FRANKREICH: Woher der Hass?

von Alex Robin, Radio Zinzine, 16.12.2015, Veröffentlicht in Archipel 243

Freitag, den 13. November 2015: Durch Selbstmordattentäter verübte Massaker in Paris fordern mindestens 130 Tote und über 300 Schwerverletzte. Der Islamische Staat (IS) übernimmt die Verantwortung dafür. Trotz grosser emotioneller Betroffenheit versucht unser Korrespondent aus Frankreich möglichst sachlich die Hintergründe zu erhellen und einige der Konsequenzen darzustellen.

Ziele der Attentate waren die Menschen in einem Fussball-Stadion während des Länderspiels zwischen Frankreich und Deutschland sowie die auf den belebten Bistro-Terrassen im Stadtzentrum und in einem Konzert im Saal des Bataclan, wo es zu den meisten Opfern kam. Besonders traumatisierend ist es, dass diese Anschläge in einer nie gekannten Grössenordnung stattgefunden haben, und dass sich acht Selbstmordattentäter, alles junge Dschihadisten aus Europa, inmitten der Menschenmengen mit Sprenggürteln in die Luft jagten. Es handelte sich um eigentliche Kriegsszenen, die sich da mitten in Paris abgespielt haben, und den Attentätern ging es darum, ohne jegliche Unterscheidung möglichst viele Menschen umzubringen.
Am Tag danach erklärte Präsident François Hollande, dass Frankreich Opfer eines Kriegsaktes des IS geworden sei, der die Werte Frankreichs zerstören wolle, nämlich die «eines freien Landes, welches die ganze Welt anspricht.» In der Folge wurde der Ausnahmezustand ausgerufen und auf drei Monate verlängert, sogar eine Verfassungsänderung wird in Betracht gezogen. So werden also die Freiheiten, auf die man so stolz ist, im Namen der Sicherheit massiv eingeschränkt. Dass aber diese «universellen» Freiheiten so oder so nicht für alle auf der Welt gleich gelten, ist sicherlich ein Teil vom Ursprung des Problems. Die kriegerische Reaktion von Frankreich mit massiven Bombardierungen auf den IS in Syrien scheint wie eine Flucht nach vorne, die das Problem wahrscheinlich noch verschlimmern wird.
Bezug zum Krieg in Syrien
Ein paar Tage vor den Pariser Anschlägen war der IS in zwei andere Massaker verwickelt: in ein Bombenattentat in Beirut und in den Abschuss eines russischen Verkehrsflugzeugs über dem Sinai. Diese zwei Massenmorde sowie derjenige von Paris stehen in Verbindung zum Krieg in Syrien. Im Gegensatz zu den Anschlägen auf das Satiremagazin Charlie Hebdo im Januar 2015 besteht dieses Mal in Frankreich von Anfang an kein Zweifel daran. Ein Überlebender aus dem Konzertsaal des Bataclan zitiert einen der Angreifer: «Für das, was euch hier geschieht, könnt Ihr Euch bei Präsident Hollande bedanken. Frauen und Kinder sterben in Syrien unter den Bomben. Wir gehören zum Islamischen Staat und wir sind hier, um unsere Familien zu rächen.» Es ist hier also nicht mehr möglich, diesen Krieg zu ignorieren, in den Frankreich involviert ist. Dieser Krieg, den wir nicht wahrhaben wollten, hat einerseits Hunderttausende Flüchtlinge in Richtung Europa in Bewegung gesetzt und andererseits gelangen jetzt dessen mörderische Flammen bis in unsere Strassen.
Die französische Teilnahme am Krieg in Syrien datiert jedoch nicht erst seit diesen Anschlägen in Paris, nach denen Präsident Hollande erklärt hat, dass wir uns nun im Krieg befänden, sondern bereits seit August 2014. Frankreich hatte sich damals dazu entschlossen, die USA bei den Bombardierungen gegen den IS zu unterstützen, nachdem die Enthauptungen von westlichen Staatsbürgern publik wurden. Es geht hier nicht darum, die Terrorakte von Paris mit dem Krieg in Syrien zu rechtfertigen, denn von unserer Warte aus gesehen sind diese durch absolut nichts zu rechtfertigen. Es gilt jedoch darüber nachzudenken, in welchem Kontext sie entstanden sein könnten. Genau zum Zeitpunkt, als die Bombardierungen des Westens losgingen, im September 2014, erklärte der Sprecher des IS, dass man «alle amerikanischen und europäischen Ungläubigen» töten müsse, und «im Besonderen die gemeinen und schmutzigen Franzosen». Wenn man sich im Mittleren Osten auf die Seite der USA begibt, unterstützt man automatisch eine Politik, die Teil des Problems ist.
Widersprüchliche Interessen
Denn die Entstehung des IS ist hauptsächlich auf die lokale politische Gewalt und auf die Installierung eines schiitischen Regimes in Bagdad durch die USA zurückzuführen, welches die ehemalige sunnitische Elite des Iraks willkürlich demütigte und unterdrückte. So wurde zum Beispiel die grosse Stadt Mossul im Jahr 2014 vom IS ohne Gegenwehr eingenommen, weil ein Teil der Bevölkerung mit dem «Kalifat» sympathisierte, während ein anderer Teil Angst hatte. Das heisst, dass das Problem IS nicht nur mit militärischen Mitteln gelöst werden kann und dass es Sicherheit für die Sunniten in dieser Region braucht, damit diese nicht meinen, den Schutz von den Kriegsherren des IS in Anspruch nehmen zu müssen. Gleichzeitig hat sich der IS in Syrien breitmachen können, auch, weil das syrische Regime ihn hat gewähren lassen. Währenddessen erfuhren die Kräfte der «Freien syrischen Armee» viel zu wenig internationale Unterstützung. So konnte sich das syrische Regime als alleiniges Bollwerk gegen den «IS-Teufel» präsentieren. Militärisch ist es sicherlich möglich, den IS in Syrien sowie im Irak einzudämmen, zumal er interne Widersprüche aufweist; einerseits will er ein Kalifat vor Ort errichten und andererseits Gewalt exportieren, was für ihn fatale Folgen haben könnte. Um jedoch das Problem von Grund auf zu lösen, braucht es eine globale Herangehensweise. Wie können die «Paten» der verschiedenen Konfliktparteien ein Einverständnis finden? Angesichts widersprüchlicher Diplomatie und verschiedener Interessen der jeweiligen Protagonisten ist dies extrem schwierig. Es besteht die Gefahr, dass Frankreich, im Namen eines Übereinkommens auf Minimalbasis mit den anderen Mächten, die «Freie syrische Armee» und den zivilen Widerstand, trotz ihrer Repräsentativität und Glaubwürdigkeit, fallen lassen könnte.
Ein trojanisches Pferd
Auch wenn der Krieg eine zentrale Rolle im Drama von Paris gespielt haben mag, so muss dieses dennoch in Verbindung gesetzt werden mit der Tatsache, dass viele junge Europäer_innen sehr schlecht in unserer Gesellschaft integriert worden sind. Es wird angenommen, dass Hunderte von ihnen dazu entschlossen sind, gegen Frankreich und andere westliche Staaten von innen her gewaltsam vorzugehen. Man kann darin eine Verengung des geistigen Horizonts und einen Fanatismus erkennen, der den Geist der Aufklärung und den westlichen Lebensstil vernichten will. Diese Tatsache kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass unsere Gesellschaft den Boden dafür mitbereitet hat. Sogar der französische Wirtschaftsminister Macron hat wenige Tage nach den Attentaten eingestanden, dass jemand, der einen Bart oder einen Namen muslimischer Herkunft trägt vier Mal geringere Chancen hat, einen Arbeitsplatz zu finden. Der Politologe Jean François Bayart schreibt in seinem Text «Le retour du boomerang» («Die Rückkehr des Boomerangs»): «Anstatt vom Trumpf des Bi-Kulturalismus vieler junger Franzosen zu profitieren, haben wir einen grossen Teil von ihnen – und hauptsächlich die Muslime – in die Marginalität abgedrängt und wir haben an ihrer Zugehörigkeit zur Nation gezweifelt, so dass viele selber begannen, daran zu zweifeln.» So kann die identitäre Dummheit leicht Wurzeln schlagen und sich symetrisch zwischen «komplementären Feinden» entwickeln, wie die Anthropologin Germaine Tillon feststellt, das heisst, zwischen islamfeindlichen Ideologen einer-seits und islamistischen Radikalen andererseits. Der Islamische Staat und andere Unternehmen der Apokalypse haben Erfolg, weil sie unter den Wenigen sind, die einen Empfang für junge Menschen, die mit der Gesellschaft gebrochen haben, organisieren und für diese einen radikalen Diskurs bereithalten. Es ist die Mischung aus Frustration über die französische Gesellschaft und die Rolle Frankreichs in der Welt, die als Grundlage für die Attentate benützt wird. In Belgien, von wo aus mehrere Dschihadisten an den Attentaten in Paris beteiligt waren, ist die Situation ganz ähnlich.
Bruch mit der Gesellschaft
Aber der Krieg sowie die soziale und wirtschaftliche Ausgrenzung reichen nicht unbedingt aus, um zu erklären, warum jemand bereit ist zu sterben und dabei noch Dutzende von Menschen mit in den Tod reissen will. Die Beziehung zu einer Religion ist auch keine abschliessende Erklärung, wie der Publizist Robert Trenkle in seinem Text in diesem Archipel beweist. Der Anti-Terror-Richter Trévidic bestätigt, dass die Dschihadisten zum grossen Teil Konvertiten sind, die sich quasi in letzter Minute bekehren, und dass sie zu 90 Prozent aus persönlichen Motiven handeln: «um sich abzuheben, um Abenteuer zu suchen, um sich zu rächen, weil sie nicht ihren Platz in der Gesellschaft finden.» Der Religionsexperte Raphaël Liogier meint, dass gewisse Politiker_in-nen einen grossen Fehler begehen, wenn diese die salafistischen Fundamentalisten, die pietistisch und weltabgewandt ausgerichtet sind, mit den Dschihadisten gleichsetzen, die sich auf einer Flucht nach vorne befinden, welche moderne Merkmale aufweist. Die Letztgenannten vollziehen den Bruch mit ihrer Umgebung, bevor sie überhaupt eine religiöse Haltung einnehmen. Dieser Bruch hat psychologische Dimensionen, die bisher leider nur wenig erhellt wurden. Es gibt jedoch einige Hinweise: Bei Heranwachsenden, denen ein strukturierendes Umfeld fehlt und die in einer völlig materialistisch ausgerichteten Gesellschaft verloren sind, kommt es oftmals zu einem Mangel an Empathie und zu narzistischen Verletzungen. Diese würden durch Rachegelüste, Komplott-Wahnvorstellungen und apokalyptische Fantasien genährt, wie der Schriftsteller und Historiker Christian Salmon feststellt.
Das globale Schaufenster
Dieses Phänomen überlappt sich mit einem Effekt, den Raphaël Liogier als «globales Schaufenster» in unserer heutigen globalisierten Welt bezeichnet. Die herrschende Kommunikation bringt auf brutale Weise Kulturen in gegenseitigen Kontakt, die ganz verschiedene Lebensstandards haben. Dadurch entstehen enorme Spannungen. Der Anthropologe Charles Grémont hat bemerkt, dass die jungen Islamisten im Norden Malis aus Frustrationen heraus an dem herrschenden globalisierten Modell Rache nehmen wollen, das heisst am reichen weissen Mann, der liberale Ansichten vertritt. Daraus können natürlich auch gerechtfertigte Revolten gegen die Kriege entstehen, welche die westlichen Mächte im Nahen Osten führen. Die Soziologin Dounia Bouzar, die in der Prävention gegen Radikalisierung arbeitet, erklärt, dass die meisten jungen Menschen, die zu Dschiha-dist_innen werden, sich zuerst an humanitären Einsätzen beteiligen, sofern es Mädchen sind, die Jungen hingegen sich militärisch gegen das Regime von Bachar Al-Assad engagieren. Auf den Kriegsschauplätzen radikalisieren sie sich mehr und mehr und werden mit Gewalt und Tod vertraut gemacht.
In der Falle
Wie in einem Spiegelbild sehen wir heute, dass sich nach den Anschlägen in Paris zahlreiche junge Franzosen zum Militär melden, weil sie den IS bekämpfen wollen. Die Rekrutierung wird von der französischen Regierung gefördert.* Dabei wird übersehen, dass «die schlimmste Verführung des Bösen in der Provozierung des Kampfes» liegt, wie Franz Kafka gesagt hat. Gleichzeitig ist eine zivile Bewegung entstanden, die sich wieder mehr auf Solidarität und Mitmenschlichkeit besinnt.
Die politische Elite Frankreichs hat jedoch grosse Mühe zu überlegen, wie der Riss in der Gesellschaft behoben werden könnte und wie sie die Beziehung zum Orient anders als durch Verteidigung und Dominanz gestalten könnte. Zu viele der hiesigen Politiker_innen spekulieren mit der Angst und befürworten drastische Verschärfungen zur angeblichen inneren Sicherheit, wodurch die Freiheiten, die wir eigentlich verteidigen sollten, beschnitten bis aufgehoben werden. Wir befinden uns in einer Falle, die uns automatisch einschliesst. Leider scheint eine Lösung in weiter Ferne zu liegen. Nur grundsätzliche Änderungen in unserer Gesellschaft und eine Lösung der Konflikte im Nahen Osten können einen langfristigen Ausweg zeigen.

* Am 24. November wurde vom 21. Regiment der Marine - Infanterie an alle Gemeinden Frankreichs eine Aufforderung geschickt, im Rahmen einer «Aussergewöhnlichen Rekrutierungsoperation» die Bevölkerung dazu anzuhalten, sich bei der «Landarmee» zu engagieren, die als Hauptaufgabe hat für «Schutz und Zerstreuung» zu sorgen.