GESTERN - HEUTE - MORGEN: Die historische Situation radikaler Gesellschaftskritik.Ein Interview mit Robert Kurz*

02.05.2012, Veröffentlicht in Archipel 203

Was ist der tiefste Grund von ökonomischen Krisen? Oft wird gesagt, der produzierte Wert könne mangels Kaufkraft nicht realisiert werden. Aber warum gibt es zu wenig Kaufkraft? Weil in Wirklichkeit zu wenig Wert produziert wird und deshalb die regulären Löhne und Profite zu gering sind. Es ist aber gerade die Arbeitskraft als Kapitalbestandteil, die allein neuen Wert produziert. Insofern ist die Freisetzung von Arbeitskraft nicht bloß ein Problem für die Betroffenen, sondern ein Problem des kapitalistischen Systems.

Was unterscheidet die aktuelle Krise von allen vorangegangenen Krisen?

Der Kapitalismus ist nicht die ewige zyklische Wiederkehr des Gleichen, sondern ein dynamischer historischer Prozess. Jede große Krise findet auf einem höheren Niveau der Akkumulation und Produktivität statt als in der Vergangenheit.

Deshalb stellt sich die Frage der Bewältigbarkeit oder Unbewältigbarkeit der Krise jedes Mal neu. Frühere Mechanismen der Lösung verlieren ihre Gültigkeit. Die Krisen des 19. Jahrhunderts wurden überwunden, weil der Kapitalismus noch nicht die gesamte gesellschaftliche Reproduktion erfasst hatte. Es gab noch einen inneren Raum der industriellen Entwicklung. Die Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre war ein struktureller Bruch auf einem viel höheren Niveau der Industrialisierung. Sie wurde bewältigt durch die neuen fordistischen Industrien und die keynesianische Regulation, deren Prototyp die Kriegswirtschaften des 2. Weltkriegs waren. Als die fordistische Akkumulation in den 1970er Jahren an ihre Grenzen stieß, mündete der Keynesianismus in eine Inflationspolitik auf der Grundlage des Staatskredites. Die sogenannte neoliberale Revolution verlagerte das Problem aber nur vom Staatskredit auf die Finanzmärkte. Den Hintergrund bildete ein neuer struktureller Bruch der kapitalistischen Entwicklung, markiert durch die 3. industrielle Revolution der Mikroelektronik. Auf diesem qualitativ veränderten Niveau der Produktivität konnte kein Terrain realer Akkumulation mehr erschlossen werden. Deshalb entwickelte sich auf der Basis von Verschuldung und substanzlosen Finanzblasen über mehr als zwei Jahrzehnte eine globale Defizitkonjunktur, die nicht dauerhaft tragfähig sein konnte. Die gesamte neoliberale Ära der Deregulation war begleitet von einer historisch beispiellosen Kette der Finanz- und Schuldenkrisen. Solange diese Krisen weltregional oder sektoral begrenzt waren, konnten sie durch eine Geldflut der Notenbanken eingedämmt werden. Damit wurden aber nur die Grundlagen für eine Kulmination des Krisenprozesses geschaffen. Seit Herbst 2008 hat die Krise der 3. industriellen Revolution eine globale Dimension angenommen. Das Platzen der Finanzblasen bringt nun die mangelnde reale Akkumulation zum Vorschein. Der neue Krisen-Keynesianismus verlagert aber das Problem nur von den Finanzmärkten zurück auf den Staatskredit, allerdings auf viel höherem Niveau als in den 1970er Jahren. Der Staat hat so wenig wie damals die Kompetenz, dauerhaft die mangelnde reale Akkumulation zu subventionieren. Die Krise der Finanzmärkte wird abgelöst durch die Krise der Staatsfinanzen; Griechenland als aktueller Fall ist nur die Spitze des Eisbergs. Die notgedrungen einfallslose Rückverlagerung des Problems auf den Staat zeigt, dass derzeit keine neuen Mechanismen einer Lösung der Krise auf der erreichten Höhe der Produktivität in Sicht sind.

Ihnen zufolge geht es mit dem Kapitalismus zu Ende. Stehen wir zum ersten Mal in der Geschichte vor der Möglichkeit, den Kapitalismus zu überwinden? Musste der Kapitalismus seine inneren Widersprüche bis zu diesem Punkt entwickeln, damit dies möglich wurde? War es zuvor unmöglich?
Die blinde Dynamik des Kapitalismus entfaltet sich nach ihren eigenen inneren Gesetzen. «Notwendig» und bis zu einem gewissen Grad determiniert ist dieser Prozess aber nur, solange die basalen Kategorien und Kriterien dieser historischen Produktions- und Lebensweise nicht praktisch in Frage gestellt werden. Bei einer entsprechenden Intervention hätte der Kapitalismus auf allen Stufen seiner Entwicklung gestoppt werden können. Dann hätte die Vergesellschaftung der Produktion einen anderen Verlauf genommen, über den wir nichts aussagen können, weil er real nicht stattgefunden hat. Das ist keine Frage der objektiven Notwendigkeit, sondern eine Frage des kritischen Bewusstseins. Weder die Aufstände des 18. und frühen 19. Jahrhunderts noch die alte Arbeiterbewegung oder die neuen sozialen Bewegungen der letzten Jahrzehnte waren in der Lage, ein solches Bewusstsein hervorzubringen. Im Gegenteil wurden die kapitalistischen Formen von abstrakter Arbeit, Verwertung des Werts und moderner Staatlichkeit immer mehr verinnerlicht. Das ist aber nur faktisch so. Deshalb «musste» der Kapitalismus seine inneren Widersprüche nicht bis zu dem heute erreichten Punkt entwickeln, aber er hat es eben getan. Jetzt stehen wir vor der Aufgabe, auf dem erreichten Stand der Widersprüche die Kritik der kapitalistischen Formen und das Programm ihrer Überwindung neu zu formulieren. Das ist einfach unsere historische Situation, und es ist müßig, den verlorenen Schlachten der Vergangenheit nachzutrauern. Auch wenn der Kapitalismus objektiv an absolute historische Grenzen stößt, kann die Emanzipation dennoch mangels eines ausreichenden kritischen Bewusstseins auch heute misslingen. Das Resultat wäre dann aber kein neuer Frühling der Akkumulation mehr, sondern, wie Marx gesagt hat, der mögliche gemeinsame Untergang in der Barbarei.

Sie lesen die Marxsche Krisentheorie als Zusammenbruchstheorie, eine Theorie, die auf der Idee einer Unterproduktion von Kapital beruht. Andere Marxisten (Grossmann, Mattick) haben dies vor Ihnen getan, doch war eine solche Kritik stets ultraminoritär. Die Marxisten – gleich worin sie sich unterscheiden – haben die Marxsche Theorie als eine der ungleichen Verteilung von Reichtum gelesen und tun dies auch heute noch; diese ungleiche Verteilung habe ihren Ursprung in der Spekulation, in der Deregulierung, in der Jagd nach Superprofiten auf den Finanzmärkten. Sie lehnen die Zusammenbruchstheorie ab. Sind beide Lesarten von Marx selbst gerechtfertigt? Gibt es einen doppelten Marx?
Der Begriff «Zusammenbruch» ist metaphorisch und suggestiv. Er wurde von Eduard Bernstein ohne jede theoretische Reflexion benutzt, um die Marxsche Krisentheorie unter dem Eindruck der empirischen kapitalistischen Entwicklung Ende des 19. Jahrhunderts pauschal abzuqualifizieren. Der Ausdruck taucht im sogenannten Maschinenfragment der «Grundrisse» auf, die weder Bernstein noch seine Kontrahenten kannten, weil sie erst viel später publiziert wurden. Im 3. Band des «Kapital» spricht Marx exakter von einer «inneren Schranke des Kapitals», die schließlich zu einer absoluten wird. Die früheren minoritären «Zusammenbruchstheorien» von Rosa Luxemburg und Henryk Grossmann argumentierten mit einer mangelnden «Realisierung» des Mehrwerts (Luxemburg) bzw. mit einer «Überakkumulation» von Kapital (Grossmann), das nicht mehr ausreichend reinvestiert werden kann. Paul Mattick distanzierte sich frühzeitig von der Theorie einer objektiven inneren Schranke des Kapitals; er identifizierte, wie die Leninisten, den «Zusammenbruch» mit der politischen Aktion des Proletariats. Bei Marx selbst finden sich zwei verschiedene Ebenen der Krisentheorie, die theoretisch nicht vereinheitlicht sind. Die erste Ebene bezieht sich auf die Widersprüche der Zirkulation des Kapitals: auf das Auseinanderfallen von Käufen und Verkäufen sowie auf die damit zusammenhängende Disproportionalität der Produktionszweige. Die zweite Ebene in den «Grundrissen» und im 3. Band des «Kapital» bezieht sich viel grundsätzlicher auf das Verhältnis von Produktivität und Bedingungen der Verwertung, also auf eine mangelnde Produktion des Mehrwerts selbst, indem zu viel Arbeitskraft überflüssig gemacht wird. Nur die Widersprüche der Zirkulation spielten in den marxistischen Krisentheorien eine Rolle; die Frage einer mangelnden realen Arbeitssubstanz stand überhaupt nicht zur Debatte. In der 3. industriellen Revolution wird aber gerade die zweite, tiefer gehende Ebene der Marxschen Krisentheorie relevant. Die reale «Entsubstantialisierung» des Kapitals ist so weit fortgeschritten, dass nur noch eine substanzlose Scheinakkumulation durch Finanzblasen und Staatskredit möglich ist, die aktuell an Grenzen stößt. Es geht nicht mehr um die ungleiche Verteilung des «abstrakten Reichtums» (Marx), sondern um die Befreiung des konkreten Reichtums vom Fetischismus des Kapitals und seiner abstrakten Formen. Die meisten zeitgenössischen Marxisten sind aber sogar hinter die früheren Krisentheorien zurückgefallen; sie nehmen nur noch den klassisch kleinbürgerlichen Standpunkt einer Kritik des «Finanzkapitals» ein. Dabei verwechseln sie Ursache und Wirkung: Sie führen die Krise nicht auf die objektiv mangelnde reale Produktion von Mehrwert zurück, sondern auf die subjektive Profitgier von Spekulanten. Die kapitalistische Produktionsweise wird gar nicht mehr grundsätzlich kritisiert; man will nur zurück zur fordistischen Konfiguration der abstrakten Arbeit. Diese Option ist nicht nur illusionär, sondern reaktionär. Sie hat eine strukturelle Ähnlichkeit mit der ökonomischen Ideologie des Antisemitismus.

Sie, Robert Kurz, und Moishe Postone, dessen «Zeit, Arbeit und soziale Herrschaft» auf Französisch vorliegt, entwickeln zwei Arten von Wertkritik, die in einem zentralen Punkt auseinandergehen. Für Sie verliert das Kapital bedingt durch die Produktivitätsgewinne an Substanz (abstrakte Arbeit) und mit der 3. industriellen Revolution der Mikroelektronik gehe dem Kapital diese Substanz absolut verloren. Für Postone dagegen steigern die Produktivitätsgewinne den Wert – vorläufig. Sobald der Produktivitätsgewinn sich verallgemeinert hat, wird die Wertsteigerung annulliert, wobei die Grundeinheit der abstrakten Arbeit (die Arbeitsstunde) auf ihr anfängliches Niveau zurückfällt. Für Sie bricht der Wert zusammen, während er sich für Postone unaufhörlich erweitert, um dann wieder zu seinem Ausgangspunkt zurückzukehren. Deshalb die Frage: Beeinträchtigt dies nicht die Plausibilität der Wertkritik? Oder ist darin ein vorläufiges Moment zu sehen?
Die Gemeinsamkeit mit Postone besteht in der Kritik am Arbeitsbegriff des traditionellen Marxismus. Das traditionelle Verständnis hat den rein negativen, kritischen und historischen Begriff der abstrakten Arbeit bei Marx in eine positivistische Definition verwandelt und zur ewigen Bedingung der Menschheit umgedeutet. Bei Postone fehlt jedoch die krisentheoretische Dimension in der Kritik der abstrakten Arbeit; er bleibt in dieser Hinsicht selber traditionell. Steigende Produktivität bedeutet, dass weniger menschliche Energie mehr stoffliche Produkte erzeugt. Deshalb steigert die Produktivität niemals den Wert, sondern vermindert ihn stets, wie Marx schon im 1. Band des «Kapital» zeigt. Wer das Gegenteil behauptet, verwechselt die gesellschaftliche Ebene mit der betriebswirtschaftlichen oder das Gesamtkapital mit dem Einzelkapital. Das einzelne Kapital, das zunächst isoliert seine eigene Produktivität steigert, erlangt einen Vorteil in der Konkurrenz. Es bietet die einzelne Ware billiger an, kann auf diese Weise mehr Waren absetzen und gerade dadurch einen größeren Teil der gesellschaftlichen Wertmasse für sich realisieren. Was betriebswirtschaftlich als steigender Profit und damit als steigende «Wertschöpfung» erscheint, trägt jedoch gesellschaftlich zur Verminderung des Werts bei, und zwar auf Kosten anderer Einzelkapitale. Wenn sich die höhere Produktivität verallgemeinert, verliert das innovative Einzelkapital seinen Vorteil in der Konkurrenz. Das ist aber keines-wegs die Rückkehr zu einem Nullpunkt oder einem früheren Ausgangspunkt. Vielmehr wird die gesteigerte Produktivität nun zum neuen allgemeinen Standard. Die Arbeitsstunde als Grundeinheit der abstrakten Arbeit ist immer dieselbe, sie kann als solche überhaupt nicht verschiedene «Niveaus» haben. Der neue, höhere Standard der Produktivität erzwingt aber, dass weniger dieser immergleichen Stunden abstrakter Arbeit für eine wachsende Masse von Produkten benötigt werden. Wenn in der Krise Kapital entwertet und vernichtet wird, bleibt trotzdem der einmal erreichte Standard der Produktivität erhalten, weil dieser in das Aggregat des Wissens und des Know how eingeschrieben ist. Um es deutlich zu sagen: Der Kapitalismus kann nicht vom Niveau der Mikroelektronik zum Niveau der Dampfmaschine zurückkehren. Eine neue Steigerung des Werts wird immer schwieriger, wenn sie auf immer höherem Niveau der Produktivität und damit der verminderten Substanz abstrakter Arbeit stattfinden muss. In der Vergangenheit war diese stetige Verminderung des Werts nur relativ. Bei steigendem Standard der Produktivität konnte das einzelne Produkt zwar immer weniger abstrakte Arbeit und damit Wert repräsentieren. Durch die entsprechende Verbilligung gingen jedoch immer mehr frühere Luxuswaren in den Massenkonsum ein, Produktion und Märkte erweiterten sich. Die relative Verminderung der gesellschaftlichen Wertsubstanz pro einzelnem Produkt konnte daher trotzdem zu einer absoluten Vergrößerung der gesamtgesellschaftlichen Wertmasse führen, weil die erweiterte gesellschaftliche Produktion insgesamt mehr abstrakte Arbeit mobilisierte, als bei der Herstellung der einzelnen Produkte überflüssig gemacht wurde. Damit verbunden ist der Mechanismus, den Marx als Produktion des «relativen Mehrwerts» bezeichnet hat. Derselbe Prozess, der den relativen Anteil der allein Wert produzierenden Arbeitskraft am Gesamtkapital stetig vermindert, senkt zusammen mit dem Wert der Lebensmittel für die Reproduktion dieser Arbeitskraft auch deren eigenen Wert und erhöht damit den relativen Anteil des Mehrwerts an der gesamten Produktion von Wert. Das gilt jedoch nur pro einzelne Arbeitskraft. Für die gesellschaftliche Quantität von Wert und Mehrwert ist aber entscheidend, in welchem Verhältnis die Steigerung des relativen Mehrwerts pro einzelne Arbeitskraft zur Zahl der Arbeitskräfte steht, die gemäß dem Standard der Produktivität gesellschaftlich angewendet werden können. Im Maschinenfragment der «Grundrisse» und im 3. Band des «Kapital» deutet Marx an, dass die Steigerung der Produktivität logisch einen Punkt erreichen muss, an dem sie mehr abstrakte Arbeit überflüssig macht, als durch die Erweiterung der Märkte und der Produktion zusätzlich mobilisiert werden kann. Dann nützt auch die Erhöhung des relativen Mehrwerts pro einzelne Arbeitskraft nichts mehr, weil die Zahl der insgesamt anwendbaren Arbeitskräfte zu stark sinkt. Es lässt sich zeigen, dass dieser von Marx abstrakt antizipierte Punkt mit der 3. industriellen Revolution konkret-historisch erreicht wird. Sonst hätte das Kapital auf seinen eigenen produktiven Grundlagen genügend abstrakte Arbeit mobilisieren und die reale Produktion von Wert steigern können, statt diese in einer beispiellosen Größenordnung durch Verschuldung, Finanzblasen und Staatskredit subventionieren zu müssen. Die Schocks der Entwertung auf allen Ebenen des Kapitals vollziehen sich unter unseren Augen. Aber es wird jetzt weniger denn je eine Rückkehr zu einem Nullpunkt geben, von dem aus das ganze Theater von neuem beginnen könnte. Vielmehr bleibt die Ursache des Desasters bestehen, nämlich der von der 3. industriellen Revolution gesetzte neue und irreversible Standard der Produktivität. Deshalb kann nur noch immer neues substanzloses Geldkapital von Staaten und Banken kreiert werden, das in immer kürzeren Abständen kollabieren wird.

* Das hier nur auszugsweise wiedergegebene Interview bildet das Vorwort einer Publikation mit ins Französische übersetzten Texten des Autors. (Robert Kurz, Vie et Mort du Capitalisme, erschienen 2011 beim Verlag Lignes).
Das ungekürzte Gespräch ist zu finden auf: www.exit-online.org