GESTERN - HEUTE - MORGEN :Die Roma und «wir»

von Roswitha Scholz*, 27.01.2013, Veröffentlicht in Archipel 211

Letzten Monat brachten wir den ersten Teil eines Artikels von Roswitha Scholz über die Geschichte und das Wiederaufkeimen des Rassismus’ gegen Zigeuner. Hier der 2.Teil.

Homo sacer und die Zigeuner

Giorgio Agamben hat in seinem Buch «Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben» (Frankfurt/Main 2002) im (kritischen) Rekurs auf Carl Schmitt, Hannah Arendt und Michel Foucault Gedanken entwickelt, die weiteren Aufschluss über die Bedeutung des Antiziganismus geben können. Dabei geht es um das Verhältnis von Regel und Ausnahme: «Es ist nicht die Ausnahme, die sich der Regel entzieht, es ist die Regel, die, indem sie sich aufhebt, der Ausnahme stattgibt; und die Regel setzt sich als Regel, indem sie mit der Ausnahme in Beziehung bleibt. Die besondere >Kraft des Gesetzes< rührt von dieser Fähigkeit her, mit einem Außen in Berührung zu bleiben»1. Das Individuum wird hier zum bloßen Körper, zum «nackten Leben» degradiert, wobei es der Souverän ist, der über den Ausnahmezustand gebietet. Eine entscheidende Rolle spielt bei Agamben der aus dem Römischen Recht stammende «Homo sacer», der seinem Buch den Namen gab. Der Homo sacer ist ein Vogelfreier, der aus dem Recht herausfällt (aber gerade deshalb in es eingeschlossen ist) und ungestraft getötet werden kann.

In den Verfolgungs- und Internierungsstrukturen der Moderne, extrem zugespitzt im NS, drückte sich Ähnliches aus. Dabei sieht Agamben gerade heute wieder den Ausnahmezustand in einem krisenhaften Verfallsprozess hervortreten, so etwa bei der Zersetzung staatlicher Organisationen in den ehemaligen Ostblockstaaten, die zur Errichtung von Lagern und zu «illegitimen Übergriffen» (wie zum Beispiel Massenvergewaltigungen) führt; Erscheinungen, die laut Agamben gerade ursprüngliche Voraussetzung für das Recht sind – ein Menetekel für die ganze Welt. Potentiell sind wir für Agamben somit alle «homines sacri».2
Agamben verbleibt mit seinen Thesen reduktionistisch auf einer rechtstheoretischen Ebene. Um dem gesellschaftlichen Ganzen gerecht zu werden, wäre es jedoch notwendig, das Verhältnis von Rechtsform und Ausschluss mit Überlegungen zur «Konstitution von Politik und Ökonomie, von abstrakter Arbeit und Staatsmaschine» in der Moderne zusammen zu denken: Der Raum der «ausschließenden Einschließung, der Reduktion auf das nackte Leben» hatte in der Frühmoderne noch den Namen des «Hauses»: «Das Armenhaus, Arbeitshaus, Zuchthaus, Irrenhaus, Sklavenhaus – die >Häuser des Schreckens<, in denen exemplarisch für die Gesamtgesellschaft die Einübung in die fremdbestimmte abstrakte Arbeit stattfand, ein in den Lagern der späteren Modernisierungs- und Krisendiktaturen verschärfter Vorgang. Dieser ursprüngliche Ausnahmezustand.3 ist zum modernen Normalzustand geworden, der aller Rechtsstaatlichkeit zugrunde liegt»
Die Weltkrise der dritten industriellen Revolution heute unterscheidet sich von früheren Krisen dadurch, dass sich jetzt auch die Souveränität selbst zu «verflüssigen beginnt, weil auch der Raum der einschließenden Ausschließung sich auflöst (...) Die Souveränität in dem Maße, wie sie noch weiter existiert, reagiert darauf reflexhaft mit ihren gewohnten Krisenmaßnahmen, obwohl diese ins Leere laufen».4 Zwangsarbeit, Billiglohn, das Lager, Menschenverwaltung etc. werden nun für die Überflüssigen in der Krise der Arbeitsgesellschaft auf einem neuen Verfallsniveau reaktiviert. Dabei drückt sich jedoch die allgemeine Bedrohung dennoch in Unterschieden der ausgrenzenden Maßnahmen und Ideologien aus. Auch heute wieder «vollzieht sich die einschließende Ausschließung (...) im polaren Muster von Rassismus und Antisemitismus».5 In diesen Erörterungen fehlt aller-dings das spezifisch antiziganistische Syndrom. Neben den Juden waren es aber eben gerade die «Zigeuner», die nicht nur wie diese als fremdrassig galten, sondern über Jahrhunderte hinweg immer wieder genau im Agambenschen Sinne als vogelfrei erklärt wurden. Über Sinti und Roma wurde in der Moderne eigentlich ein permanenter Ausnahmezustand verhängt, weil man sie als absolutes Gegenbild zum neuzeitlichen Disziplinierungsprozess und zur «protestantischen Ethik» in der eigenen Gesellschaft konstruiert hat. Obwohl also die Zigeuner «homines sacri» par excellence sind, wie ihre Verfolgungsgeschichte beweist, werden sie in aller Regel selbst noch in kritischen Darstellungen des Rassismus vergessen; und gerade in diesem Vergessenwerden drückt sich der Umstand aus, dass der «Zigeuner» gewissermaßen den Homo sacer des Homo sacer darstellt.
Der Antiziganismus ist sozusagen noch der Paria unter den Rassismustypen, und der «Zigeuner» in der Konstruktion von «Asozialität» und «Fremdrassigkeit» der «Abschaum der Menschheit» (wie es schon im 18. Jahrhundert der «Zigeunerexperte» der Aufklärung, Heinrich Moritz Gottlieb Grellmann, propagiert hatte) – also «Müll», der noch unter den Überflüssigen überflüssig ist. Er stellt somit das abschreckende Beispiel schlechthin für den «Normalen» dar; er zeigt ihm, wohin er kommt, wenn er nicht funktioniert und pariert, sondern sich «wie die Zigeuner» verhält. Dementsprechend findet man im Hybriditätsdiskurs der Postmoderne kaum die Beachtung von Sinti und Roma. Das Individuum wird auch im Alltag unter einem Schuttberg von Stereotypen begraben, wenn es «zugibt», zu dieser Gruppe zu gehören. Mag schon in jüdischen Kontexten gelten: «Sag niemand, dass du jüdisch bist», so gilt dies in bezug auf eine «zigeunerische» Herkunft erst recht. Laut einer Emnid-Umfrage aus dem Jahr 1994 wollen 68% der befragten Deutschen keinen «Zigeuner» als Nachbarn haben, jüdische Nachbarn wollen 22% und Afrikaner 37% nicht akzeptieren.6

Struktureller Antiziganismus

In den aktuellen Krisenprozessen wird das antiziganistische Syndrom erneut abgerufen. Bürgerkriege und «Weltordnungskriege» (Robert Kurz) bringen es mit sich, dass nicht zuletzt Sinti und Roma in Ethnokonflikten zerrieben werden, wie einer ihrer Vertreter schreibt: «Viele Angehörige unserer Minderheit müssen als Folge ihrer Ausgrenzung unter menschenunwürdigen Bedingungen in Ghettos leben. Sie sind rassistisch motivierten Angriffen bis hin zu Pogromen schutzlos ausgeliefert. Nicht selten geht die Diskriminierung der Sinti und Roma von staatlichen Institutionen – etwa der Polizei und Justiz – aus».7 Seit 1989 hat sich die Situation der Roma gerade in den ehemaligen Ostblockstaaten rapide verschlechtert. Die Verfolgung hat zu entsprechenden Migrationsbewegungen geführt. Dies wird in den Medien jedoch kaum beachtet; berichtet wird vielmehr über unberechtigte Asylanträge, stehlende Kinder, Betteln, Hygieneprobleme usw. Der ganze Vorrat an gängigen Stereotypen wird erneut geplündert.
Es geht dabei jedoch gleichzeitig um weiter gefasste soziale Prozesse der Krisenverwaltung und der Erfindung von Delinquenz. Heute ist gewissermaßen jeder und jede, selbst und gerade in den berühmten Mittelschichten, vom Absturz bedroht. Eine gewisse Verallgemeinerung des Zigeunerstereotyps in der Krisenverwaltung zeigt sich nicht bloß bei der Denunziation von Hartz-IV-Empfängern und einer Allroundüberwachung (angeblich zum Schutz vor Terroristen) inklusive physiometrischen Ausweisen und digitalisierten Fingerabdrücken. Heute befürchtet potentiell jeder, sich als Bettler oder Vagabund im Elendsviertel wieder zu finden. Es kommt zu einer «Zwangsbohemisierung» (Diedrich Dietrichsen), aber mit der Verpflichtung zur Zwangsarbeit. Im Kontext der neuen Massenmigration sind Flüchtlinge, die «Stütze» brauchen, per se schon in der klassischen Zigeunerposition. Auch das Problem der «Papierlosigkeit» ist in der antiziganistischen Politik bereits vorweg genommen: «Die Methode der Ausgrenzung der Roma in die papierlose Illegalität scheint ein zentrales Strukturmerkmal des Antiziganismus zu sein».8
Hier verschränken sich allgemeine und spezifisch antiziganistische Maßnahmen der Krisenverwaltung mit einer antiziganistischen Massenideologie. Je mehr die Mittelschichten in die Gefahr des Absturzes geraten, desto mehr erkennen sie sich selber im Prototyp des Überflüssigen und Vogelfreien in den europäischen Gesellschaften, dem «Zigeuner», wieder.9 Wie von einem strukturellen Antisemitismus gesprochen werden kann, der sich nicht zuletzt im Angriff auf die Finanzmärkte und in der Imagination einer Weltverschwörung zeigt, auch wenn von Juden noch gar nicht die Rede ist, so wäre auch von einem strukturellen Antiziganismus zu reden, wenn in der Angst vor dem eigenen Absturz, der Deklassierung, dem Abgleiten in die Asozialität und Kriminalität das antiziganistische Stereotyp implizit wirkt, auch wenn von «Zigeunern» noch gar nicht die Rede ist. Das Changieren zwischen sozialer Diskriminierung und rassistischer Ausgrenzung macht das Zigeunerstereotyp hierzu besonders geeignet.
Es hat nichts mit einer Verharmlosung des Antisemitismus zu tun, auch von einem strukturellen Antiziganismus zu reden. Beide Formen der ideologischen Projektion verweisen vielmehr in ihrer jeweiligen Spezifik aufeinander, wobei der strukturelle Charakter des antiziganistischen Syndroms jedoch schwerer zu erkennen ist; eben weil es kaum zum Thema gemacht bzw. allenfalls marginal behandelt wird. Müsste sich das moderne Subjekt dabei doch mit seiner Homo-sacer-Angst im Spiegel erkennen. Deshalb schaut es von vornherein weg. Andererseits weiß es schon immer, dass der «Zigeuner» der «Allerletzte» ist und macht diesem «Wissen» in Befragungen auch ungeniert Luft. Zwar kommt der «Zigeuner» so in jedem zum Ausdruck, aber nicht jeder ist ein «Zigeuner» und wird wie dieser martialisch verfolgt.

Die Linken und der Antiziganismus

Die strukturellen Gemeinsamkeiten des akuten Antiziganismus in verschiedenen westlichen Ländern zeigen sich in den Reaktionen auf die massiven krisenkapitalistischen Einbrüche. Zum drohenden Absturz der Mittelschichten kommt mittler-weile die galoppierende Inflation bei Lebensmitteln und Energie hinzu. Damit steht eine Ausbreitung rassistischer Ideologien sowohl von «oben» als auch von «unten» im Zusammenhang. Die derzeitige Entwicklung in Italien zeigt dies wie im Brennglas.
Im Kontext einer neuen Barbarei der vom Absturz bedrohten Mittelschichten sprach der italienische Kulturwissenschaftler Claudio Magris vom «Lumpenbürgertum», noch bevor die antiziganistischen Pogrome virulent geworden waren. Maßgaben der EU gegen diese «Zigeunerpolitik» dürften wirkungslos bleiben, weil letztlich die einzelnen EU-Staaten zuständig sind, die fast alle mit der «Mittelschichtsdämmerung» zu kämpfen haben, und ein Bündnis von «Mob und Elite» (Hannah Arendt) bekanntlich keineswegs ausgeschlossen ist. Man sollte sich auch keine Illusionen machen, was die Linke an Kritik des antiziganistischen Syndroms zu leisten bereit wäre. Man denke bloß an Oskars Fremdarbeitertiraden, die jederzeit antiziganistisch aufladbar sind. Wiederholt ging durch die Presse, dass die aktuelle antiziganistische Ideologie in Italien gerade auch in Stadtvierteln mit hoher «Linkseinstellung» anzutreffen ist. Dies hat viel mit der traditionellen Zentrierung der Linken auf den biederen und anständigen Lohnarbeiter zu tun, mit dem Affekt gegen das sogenannte Lumpenproletariat als Bodensatz der Gesellschaft, und damit eben auch gegen die «Zigeuner», die in der rassistischen Aufladung sogar noch unter den «einheimischen» Lumpenproletariern standen. Derartige Traditionen wirken bis in den heutigen, brüchig werdenden Mittelschichtskontext fort, und zwar nicht bloß in Deutschland und Italien.
Wolfgang Wippermann konstatiert: «Mein Berufsstand, Professoren und Historiker, haben sich mit den Sinti und Roma nicht beschäftigt, weil es als unfein galt und immer noch gilt. Auch die kritische Intelligenz hat versagt, weil sie die Auseinandersetzung mit diesem Aspekt deutscher Geschichte viel zu lange versäumt hat. Das gleiche gilt für linke Gruppen, denen das Schicksal der Sinti und Roma nicht sehr interessant erscheint».10 Es wird höchste Zeit, dass sich das ändert. Wie man mit dem «Roma-Problem» in der Linken umgeht, könnte dabei eine Art Lackmustest für eine emanzipatorische Bewegungsrichtung sein. In Italien wurde aktuell einmal mehr deutlich, zu was die von Postoperaisten hochgehaltene «Multitude» fähig ist.11 Der Rekurs auf die «geliebte Bevölkerung» in der Linken generell sollte jedoch in Deutschland besonders stutzig machen. Und es sollte auch beachtet werden, dass in der Geschichte ein Anschwellen des Antiziganismus auch immer ein Ansteigen des Antisemitismus zur Folge hatte und umgekehrt.12

* erschienen im September 2008 in der linken Debattenzeitschrift «Phase 2» (Leipzig)

  1. Giorgio Agamben, Homo sacer, a.a.O., S. 28
  2. Siehe etwa Agamben, a.a.O., S. 124
  3. Robert Kurz, Weltordnungskrieg, Bad Honnef 2003, S. 354
    4/5.Robert Kurz, a.a.O., S. 356 und S. 362
    6.Vgl. Gilat Margalit, Die Nachkriegsdeutschen und «ihre Zigeuner», Berlin 2001, S. 192
  4. Romani Rose (Hrsg.), Der nationalsozialistische Völkermord an den Sinti und Roma, Heidelberg 2003, S. 10 f.
  5. Gernot Haupt, Antiziganismus und Sozialarbeit, Berlin 2006, S. 175
  6. Vgl. dazu ausführlich: Roswitha Scholz, Homo sacer und die Zigeuner. In: EXIT! 4, Bad Honnef 2007, S. 177 – 227, und: Roswitha Scholz, Überflüssig sein und «Mittelschichtsangst». In: EXIT! 5, Bad Honnef 2008, S. 58 – 104
  7. Wolfgang Wippermann, Antiziganismus. Gespräch mit Wolfgang Wippermann. In: Christoph Burmer (Hrsg.), Rassismus in der Diskussion, Berlin 1999, S. 106
  8. Vgl. dazu Anton Landgraf, Die Mittelschicht macht mit. In: Jungle World 22/2008
  9. Darauf hat Joachim Bruhn schon vor 16 Jahren anlässlich des Pogroms von Rostock-Lichtenhagen aufmerksam gemacht (Das Programm zum Pogrom. In: Konkret 10/1992)