GESTERN - HEUTE - MORGEN: Die Russische Revolution von 1917 (5. Teil ) - Die Missverständnisse

von Jean-Marie Chauvier, 02.06.2010, Veröffentlicht in Archipel 157

War die Geschichte «vorbestimmt», war die Revolution von 1917 die Prägeform der UdSSR, des Stalinismus und sogar des Zusammenbruchs der UdSSR und der darauf folgenden Restauration des Kapitalismus? Oder eröffnete der Oktober 1917 umgekehrt mehrere Möglichkeiten und es waren sehr persönliche politische Entscheidungen, die in gewissen Momenten in der allgemeinen Destabilisierung des russischen Systems den Ausschlag gaben?

Wir neigen eher zur zweiten Hypothese, obwohl…

Es gab zweifellos schwerwiegende, ganz entscheidende Umstände: Die Krise des Zarenregimes und des russischen Agrarsystems seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, die schreckliche soziale Misere und die späte Industrialisierung Russlands, die Entfesselung der Gewalt 1914, der Weltkrieg mit den ersten großen Massenmorden in Europa. Es gab noch andere wichtige politische Faktoren: Der relative Misserfolge der ersten liberalen Reform von 1906-13 (Stolypin), das Scheitern der provisorischen liberalen Regierung nach der Revolution vom Februar 1917, der misslungene Versuch einer Konterrevolution im August, ohne dass jedoch die Protagonisten entwaffnet wurden, der rasante Aufstieg der bolschewistischen Partei, im Untergrund formiert und ausgerüstet mit den sektiererischen Konzepten des «Was tun?» von Lenin, seinen radikalen revolutionären Optionen vom April 1917; die Machtergreifung im Oktober, noch vor dem Entscheid des Kongresses der Sowjets. Doch…

Wenn die bolschewistische Partei im Oktober auch sehr stark ist – Hegemonie innerhalb der Sowjets, Mehrheit in den Parlamenten der großen Städte, das Wohlwollen der revolutionären Garnisonen, die ganz neue Sympathie der Landbevölkerung nach dem «Dekret über den Boden» – erreicht sie in den Landregionen nicht die parlamentarische Mehrheit und gerät in Konflikt mit den anderen linken Parteien, die man (noch) nicht dem «konterrevolutionären» Lager zuordnen kann. Doch die bolschewistische und anarchistische Basis- wie auch Lenin – wollen keine Kompromisse in Bezug auf die «Errungenschaften des Oktober» und Lenin ist obendrein fest entschlossen, den Sieg der Bolschewiken «auf dem Terrain» zu konsolidieren. Es kommt zu Radikalisierung, Polarisierung und Verhärtung der neuen Macht mit der Gründung der Tscheka, der politischen Polizei, die einige Monate später den «roten Terror» auslösen wird: Die Bolschewiken wollen nicht das gleiche Schicksal erleiden wie die Pariser Kommunarden 1871 und lösen die erste Repressionswelle aus: «Sie oder wir…»

Beim Jahreswechsel 1917/18 sind noch mehrere Wege offen. Das Klima ist chaotisch, jede politische Entscheidung einer einflussreichen Persönlichkeit wie Lenin oder Trotzki kann ausschlaggebend sein. Und vergessen wir nicht den Krieg, die Entscheidungen der Deutschen, der Entente, der USA und Japans, die finnische, rumänische und ungarische Konterrevolution…

Doch nichts scheint unabwendbar: Weder die Diktatur einer einzigen Partei, noch der Separatfrieden von Brest-Litovsk, der de facto die Ukraine an Deutschland ausliefert, noch der Bruch mit den anderen sozialistischen Parteien, der folgen sollte. Der Bürgerkrieg hat noch nicht wirklich begonnen, weder in den ländlichen Gebieten, noch gegen die «Weißen» und die ausländischen «Interventionisten». Sogar innerhalb seiner Partei, wo die Diskussionen offen bleiben, wird Lenin oft widersprochen. Es gibt verschiedene Tendenzen in Bezug auf die Bauernfrage, den Frieden, die soziale Demokratie.

Die politischen Optionen nach Oktober

Die Kontroversen bei der Bildung und Umgestaltung der ersten Sowjetregierung sind kaum bekannt. In der Tat zeichnet sich schon im Oktober eine politische Kluft ab, welche die Grenze zwischen Befürwortern und Gegnern des bolschewistischen Aufstands überschreitet und die Partei selbst spaltet:

  • «für eine sozialistische Koalition»: die rechten und linken SR, einige Bolschewiken, die Menschewiken, einige Gewerkschaften, ein Teil der Arbeiter- und Soldatenräte

  • «für eine bolschewistische Regierung» mit einer möglichen Beteiligung der linken Sozialrevolutionäre (SR): die Mehrheit der Bolschewiken und der linken SR, die Sowjets von Petrograd und von Moskau, ein Teil der Arbeiter- und Soldatenräte.

An der Basis gibt es auch eine anarchistische Tendenz für eine Macht der Sowjets ohne politische Parteien.

Die Verhandlungen über eine Koalition, an der sich alle Parteien beteiligen, beginnen am 29. Oktober und enden am 4. November. Dieser letzte Versuch, die sozialistische Familie wieder zusammenzuschweißen, scheitert an der Unnachgiebigkeit der Einen und der Anderen. Rechts wird die Forderung erhoben, dass Lenin und Trotzki aufgrund ihres «Abenteurertums» von den Verantwortungen ausgeschlossen werden. Auf der extremen linken Seite, Bolschewiken und linke SR, hält man vor allem an einer bewaffneten Einheit fest, um die Errungenschaften des Oktober zu gewährleisten, welche die anderen Parteien jedoch auflösen wollen: das Militärrevolutionäre Komitee von Petrograd (PVRK). Die Rolle des PVRK und anderer radikaler Basisgruppen wird aufgrund ihrer Aktionen wie Schließungen von bürgerlichen Zeitungen und Druckereien, Requisition von Wohnungen etc. angefochten. Schon seit einigen Monaten gibt es diesen spontanen «roten» (und schwarzen) Terror, unabhängig von den Bolschewistenführern. Man kann ihnen die Verantwortung für diese Gewaltakte nicht anhängen, doch sie geben sich offensichtlich Mühe, diese zu instrumentalisieren. Das PVRK entpuppt sich jedenfalls als Akteur einer Politik der Gewalt, welche der Kontrolle des Sowjetkongresses sowie der regulären bolschewistischen Instanzen entgleitet. Lenin, Trotzki, Stalin, Swerdlov sind Anhänger eines «harten Kerns» und entschlossen, diktatorische Methoden anzuwenden.

Andere Bolschewistenspitzen wie Kamenev, Sinowjev, Rykov, Miljutin, Riasanov, Nogin treten aus Protest gegen die Politik der leninistischen Gruppe aus dem Zentralkomitee aus. Mehrere bolschewistische Minister demissionieren ebenfalls. «Der Weg für den Terror ist geebnet», prophezeien sie, so wie auch «von außen» Rosa Luxemburg, die Begründerin des deutschen Kommunismus.

Nach vielem Hin und Her treten schließlich einige linke SR in die erste sowjetische Regierung ein, an der also zwei Parteien beteiligt sind.

Die Bolschewiken haben die Hegemonie, aber noch nicht die Möglichkeit, alleine zu regieren, und schon gar nicht die Mittel, einen «totalitären» Staat zu begründen in diesem unregierbaren Riesenland Russland am Ende des Jahres 1917.

Die ländlichen Regionen

Auf dem Land bahnt sich die Revolution nur langsam ihren Weg. Es gibt kein Fernsehen und keine Telefone, die Neuigkeiten aus Petrograd brauchen lange bis in die entfernten Winkel des Riesenreiches, an manchen Orten dauert es sogar mehrere Jahre, bis die Menschen begreifen, dass eine Revolution stattgefunden hat, welche die Lebensbedingungen jedes einzelnen verändern sollte.

Die bäuerliche Revolution hat ihren eigenen Rhythmus: An manchen Orten bilden sich die Gemeinschaften (MIR) wieder, an anderen wiederum werden Kleinbetriebe aufgebaut, an anderen Orten prosperieren die «Kulaken». Das Agrarsystem ist völlig unkohärent. Lokale Selbstverwaltungsorgane entgleiten völlig der Kontrolle Petrograds. Dort, wo sie können, nehmen ländliche Sowjets, in denen die Bolschewiken nicht sehr zahlreich sind, die Aufteilung des Bodens in die Hand. Sie vergeben das Land an arme, landlose Bauern – eine leninistische Vorgehensweise, die der großen Mehrheit der kleinen und mittleren Grundbesitzer, die in den Dorfgemeinschaften den Ton angeben, gar nicht gefällt.

Am Kongress der Bauernsowjets (10. bis 15. November), der die Oktoberdekrete begrüßt, teilen sich linke SR und Bolschewiken das Sagen. Die rechten SR sind ausgeschlossen. Sie waren ja gegen den «Oktoberputsch», so wie zahlreiche Bauernorganisationen und Genossenschaften. Die Opposition ist noch sehr nebelhaft. Sie richtet sich nicht hauptsächlich gegen die soziale Revolution (die Bodenreform), sondern gegen die Macht einer einzigen Partei, gegen die Maßnahmen in Bezug auf Familien und Frauen, die Trennung von Kirche und Staat. Wo die Revolution frontal auf die christlichen Traditionen stößt. Einige Monate später sollte sich eine große Mehrheit der Bauern gegen die Aufteilung des Bodens, die Abschaffung des freien Handels, die Requisitionen von Getreide und die Mobilisierung für die Rote Armee auflehnen: So beginnt der Bürgerkrieg in den ländlichen Gebieten. Im Gegensatz zur Legende darf dieser Bauernaufstand nicht mit dem kollektivistischen und anarchistischen Aufstand Nestor Machnos im Südosten der Ukraine verwechselt werden. Es wurde oft über die «anarchistischen» oder «spontan kommunistischen» Bauern geredet. Sie waren es nicht. «Gemeinschaftlich» bedeutete überhaupt nicht «kommunistisch» oder «anarchistisch». Die traditionelle Bauernschaft, glühende Anhängerin der Revolution, als es darum ging, die Großgrundbesitzer zu verjagen, sträubt sich gegen die Kommunen, die Neuaufteilung, sie verteidigte gleichzeitig die patriarchale Dorfgemeinschaft, den Familienbesitz und den Freihandel. Nicht der «Sowjet» leitete die Gemeinschaft, sondern ein Ältestenrat, in gewissen Dörfern die Generalversammlung, an der die Senioren den Ton angeben.

1917 bis 18 wimmelt es im sowjetischen Russland von sozialen Experimenten, disparaten Situationen und von lokalen Machtstrukturen, außerhalb der Reichweite der Zentralmacht. Es herrscht Anarchie im wahrsten Sinn. Im südlichen Russland, in den Territorien der Kosaken, die sich abspalten, formiert die Konterrevolution ihre Armeen, die von Expeditionskorps aus 14 Ländern Unterstützung erhalten.

Unter diesen Umständen beschlagnahmt die Sowjetmacht Getreide und Pferde, rekrutiert Bauernsöhne, um die Rote Armee zu formieren, gewinnt zaristische Offiziere und antwortet mit dem Roten Terror auf die Attentate gegen die Macht und gegen Lenin. Der Bruch zwischen den «sowjetischen Parteien», d.h. zwischen Bolschewiken und linken SR einerseits und Menschewiken und rechten SR andererseits ist vollzogen, Vorspiel zu einem «Bürgerkrieg innerhalb des Bürgerkriegs»: Im Konflikt zwischen «Roten» und «Weißen» zeichnen sich die vielfältigen Konflikte ab, welche sich zwischen der bolschewistischen Macht einerseits sowie den Sozialrevolutionären und Anarchisten oder den aufständischen Bauern abspielen werden. Die «Vereinigte Linke», von der einige träumten, darunter auch Lenin bis zum Sommer 1917, stellt sich als Totgeburt heraus, die harten Gesetze des Bürgerkriegs gewinnen die Oberhand.