FRANKREICH: Ihr schmeisst uns nicht raus!

von Die Amsel,Anfang Februar 2016, 28.02.2016, Veröffentlicht in Archipel 245

Wir wehren uns gegen den Ausnahmezustand und gegen das völlig unnötige Bauprojekt des Flughafens von Notre Dame des Landes (NDDL) im Pays de Loire.

In heiliger anti-terroristischer Einigkeit werden die Ränge geschlossen, um jeder abweichenden Stimme, jedem Protest einen Maulkorb anzulegen. Die Emotionen, die durch die Attentate in Paris hervorgerufen wurden, werden instrumentalisiert, um die Basis für eine neue, komplett normierte Art des Regierens zu legen, welche Moralisierung mit Polarisierung kombiniert. Jede und jeder wird indirekt dazu aufgefordert, zwischen dem Anschluss an eine nationale Pseudoeinheit und dem möglichen Ausschluss aus der Gesellschaft zu wählen. So kann eine mit Hilfe der Datenbankerfassung von allen Störfaktoren gereinigte neue Gesellschaft entstehen.
Kurzer Rückblick
Die Idee eines zweiten Flughafens in Nantes entstand in den 1960er Jahren. 1965 beginnt der Präfekt des Departements Loire-Atlantique sich offiziell nach einem geeigneten Ort für einen neuen Flughafen für die Regionen Bretagne und Pays de la Loire umzuschauen. 1970 bildet sich die erste Widerstandsbewegung gegen dieses Projekt. 1972 wird von den Regional- und Gemeindevertretern für die Gründung einer Zone d’Aménagement Différée (ZAD), einer «Zone für langfristigen Ausbau» gestimmt. 1974 wird diese per Dekret beschlossen, was zu grosser Empörung bei einem Teil der Bevölkerung des ausgewählten Gebietes von «Notre Dame des Landes» führt. 2007 wird zum ersten Mal von Projektgegner_innen eines der verlassenen Häuser auf der ZAD besetzt. Sie wird zur Zone À Défendre («zu verteidigende Zone») umbenannt.
Mobilisierung ab Januar 2016
Die extrem grosse Mobilisierung am 9. Januar in Nantes zeigt die aktuelle Protestkapazität der Gegner_innen des Flughafenprojektes in NDDL. 20'000 Personen und 400 Traktoren, viele davon auch aus weiter weg gelegenen Orten, kamen zu dieser Demonstration, die in weniger als zwei Wochen organisiert worden war. Gleichzeitig fanden in mehr als dreissig französischen Städten und sogar im Ausland verschiedenste Kundgebungen statt, die teilweise eine Woche danach, am 16. Januar, fortgesetzt wurden: Besetzen von öffentlichen Plätzen, Konzerte, Diskussionen, Banquets und andere Zusammenkünfte, um die Solidarität mit dem Kampf um Notre Dame des Landes zu zeigen und den Ausnahmezustand anzuprangern. Ziel der grossen Demonstration auf der Autobahn in Nantes war es, das Kräfteverhältnis um Notre Dame des Landes zu messen und Druck auf die AGO–Vinci 1 zu erzeugen, damit deren Klage gegen die Bauern und Bäuerinnen, die seit Jahrzehnten hier leben, zurückgezogen wird. Vorläufig wurde denselben nahegelegt, das Gelände so bald wie möglich mit dem gesamten Viehbestand zu verlassen.
Die Demonstration am 9. Januar war eine «erste Warnung» an die staatlichen Autoritäten und an Vinci, wie die Texte auf den verschiedenen Banderolen und Graffitis bezeugten, die zu diesem Anlass auf der Stadtautobahn in Nantes angebracht wurden, da wo die protestierenden Radfahrer_in-nen, Fussgänger_innen, Bäuerinnen und Bauern mit ihren Traktoren zusammenkamen.
Die verschiedenen Aktionen in den Tagen danach, die von den so genannten «historischen» Bäuerinnen und Bauern des Kollektivs COPAIN 44 2 ausgeführt wurden, z.B. die «Operation Schnecke» (in der die Autobahn durch Reihen von sehr langsam fahrenden Fahrzeugen blockiert wurde), wurden von etlichen Lokalkomitees und Bewohner_innen der Region tatkräftig unterstützt. Das zeigt die immer stärker werdenden Verbindungen zwischen den Protestierenden und ihre gemeinsame Entschlossenheit. Die ACIPA3 z.B. hat inzwischen auch einen etwas «radikaleren» Diskurs, wie in ihrem letzten Manifest: Notre Dame des Landes: nous accusons! («NDDL: wir klagen an») zu lesen ist.
Gemeinsamer Widerstand
Für mich war die Mobilisierung in Nantes am 9. Januar strategisch bedeutender, um den Ausnahmezustand anzuprangern, als alle vorhergehenden Demonstrationen, die direkt gegen denselben gerichtet waren. Die Strategie dieses indirekten Widerstands, der von verschiedenartigsten, an 35 anderen Orten organisierten Aktionen bis hin nach Barcelona unterstützt wurde, scheint mir wirkungsvoller zu sein als die Demonstration am 30. November 2015 in Paris. Am 9. Januar war auf der einen Seite der Block der wirtschaftlich und staatlich Mächtigen und auf der anderen eine Unmenge von widerständigen Organisationen, Gruppen und Einzelpersonen mit zum Teil sehr verschiedenen Ideen und Ideologien. Dennoch haben sie am selben Strang gezogen und stellen heute eine neue Kraft dar.
Im Gegensatz zur Situation im Jahr 2012 während des Widerstands (vor allem in Nantes, aber auch an anderen Orten) gegen das Bemühen der Polizeikräfte, die ZAD zu räumen (Opération César), ist das Netz der Unterstützungskomitees jetzt viel grösser, nach vier Jahren Erfahrungsaustausch besser verankert und auch mit anderen Widerstandsbewegungen, wie z.B. derjenigen gegen das Staudammprojekt bei Sivens, verbunden. Im Falle einer Räumung der ZAD durch Polizeikräfte sind an den verschiedenen anderen Widerstandsorten in ganz Frankreich Aktionen geplant, die die Polizeikräfte überall mobilisieren sollen, damit sie nicht zum Einsatz nach NDDL geschickt werden können. Wahrscheinlich wird die Regierung darauf mit einer Ausweitung der aktuellen Einschüchterungsstrategie durch Angstmache und Repression in ganz Frankreich reagieren. Man wird sich nicht nur auf den Widerstandskern in Nantes konzentrieren, sondern viel breiter, diffuser und unerwarteter im ganzen Land Kontrollen durchführen und Daten registrieren, um ein Maximum an Netzwerken und Personen zu erfassen – nach dem Schema von mehreren hundert völlig «unlogischen» Festnahmen und Hausarresten seit Dezember 2015.
Am 13. Januar, dem Tag des Prozesses gegen die «historischen» Bäuerinnen und Bauern, versammelten sich an die 3000 Personen vor dem Landesgericht in Nantes. Der Geschäftsführer von Vinci versuchte, die Protestierenden zu beruhigen bzw. hinters Licht zu führen, indem er gegen Mittag verlautbarte, dass es noch nicht sicher sei, dass der Flughafen überhaupt gebaut würde. Möglicherweise wird die Justiz die heisse Kartoffel der Entscheidung der Regierung überlassen, um nicht für die Räumung verantwortlich sein zu müssen. Der Entscheid wurde auf den 25. Januar vertagt. (An diesem Tag bestätigte der Richter im Landesgericht von Nantes die Ausweisung der letzten historischen Bäuerinnen und Bauern von der ZAD, aber ohne diese mit Geldstrafen für die Zeit der Besetzung zu belangen, was ursprünglich befürchtet worden war. Elf Familien und vier Bauern sind von den Ausweisungen betroffen. Acht der elf Familien haben eine Frist von zwei Monaten für die Räumung bekommen, bis zum 26. März. Zurzeit gibt es jedoch fast täglich neue Erklärungen von verschiedenen Instanzen bezüglich der Räumung des Geländes. Offensichtlich ist sehr unklar, für wann und in welcher Form diesselbe geplant werden soll. Anm.d.Red.)
Wie geht es weiter?
Als Antwort auf die Ende des Jahres 2015 publizierte Ausschreibung der AGO-Vinci, demnächst mit den Bauarbeiten zu beginnen, gab es da den Aufruf, sich am 30. und 31. Januar, an diversen kollektiven Baustellen auf der ZAD zu beteiligen. Das Ziel dieser kollektiven Baustellen ist es, die verschiedenen landwirtschaftlichen, defensiven und für Versammlungen und Feste vorgesehenen Einrichtungen, die es bereits gibt, auszubauen und zu verbessern. Ein Spendenaufruf für Material- und Geldspenden wurde gestartet, auch um die voraussichtlichen Geldstrafen der 19 Personen, die im Zuge der «Operation Schnecke» wegen «Verkehrsbehinderung» angeklagt wurden, begleichen zu können. Der Prozess soll am 24. Februar stattfinden. Ausserdem müssen wir jederzeit mit Räumungsversuchen rechnen. Alle direkten und indirekten Versuche, die Bewohner_innen der ZAD hinaus zu schmeissen, werden wohl bis März stattfinden, wenn man nach dem Kalender des «Rechtsstaats» geht. Denn es müssen ja das Wassergesetz und die unter Naturschutz stehenden seltenen Tierarten, die ab Ende März Schonzeit haben, berücksichtigt werden!
Angesichts des immer ungleicher werdenden Kräfteverhältnisses und des Ausnahmezustands, der wohl auch in den nächsten Monaten bzw. Jahren nicht aufgelöst werden soll, scheint es mir im Moment am Wichtigsten, vermehrt verschiedenste Formen des Widerstands auf informelle Weise zu organisieren und auch auf internationaler Ebene miteinander zu kooperieren.

  1. Aeroport de Grand Ouest, Flughafen im grossen Westen des Energie- und Baukonzerns Vinci. Es handelt sich um dasselbe Unternehmen, das sämtliche Autobahnen in Frankreich baut und besitzt.
  2. Collectif des Organisations Professionnelles Agricoles indignées par le projet de l’aéroport dans le département 44, Kollektiv der landwirtschaftlichen Berufsorganisationen, die sich gegen das Flughafenprojekt im Departement 44 wehren.
  3. Association Citoyenne Intercommunale des Populations Concernées par le Projet d’Aéroport de NDDL, Zusammenschluss von Bürger_innen verschiedener Gemeinden, die vom Flughafenprojekt NDDL betroffen sind.