-nen erarbeiteten mehrere Vorschläge in diese Richtung: ein künstlicher See, ein Freizeitzentrum, eine Müllverwertungsanlage. Dafür sollte ein bisher verschontes Tal durch große Baustellen zugrunde gerichtet werden, um es in eine Region zu integrieren, die bereits durch intensive Landwirtschaft, Städtebau und Tourismus verwüstet ist.
Im Jahr 2001 wurde mit einer Befragung über den öffentlichen Nutzen einer Verbesserung des Wasserpotentials des Flusses Tescou begonnen und das Projekt eines Wasserstaus im Tal des Tescou tauchte auf. 2009 sollte eine zweite Befragung die Ergebnisse von 2001 aktualisieren; die Angaben waren kaum verändert worden, wohl aber hatte sich die geführte Wassermenge des Tescou innerhalb der vergangenen neun Jahre verändert. Der Wasserbedarf für Bewässerung und Verdünnung des umweltverschmutzten Wassers hatte sich erhöht, wie auch die Anzahl der Landwirt_innen, die für ihre Intensivkulturen massive Bewässerung nötig haben.
Das idyllische kleine Tal, in dem der bescheidene Tescou im Winter anschwillt, soll von der Landkarte verschwinden und stattdessen ein künstlicher Damm mit einem Stauvermögen von 1,5 Millionen m³ Wasser errichtet werden. Mit einer Grundfläche von 48 ha soll sich der Stausee über eine Länge von 1,5 km erstrecken und 13 ha Feuchtgebiet verschlucken, das für seine Fauna und Flora sehr bemerkenswert ist. «Man muss ein solches naturbelassenes Gebiet bewahren», das Hochwasser auffangen und Pestizide filtern kann, beteuerten alle öffentlichen politischen Instanzen, auch der Conseil Général im Departement Tarn. Allerdings nur bis zu dem Moment, als sie die Planung des neuen Staudamms in Angriff nahmen. Das Resultat dieser Planung: Das Projekt wird 8,5 Millionen Euro kosten, die ausschließlich aus öffentlichen Mitteln stammen. Der geplante Staudamm in Sievens soll zu 70% den Landwirt_innen flussabwärts Wasser liefern und zu 30% die im Sommer geführte Wassermenge des Tescou verstärken. Den Gegner_innen des Projekts zufolge handelt es sich vor allem um ein weiteres Zugeständnis an die Interessen einer Handvoll von Maisproduzent_innen und An-hänger_innen der industriellen Landwirtschaft. Wenn der Fluss im August weniger Wasser führt, ist es auch deshalb, weil es für die Bewässerung der Maisfelder weggepumpt wird. Dieser Staudamm ist nicht der einzige, der in dieser Gegend geplant ist, aber hier kristallisieren sich die Frustration und die Wut der Betroffenen, weil sie von der Debatte über die Wasserpolitik systematisch fern gehalten werden. In Frankreich wird diese zu 90% durch die Abgaben der privaten Haushalte finanziert, während die Landwirt_innen nur 2% beisteuern müssen. Aber nur die Vertreter_innen der Letzteren, in Form der konservativen Bauerngewerkschaft FNSEA, werden von den Entscheidungsinstanzen konsultiert.
Macht- und Interessenspolitik Die Initiative wurde von einem Unternehmen ergriffen, das zur Hälfte in öffentlicher und zur Hälfte in privater Hand ist, Es handelt sich um die Compagnie d’amé-nagement des coteaux de Gascogne (CACG)4 und die Agence de l’Eau Adour-Garonne5, zwei Unternehmen, die das Wasserpotential des gesamten Beckens der Garonne um Toulouse flussauf- und abwärts verwalten. Die CACG hat viele Stauseen und Dämme für die verschiedensten Zwecke gebaut: einige für das Kernkraftwerk von Golfech und andere für landwirtschaftliche Zwecke. Für die kommenden Jahre liegen Pläne von weiteren 17 Staudämmen in den Schubladen der Gesellschaft. Die Projektgeg-ner_innen führen unter anderen Punkten die Tatsache an, dass die CACG, die im Jahr 2001 die Befragung über den öffentlichen Nutzen machte, jetzt auch die Bauführung innehat. Also rechtfertigt und realisiert dasselbe Unternehmen das Projekt inmitten des herrschenden Interessenkonflikts.
Außerdem ist der Präsident des Conseil Général des Departements Tarn-et-Garonne, der das Projekt ins Leben gerufen hat, und es ebenfalls mitfinanziert, niemand anderer als Jean-Michel Baylet. Er ist Generaldirektor der Pressegruppe La Dépêche, zu deren Besitz La Dépêche du Midi gehört, eine der meist gelesenen Zeitungen dieser Gegend. J.-M. Baylet ist auch Präsident des Gemeindeverbands Les Deux Rives, Senator mit auslaufendem Mandat von Tarn-et-Garonne, Aufsichtsratspräsident des Atomkraftwerks von Golfech, Präsident eines Bewässerungkonsortiums und vor allem Präsident der Partei der radikalen Linken (PRG), welche momentan die einzige Bündnispartnerin der Regierung und ihrer so genannten «sozialistischen» Mehrheit im Parlament ist.
Thierry Carcenac von der sozialistischen Partei, seit 1991 Präsident des Conseil Général des Departement Tarn, beharrt auf seinem Standpunkt, den er von Anfang an vertreten hat:»Es hat ein Anhörungsverfahren gegeben (bei dem sich übrigens mehrheitlich ablehnende Meinungen ausgedrückten, Anm. d. Autors), die Conseillers Généraux haben sich dafür ausgesprochen und die Beschwerden, die bis zum heutigen Zeitpunkt von der zuständigen Gerichtsbarkeit geprüft wurden, lassen es zu, die Bauarbeiten völlig legal zu beginnen». Wenn sich die Bauarbeiten noch mehr verzögern, verliert er 30% der Finanzierung durch die Europäische Union, deren Frist abläuft.
Eine Spirale von Lügen und Gewalt Die kleine Clique von Honoratioren hat eine sehr dehnbare Vorstellung von Legalität und Rechtsstaat, wie Bernard Viguié, der ehemalige Anwalt im Streitfall um den Staudamm von Fourogue (Tarn), unterstreicht:
«Erinnern wir uns an die Geschichte des Staudamms von Fourogue bei Albi. Es ging in etwa um die gleiche Dimension und dieselben Personen und Institutionen zeichneten dafür verantwortlich: der Präsident des Conseil Général, Thierry Carcenac und die CACG. Das Urteil des Verwaltungsgerichts von Toulouse vom 16. Oktober 1997 ordnete die Aufhebung des Erlasses vom 30. Juli 1997 an, welcher die Arbeiten zur Realisierung des Staudamms von Fourogue als gemeinnützig erklärt hatte. Was haben unsere großen Verteidiger des Rechtsstaats daraufhin gemacht? Sie haben die Arbeiten trotzdem geschehen lassen. Was machte der Staatsanwalt von Albi, der den Rechtsstaat verteidigen sollte? Nichts.»
Viele der Kommentator_innen, die den «Rechtsstaat» verteidigen, unterstützen die Entscheidungen von Leuten, die «demokratisch gewählt» wurden und entrüsten sich über die «Gewalttätigkeiten», die von «Randalierern» verübt werden. Sie verlieren aber einen wesentlichen Punkt aus den Augen: Der Staat mit seinem Monopol auf die «legitime Gewalt» ist vor allem da, um private Interessen zu schützen, die dem Wirtschaftswachstum verbunden sind. Wenn die Bauerngewerkschaft FNSEA in aller Ruhe Hunderte von Tonnen Mist in Albi, Rodez und anderswo verteilt, um gegen die restriktive Reglementierung von Nitrat zum Schutz des Grundwassers zu protestieren, wird keiner angezeigt wegen «Beschädigung» oder «Störung der öffentlichen Ordnung». Aber wenn sich die Projektgegner_innen anschicken, das Tal von Testet mit friedlichen Methoden zu verteidigen, um die Verwüstung des Staatsforstes zu verhindern, werden sofort Einsatztruppen von schwer bewaffneten Gendarmen geschickt. Die Gewalttaten und Lügen des Staates sind die Kontinuität davon, was von der lokalen Exekutive seit Beginn der Angelegenheit von Sievens inszeniert wird: Verschleierung der wahren Interessen durch eine obskure Gemeinnützigkeitsstudie, verstümmelte Zahlen, ignorierte Gegenargumente, rapide Zunahme der polizeilichen Gewalttätigkeiten gegenüber den Geg-ner_innen. Diese Gewalt- und Lügenspirale ist kein Zufall: Nur zu diesem Preis kann man heute noch erhoffen, das Bruttoinlandsprodukt auf ein paar Zehntelpunkte hinter dem Komma steigern zu können. Die Flagge des Wachstums steht auf Halbmast. So bleibt nichts anderes übrig als «eine künstliche Wirtschaft dank öffentlicher Gelder zu erzeugen», wie es die Gegner_innen in Sievens in ihrem Appell vom 25. Oktober 2014 anprangern. Deshalb scheint es an der Tagesordnung zu sein, die Menschen und die Natur nach Strich und Faden auszubeuten.
Der Staat ist dabei, die Gräben noch zu vertiefen, und er zeigt, dass es für ihn zwei Kategorien von Bürger_innen gibt: die «Guten», Konsument_innen von Gütern und Dienstleistungen, die folgsam an der Aufwertung des Kapitals teilnehmen, und die «Bösen», die danach trachten, ihre Angelegenheiten selbst in die Hand zu nehmen. Der Staat ist nicht in der Lage zu akzeptieren, dass Menschen ihre Umwelt und ihre Ideen verteidigen können, ohne irgendein materielles Eigeninteresse daran zu haben.
Aus diesen Gründen hat sich eine neue ZAD – «eine befreite und besetzte Zone, die zu verteidigen ist» – in Sievens gebildet. Jede_r kann auf ihre, seine Art daran teilnehmen: einen Stein für den Barrikadenbau beisteuern, ein Brett für eine Hütte, Gemüse für die kollektive Suppe; Hände, um den Brotteig für alle zu kneten und Ideen, um sie bei den Versammlungen einzubringen. Wetten wir, dass sich diese Kämpfe für die Erhaltung der Umwelt und den Schutz bestimmter Territorien vermehren werden! Betrachten wir sie als den Beginn einer breiter angelegten Wiederaneignung unserer Existenzgrundlagen.

Für französischsprachige Leser_innen gibt es mehr Information auf der Webseite der ZAD von Sievens:

http://tantquilyauradesbouilles.wordpress.com Kontaktadresse per E-mail: amisdesbouilles@riseup.net

  1. Zone à défendre: «zu verteidigende Zone»; erstmals als Begriff für das Gelände um den geplanten Flughafen in Nantes, Notre Dame des Landes, verwendet. Heute gibt es mehrere «ZADs» in ganz Frankreich.