GESTERN - HEUTE- MORGEN: Eine große Divergenz

von Jacques Berguerand Longo maï, 06.05.2014, Veröffentlicht in Archipel 225

Dieser dritten und letzte Teil des Artikels über die Entstehung der «Dritten Welt» bespricht die Sichtweise von Kenneth Pomeranz auf die Themen Produktion, Handel, SAuch wenn es dem italienischen Händler Marco Polo im 13. Jahrhundert gelingt über die Seidenstrasse Peking zu erreichen, sind zu seiner Epoche die Luxusprodukte aus dem Fernosthandel – raffinierte Stoffe, Gewürze, Mobiliar, Getränke und mehr – vor allem für eine Elite bestimmt. Der Pumpeffekt beginnt langsam über das Rote Meer, Ägypten und Alexandrien, sowie über den Persischen Golf, Ormuz, Aleppo und Konstantinopel den europäischen Kontinent mit asiatischen Produkten zu versorgen.

Im 16. Jahrhundert leiten die Portugiesen und später die holländischen Händler zu ihren Gunsten diesen gut funktionierenden Handel militärisch um, weil sie keine Kontrolle über die Transportwege haben. Aber der «Kapitalismus», falls man ihn schon so nennen könnte, basiert noch hauptsächlich auf Handel, auch wenn sich schon sein finanzorientierter, imperialistischer Geist abzeichnet. In Europa konsumiert nur eine kleine begüterte Elite Tee und Gewürze wie Pfeffer, Zimt und Nelken. Der riesige asiatische Kontinent, Produzent all dieser Nahrungsmittel, braucht Europa nicht, um diesen Handel zu entwickeln. Er existiert weit verzweigt in der ganzen süd-ostasiatischen Region bis in den Indischen Ozean. Dort beherrschen die arabischen Seeleute und chinesischen Händler den blühenden Seehandel, der den europäischen angriffslustigen Flotten die Stirne bietet.

Silber als Ware China hingegen verstärkt die Geldwirtschaft mit Beginn des 15. Jahrhunderts. Nach Europa fließt seit dem 16. Jahrhundert Silber aus den spanischen Kolonien Peru und Mexiko, das von der chinesischen Wirtschaft aufgesogen wird. Silber ist nun die häufigste Ware, welche die Europäer dort gegen Luxusprodukte eintauschen. Ab Anfang des 19. Jahrhunderts werden Zucker, Tee, Kaffee, Kakao und Tabak nach und nach zu «Lebensmitteldrogen», die China als Wechselgeld benutzt. So gelangt zwischen einem Drittel und der Hälfte des spanischen Silbers nach China. Bis 1800 liefert das spanische Amerika 80 Prozent des gesamten Silberaufkommens weltweit. Für die Chinesen ist Silber eine Tauschware wie alle anderen. Dieses Silber ermöglicht China eine asienweite Wirtschaft aufzubauen. Gleichzeitig bewirkt die europäische Nachfrage nach Porzellan, Gewürzen, Tee und Textilien die Entwicklung einer europaweite Wirtschaft, die mit der asiatischen verbunden ist. Aber während Europa enorm viele chinesische Produkte importiert, gibt es außer Silber nur wenige Importe von europäischen Produkten nach China vor Mitte des 19. Jahrhunderts.
Das 15. Jahrhundert war in den Schlüsselzonen der Weltökonomie eher durch einen «Geldhunger» charakterisiert. Ein Jahrhundert später ist es nicht der Mangel an Kapital, der die Anfänge von kapitalistischen Systemen einschränkt, sondern der Mangel an Absatzmärkten für dieses Kapital. Denn das Heranwachsen einer kapitalistischen Klasse ist nicht zu verwechseln mit der Veränderung einer gesamten Gesellschaft. Schlussendlich gelingt es durch das Investieren dieser Kapitale, zuerst in den Seetransport und später in den Eisenbahnbau sowie in den Sklavenhandel, die Verbindung zwischen Produktion, Waren und Märkten herzustellen.

Beispiel Tee und Zucker Ab Mitte des 19. Jahrhunderts fängt man in Europa an «Lebensmitteldrogen» zur Arbeitsstimulierung zu konsumieren. Es ist noch nicht lange her dass die Bevölkerung von ihrer ländlichen Umgebung entwurzelt wurde um in die wachsenden Städte abzuwandern. Dem beginnenden Industrialisierungsprozess unterwirft sie sich nur widerstrebend. Gegen 1800 ist der Teekonsum in Europa noch sehr schwach. Er erreicht etwa 50.000 Tonnen um 1840, während China bei etwa gleich starker Bevölkerung (ungefähr 380 Millionen Menschen) schon 120.000 Tonnen verbraucht. Der Tabakgenuss ist im Gegensatz zu Europa in China sehr verbreitet.
Um 1800 beträgt der pro Kopfverbrauch an Zucker in Europa ein Kilo, aber schon zwei Kilo in China. In England setzt sich die industrielle Revolution durch und der Zuckerverbrauch pro Kopf beträgt schon acht Kilo pro Jahr. Zucker ist zu einer bedeutenden Kalorienquelle für die einfachen Leute geworden, die, weit entfernt von ihrem Wohnort, als Industriearbeiter lange Arbeitstage bewältigen. Doch der allgemeine Zuckerkonsum in Europa steigt erst in den Jahren nach 1830. Dies lässt sich mit sinkenden Preisen durch eine erste Revolution im Transportwesen erklären. Der Aufbau enormer Monokulturen in Amerika, der von Europäern betrieben wird und auf denen Sklaverei herrscht, ist ein weiterer Grund für diese Preissenkung. Der steigende Zuckerkonsum ist folglich keineswegs Ausdruck einer Einkommenssteigerung der Mehrheit der Bevölkerung.
In China stehen, wegen dem begrenzt vorhandenen Ackerland, die Getreideproduktion für die menschliche Ernährung und die Textilfaserproduktion von Seide und Baumwolle in Konkurrenz mit der Produktion von «Lebensmitteldrogen». Deren Produktion und Konsum verringert sich deshalb. Für Europa hingegen eröffnen sich mit der Eroberung Amerikas neue Anbaumöglichkeiten. Der Zugriff auf riesige Flächen ermöglichte die von der europäischen Wirtschaft benötigte Rohstoffproduktion im großen Maßstab, wenn auch nicht auf eigenem Boden produziert: Baumwolle, Zuckerrohr und vor allem Tabak, aber ab Mitte des 19. Jahrhunderts auch Weizen.
Geteilte Zwänge angesichts ökologischer Spannungen
Die Bevölkerung von Europa und China hatte sich zwischen 1750 und 1850 verdoppelt. In Anbetracht ihrer Kapazität an Land und Produktionsmitteln befanden sich alle so genannten maximal bevölkerten Zonen Europas und Chinas auf dem gemeinsamen Weg in eine Sackgasse. Diese Zonen hatten die demographische und vorindustrielle Wachstumsgrenze erreicht. Das verfügbare Land war begrenzt und die Produktion von Textil- und Energielieferanten trat in Konkurrenz mit der Lebensmittelproduktion.
In China, Japan, dem dänischen Königreich, England und in ganz Westeuropa fand im 18. und 19. Jahrhundert ein massives Abholzen statt, das sich seit dem 15. Jahrhundert anbahnte. Schon im 17. Jahrhundert war England mit einer Energiekrise konfrontiert. Es fehlte an Holz. Wegen dem Bevölkerungswachstum nimmt die Viehzucht zu Gunsten von Ackerkulturen ab. Die Fruchtbarkeit des Bodens verschlechtert sich aus Mangel an Dung und damit sinken die Erträge. Aber auch eine sehr starke Erosion und sogar eine Klimaveränderung machen sich in Europa ab dem 18. Jahrhundert bemerkbar.

Zentren und Peripherien Ein großes Hinterland und reichlich vorhandene Arbeitskräfte ermöglichten es China, sich neu zu orientieren. Seine Siedlungspolitik zielt darauf ab, weniger bevölkerte Randgebiete verstärkt zu besiedeln. Ebenso begünstigt eine gezielte Steuerpolitik die Entwicklung von Textilhandwerk. Der Holzmangel in der Region des unteren Flusslaufs des Yangzi wurde mit Holzimporten aus dem Norden und der Verwendung von Tierdung als Brennmaterial ausgeglichen. Erntereste dienten zur Tierfütterung und der massive Import von Sojapressrückständen aus der Mandschurei zur Bodendüngung der Baumwoll- und Reiskulturen. Als Gegenleistung wurde der Reisüberschuss des Unteren Yangzi nach Nordchina exportiert. Die Neuausrichtung der peripheren Gebiete auf ihre eigenen Bedürfnisse und die Diversifizierung ihrer Produktionen (Einführung von Süßkartoffel und Mais) wird zu einer Bremse für das Wachstum der Zentren und für den Export neuer Produkte aus diesen Gebieten in die Zentren. Die Schwächung der am Besten entwickelten Regionen bedeutet die Stärkung von ärmeren und weniger bevölkerten Regionen. Allgemein fand eine Intensivierung der Arbeit durch die Anhebung der Arbeitsstunden aller Arbeiter statt. Man kann sagen, dass zum Beispiel in China und Japan die Zentren mit diesen entwicklungshemmenden Engpässen konfrontiert waren, weil sich das Profil ihrer Peripherien in Zentren veränderte. Anders in Indien, dort beobachtet man nach 1800 ganz einen enormen Zuwachs an kultivierten Flächen und die Entwicklung zu einem Agrarland, dessen Zentren eher das Profil von Peripherien annahmen. Außerdem wurde in Indien durch die aggressive Präsenz der englischen Ostindien-Kompanie und die Konkurrenz mit den Textilmanufakturen in Manchester die Industrie maßgeblich geschwächt.
Die Entwicklung der Schlüsselregionen in Europa hing ebenfalls von ihren Randzonen ab. Eine große Menge an Produkten wurde vom Baltikum und Osteuropa importiert: Getreide, Holz, Vieh. Aber der Export dieser Produkte blieb auf Grund der starren sozialen Strukturen in diesen Randzonen mengenmäßig begrenzt. Zudem mangelte es an Einkünften für den Kauf von Importprodukten. Frankreich konnte sich weitgehend selbst versorgen, auch wenn zu dieser Zeit keine Technologie existierte, um die Produktivität zu steigern. Die starke Emigration aus England und Irland während der Dekade nach 1840, den so genannten «Hungerjahren», lassen annehmen, dass die Lebensmittelproduktion im Verhältnis zum demographischen Wachstum im Rückstand war. Und in Europa gab es keine Überschüsse, die an England verkauft werden konnten.

Amerika, eine neue Peripherie Erst mit der Eroberung des amerikanischen Kontinents findet Westeuropa einen Ausweg für seine räumlich begrenzte Situation. Im Gegensatz zu China erspart die Ausbeutung dieser «neuen Welt» die Mobilisierung von zusätzlichen Arbeitskräften auf dem europäischen Kontinent. Das Gold aus Peru und Mexiko dient zwar hauptsächlich zur Finanzierung der europäischen Kriege von Frankreich, Spanien, England und Holland, leitet aber auch den Handel mit China in die Wege. China liefert den Europäern überwiegend Stoffe mit denen wiederum die afrikanischen Sklaven eingekauft werden die dem amerikanischen Markt versprochenen sind. Die Einführung von Sklavenwirtschaft und Monokulturen auf dem amerikanischen Kontinent ermöglichte Europa Land zu bewirtschaften, das man den indianischen Ureinwohnern gestohlen hatte. Der erblühende europäische Markt wurde mit Rohstoffen versorgt, die er zum Aufschwung seiner Industrie benötigte, aber auch ein neuer Absatzmarkt eröffnete sich.

Ökologische Erleichterung für England Gegen 1800 gab es in England ungefähr 7 Millionen Hektar landwirtschaftlich nutzbares Land, die Weideflächen miteingerechnet, waren es 9 Millionen.
Zucker: Ein Hektar Zucker liefert gleich viele Kalorien wie vier Hektar Kartoffeln oder 10 Hektar Weizen. Um 1800 hätte es also mehr als 50.000 Hektar und um 1830 fast 100.000 Hektar englisches Ackerland gebraucht, um die gleiche Kalorienmenge statt des konsumierten Zuckers zu produzieren. Zwischen 1815 und 1900 steigt der Zuckerimport auf die 10-fache Menge. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts ersetzt Rübenzucker allmählich den Rohrzucker.
Baumwolle: Gegen 1815 beträgt der Baumwollimport 45 000 Tonnen. Das entspräche dem Anbau von Hanf und Leinen auf 80 000 Hektar, wobei Anbau und Verarbeitung schwierig sind. 1830 werden 120.000 Tonnen Baumwolle importiert, was dem Anbau von Hanf und Leinen auf 200.000 Hektar entspricht.
Zwischen 1815 und 1900 verzwanzigfacht sich der Baumwollimport. Hätte England die Baumwolle durch Schafwolle ersetzen wollen, wären um 1815 zusätzliche 3,5 Millionen Hektar und gegen 1830 sogar 9 Millionen Hektar notwendig gewesen.
Holz: Gegen 1825 importierte England für die Minen und den Schiffbau Holz aus Amerika, dessen Menge einer Waldfläche von 400.000 Hektar in Europa entsprochen hätte. Nicht eingerechnet ist hierbei das Holz von 250.000 Hektar Wald, das zusätzlich jedes Jahr aus dem Baltikum geliefert wurde. Zwischen 1815 und 1900 stieg die englische Kohleförderung um das 14-fache, und schon 1815 hätte England zusätzliche 6 Millionen Hektar Wald finden müssen, um die entsprechende Energiemenge der fehlenden Kohlen zu ersetzen. Kenneth Pomeranz schätzt, dass die amerikanischen «Phantomhektar» und die Kohleförderung es England gegen 1830 ermöglichten 10 bis 12 Millionen Hektar Land zu sparen.

Zahlen sind nicht alles Die Arbeiter der englischen Industrie waren vorher in der Protoindustrie beschäftigt und kommen nicht direkt aus der bäuerlichen Bevölkerung. Gegen 1800 konnte es sich die englische Landwirtschaft nicht leisten, Arbeitskräfte zu verlieren, ohne wesentliche Produktionseinbussen zu haben oder massiv Agrarprodukte zu importieren.
China hingegen blieb im Wesentlichen ein Agrarimperium, wie die Entwicklung der Landbevölkerung und die Arbeitsintensivierung auf den kleinen Höfen aufzeigt, auch wenn auf den Höfen eine bedeutende Protoindustrie vorhanden ist. Um das Stadium dieser Protoindustrie zu überwinden, hätte China direkt Arbeiter aus der Landwirtschaft abziehen müssen, mit dem Risiko die Gewährleistung seiner Lebensmittelproduktion zu gefährden. Die Kohlevorkommen im Norden waren weit entfernt von den dicht bevölkerten Zentren. Das chinesische protoindustrielle Textilhandwerk bestand nicht, wie in England, aus kleinen Manufakturen, die sehr schnell dazu übergingen, Maschinen mit kohlebetriebenen Dampfmaschinen anzutreiben, und deren Rohstoffversorgung mehr und mehr auf Amerika und den anderen Kolonien basierte. Die gesamte Textilverarbeitung in China wurde von der Bevölkerung als Heimgewerbe verrichtet.
Die Neuorientierung dieser Produktion in Richtung der Peripherien im immensen Hinterland bewirkte, dass diese Protoindustrie für den lokalen und regionalen Markt bestimmt war. Dort auf dem Land wuchs die Bevölkerung am stärksten. Die Ackerböden reichten nicht mehr aus, um Textilfasern für den Export zu produzieren. Im Yangzidelta stiegen die Preise für Reis und Baumwolle, weil von ihnen, im Verhältnis zu der wachsenden Bevölkerung, weniger vorhanden war. Die Textilprodukte der Protoindustrie verloren an Wert und die Heimarbeiter – Baumwollspinner und Weber – verdienten deshalb weniger. Eine allgemeine Verarmung breitete sich aus. Die Bevölkerung suchte noch stärker ihr Auskommen in der Landwirtschaft, da es keine Möglichkeit gab zu emigrieren oder für den schrumpfenden Auslandsmarkt zu produzieren.
In Europa war die Marktwirtschaft in Gang gekommen. Der Markt beruhte auf Industrieprodukten, die auf ausländischen Märkten verkauft wurden. In England verringerte sich die Zahl der landwirtschaftlichen Arbeitskräfte sichtbar und die Ernährung des Landes hing mehr und mehr von Agrarimporten ab. Aber seine erblühende Industrie katapultierte England an die vorderste Stelle unter den reichsten Nationen.

Schlusswort Heute hat China erstens viel vom Westen gelernt, zweitens kann es auf eine riesige Reserve an Arbeitskräften unter der bäuerlichen Bevölkerung zurückgreifen, um seine Industrie zu entwickeln. Es kann nun die gleichen Länder des Westens mit billigen Produkten überschwemmen. Den riesigen Außenhandelsüberschuss investiert China in Afrika in den Kauf oder die Pacht von Land, um Nahrungsmittel oder Energie zu produzieren. Europa befindet sich mit China im Konkurrenzkampf und kann seine überflüssig gewordenen Arbeiter nicht wieder aufs Land schicken. Diese leben in prekären Verhältnissen und sind zu Arbeitslosigkeit, schlechter Ernährung und Verarmung verurteilt.

Quelle: Kenneth Pomeranz, The great divergence: China, Europe and the making of the modern world economy klavenwirtschaft und die Entwicklung von Industrie, die zur Verarmung eines Teils der Bevölkerung führt.