FRANKREICH: Für den Sieg des Lebens!

von Alysse Odorante, 12.05.2006, Veröffentlicht in Archipel 138

In den letzten Wochen erlebte Frankreich eine sehr breite Bewegung, die einen Gesetzesentwurf über die Erstanstellung junger Leute ablehnte. Die Medien, welche über die Demonstrationen, Besetzungen und andere Aktionen ausführlich Bericht erstattet hatten, schreiben seit dem Rückzug der französischen Regierung praktisch nicht mehr über die Bewegung. Dennoch sind viele, die gegen den CPE 1 protestiert haben, noch mobilisiert. Wir veröffentlichen hier den Appell einer dieser Gruppen sowie einen kleinen Bericht über die "blumige" Besetzung eines Gymnasiums in Alès.

Aufruf vom Raspail

An die mehr oder weniger in Unsicherheit lebenden Studenten, Arbeitslosen und Lohnempfänger in Frankreich und Navarra, an alle, die jetzt, in diesen Tagen, gegen den CPE und vielleicht sogar gegen mehr als nur das kämpfen…

Jetzt, da wir immer deutlicher vor Augen haben, wie die Erde vollständig von unserer Art zu leben verzehrt wird, jetzt, da die Wissenschaftler darauf fixiert sind, uns für unseren Konsum die Eroberung anderer Planeten in Aussicht zu stellen, wollen wir, Regulär- oder Gelegenheitsarbeiter und -studenten der Pariser Region und von anderswo, an diesem ersten Frühlingstag Besetzer des Zentrums zum Studium der Industrialisierung in der 4. Etage der EHESS 2, darüber nachdenken, was ein nachhaltiges und wünschenswertes Leben in einer anderen, endlichen Welt sein könnte.

Es scheint uns unmöglich, die Frage nach der Unsicherheit des Arbeitsplatzes und der Geldeinkünfte zu stellen, ohne zugleich nach der Unsicherheit des Überlebens der Menschheit insgesamt zu fragen. In diesen Zeiten einer weit vorangeschrittenen ökologischen Katastrophe denken wir, dass jegliche politische Position und jegliche Forderung, die den Charakter der Ausweglosigkeit von Wachstum und ökonomischer Entwicklung unberücksichtigt lässt, nicht den geringsten Wert haben können.

Wir sind also zugleich fantastische Utopisten und radikale Pragmatiker, im Grunde sogar weit pragmatischer als all die «glaubwürdigen» Geschäftsführer des Kapitals und der sozialen Bewegungen.

Wir wollen den Kult sprengen, der veranstaltet wird um die Schöpfer von Arbeitsplätzen und Reichtum, die mit Unterstützung der Linken in den achtziger Jahren zu neuen Ehren gelangt sind.

Jeglicher Diskurs über Ausbeutung sowie die Unsicherheit von Lebensverhältnissen hat keinen Sinn und ist uneffektiv, wenn es untersagt bleibt, diese «Wohltäter der Menschheit» scharf anzugreifen, so wie sie es verdienen.

Wir wollen außerdem mit dem Tabu der Anti-CPE-Bewegung brechen: Die Perspektive von Vollbeschäftigung, die die meisten ihrer Losungen und Forderungen voraussetzen, ist weder realistisch noch wünschenswert. Im Westen wird die menschliche Arbeit seit Jahrzehnten massenweise durch den Einsatz von Maschinen und Computern abgeschafft. Für das Kapital war sie natürlich nie mehr als eine Ware, aber anders als früher erfordert die Akkumulation von Geldvermögen im aktuellen Stadium des technologischen «Fortschritts» noch weit weniger menschliche Arbeit. Man muss sich klarmachen, dass der Kapitalismus nicht mehr in der Lage ist, ausreichend Arbeitsplätze für alle zu schaffen und einsehen, dass die, welche dennoch mit viel Aufwand geschaffen werden, zunehmend sinnentleert sind, losgelöst von unseren fundamentalen Bedürfnissen.

Dieses System verlagert zwangsläufig die materielle Produktion in die «Entwicklungsländer», wo folglich die ökologischen Katastrophen konzentriert sind (aber wir bleiben keines-falls verschont). Und bei uns, in unserer Ökonomie der angeblich nichtmateriellen Dienstleistungen, stehen Arbeitsstellen für Knechte in Blüte: als Sklaven des Taktmaßes von Robotern, als Hausangestellte für den «Personendienst» (siehe die letzten Pläne Borloos, des Ministers für soziale Infrastrukturen), als kleine Söldner des Managements. Stark und zukunftsweisend wird diese Bewegung nur sein, wenn sie eine deutliche Kritik der modernen Arbeitsverhältnisse erkennen lässt. Und wenn sie es versteht, definitiv klarzustellen, dass aus dieser Krise kein Weg herausführen wird. Wir denken, dass sich eine konsequente soziale Bewegung zum Ziel setzen sollte, dieser Ökonomie bei ihrem Zusammenbruch zu helfen. Die heutige Welt kennt kein Draussen mehr, die Hoffnung, zu entkommen, gibt es nicht. Also müssen hier geduldig Lebensumstände hergestellt werden, in denen der Mensch seinen Unterhalt produzieren kann ohne den Wettlauf mit der industriellen Maschinerie. Erst da, von ihr befreit, werden neue Verhältnisse zwischen den Menschen entstehen. Zugleich sollte man darangehen, bestimmte Produktionszweige, die nutzlos oder schädlich sind, vollständig zu liquidieren. Natürlich, all das erfordert in unseren Diskursen und in unserer Praxis eine entschlossene Ablehnung des Staates und seiner Repräsentanten, die fast immer zu Hindernissen für unsere Autonomieprojekte werden.

Machen wir Schluss damit, für alle eine feste Anstellung zu fordern (selbst wenn es jedem passieren kann, nach einer Arbeit oder Geld zu suchen).

Möge die Krise sich zuspitzen! Für den Sieg des Lebens!

Die Besetzer des Zentrums zum Studium der Industrialisierung (an der Schule für Höhere Studien der Sozialwissenschaften, Raspail-Boulevard in

Paris), konstituiert als

Komitee für Entindustrialisierung der Welt,

zwischen der Morgendämmerung des 21. März 2006 und der darauf

folgenden späten Nacht

Blumenguerilla

Das Gymnasium Jean-Baptiste Dumas, im Herzen des Arbeiterviertels von Prés Saint Jean in Alès (Département Gard) ist seit Montag, dem 28. März, besetzt. Ein Feuer brennt ununterbrochen vor dem Eingang, der durch eine Barrikade versperrt ist. Am Ende der Woche kam Spannung auf, als das Innenministerium mit einer Räumung durch die Polizei drohte.

Die Jugendlichen des Viertels kamen zahlreich, um uns zu unterstützen und mit uns endlose Diskussionen zu führen. Diese Blockade bot auch Gelegenheiten für verschiedene kollektive Aktivitäten (Essen, Videoprojektionen zur Geschichte der Einwanderung, zu Nanotechnologien ….)

Die nächtliche Besetzung ermöglichte aber auch, auf den verschiedensten Wegen durch das Gymnasium zu ziehen - zu Fuß, mit dem Fahrrad, mit dem Skateboard - und Kletterpartien zu unternehmen.

In der Nacht von Donnerstag zu Freitag, bei Neumond haben das Kommando Schwarzer Rettich sowie die Königinnen der Margeriten mehrere Hektar videoüberwachter Rasenfläche dieser unendlich großen Anstalt attackiert, um dort zu Dutzenden ihre Gedanken, ihre Sorgen, Sonnen- und andere Blumen auszusäen und so mit ihrem Samen die führenden Köpfe der Regierung in Erregung zu versetzen. Rasenflächen, Böschungen, Hecken - nichts wurde verschont.

Keinerlei Festnahmen, keine Gefangenen: Die geheime Aktion war ein voller Erfolg.

In einem Monat wird dieses Gymnasium von unserem Kampf erblühen und angesichts unserer Gedanken in voller Blüte werden wir uns erinnern.

Für die folgende Woche ist eine weitere Aktion vorgesehen, um Solidarität zu üben mit anderen Stadtvierteln in den Cevennen.

Alysse Odorante

  1. Contrat première embauche - Erstanstellungsvertrag

  2. Schule für Höhere Studien der Sozialwissenschaften