GESTERN - HEUTE - MORGEN: Extreme Radikale

von Wolfgang Wippermann, 09.06.2010, Veröffentlicht in Archipel 182

Was ist eigentlich ein „Extremist“? Antifaschisten sollten nicht gedankenlos von „Extremismus“ reden. Bei den Bezeichnungen „radikal“ und „extremistisch“ handelt es sich nicht um Begriffe des Rechts. Und einige der gegenwärtigen „Extremismusforscher“ haben mehr Ähnlichkeit mit Exorzisten als mit Gelehrten.

Jegliche „Abweichung von der gesellschaftlichen Norm“ und alle „politische(n) Einstellungen, die fundamentale Veränderungen in der Gesellschaftsordnung anstreben und dabei die Grenzen des demokratischen Rechtsstaates ausschöpfen, in Frage stellen oder überschreiten“, sind „extremistisch“, heißt es bei Wikipedia. Nach dieser Definition sind oder können zumindest alle Falschfahrer, Nichtwähler, Wehrdienstverweigerer und so weiter als Extremisten bezeichnet werden – einfach grotesk. Haben wir es hier wieder einmal mit einem der vielen schwachsinnigen Wikipedia-Artikel zu tun, über die wir uns immer so ärgern? Keineswegs! Eine ähnliche und weitaus problematischere Extremismusdefinition befindet sich in einem „Politiklexikon“, das von der Bundeszentrale für politische Bildung herausgegeben wird. Hier heißt es: „Im politischen Sinne bedeutet Extremismus die prinzipielle, unversöhnliche Gegnerschaft gegenüber Ordnungen, Regeln und Normen des demokratischen Verfassungsstaates sowie die fundamentale Ablehnung der mit ihm verbundenen gesellschaftlichen und ökonomischen Gegebenheiten. Extremistische Einstellungen basieren i.d.R. auf grundsätzlicher Ablehnung gesellschaftlicher Vielfalt, Toleranz und Offenheit und stellen häufig den Versuch dar, die aktuellen politischen, ökonomischen und sozialen Probleme auf eine einzige Ursache zurückzuführen.“
Dieser Bestimmung zufolge ist oder kann zumindest jeder als Extremist bezeichnet und beschimpft werden. Denn wer ist nicht schon einmal nicht zur Wahl gegangen, obwohl er damit eine wirklich wichtige „Regel“ des „demokratischen Verfassungsstaates“ verletzt hat? Wer hat nicht schon einmal über die Arbeitslosigkeit geklagt und damit eine „gesellschaftliche und ökonomische Gegebenheit“ nicht stillschweigend akzeptiert, sondern kritisiert? Und wer hat nicht schon einmal die „Ursache“ der Arbeitslosigkeit und anderer „ökonomischer und sozialer Probleme“ der Gegenwart in dem bei uns herrschenden Wirtschaftssystem der so genannten sozialen Marktwirtschaft sehen wollen?
Wie konnte es zu einem solchen gemeingefährlichen Unsinn kommen? Wie unschwer zu erkennen ist und wie auch im Wikipedia-Artikel erkannt wird, stammt der Extremismusbegriff „aus dem Umfeld der Totalitarismustheorien“. Diese aber waren durch die Wissenschaft widerlegt und wegen der veränderten politischen Lage zudem wenig opportun geworden. Daher wurde nach einem Ersatzbegriff gesucht, der zunächst im „Radikalismus“ gefunden schien. Da das aus dem lateinischen Wort für Wurzel, radix, abgeleitete Wort „radikal“ aber eigentlich nur bedeutet, bestimmten Dingen auf den Grund bzw. eben an die Wurzel zu gehen, was natürlich nicht verwerflich und politisch völlig ungefährlich ist, ging die Suche nach einem weiteren Ersatzbegriff weiter, bis schließlich der „Extremismus“ entdeckt wurde.
Schöpfungen des Verfassungsschutzes
Die treibende Kraft war jeweils der bundesrepublikanische Verfassungsschutz, der bis 1973 „Radikale“ beobachtete, danach jedoch von „Extremisten“ (in den jährlichen Berichten des Verfassungsschutzes) sprach. Der Begriffswandel wurde weder begründet noch durch die Legislative vorgeschrieben. Diese hatte fortwährend von „Radikalen“ gesprochen. Auch der „Radikalenerlass“ des Bundes und der Länder wurde nicht in „Extremistenerlass“ umbenannt. Der Extremismusbegriff ist allein vom Verfassungsschutz und einigen seiner offiziellen und inoffiziellen Mitarbeiter in die Debatte eingeführt worden. Zusammen mit einigen anderen Politologen begründeten sie eine neue Sparte der Politikwissenschaft – die Extremismusforschung. Ihre Hauptvertreter waren und sind wiederum die bekannten Politologen Uwe Backes und Eckhard Jesse.
Alles in allem ist dies ein sehr denkwürdiger Vorgang, der ein Zwielicht auf das Rechts- und Verfassungsverständnis der Bundesrepublik wirft, in der Forschung und Lehre eigentlich frei sein sollen. Hiermit ist kein Angriff auf den Verfassungsschutz verbunden, wenn sich aller-dings ein Organ der Exekutive derart in die freie Wissenschaft einbringt, dann sind doch einige Grenzen überschritten worden. Umso erstaunlicher, dass diese Vorkommnisse so wenig erkannt und noch weniger kritisiert worden sind.
Außerdem hatte diese Entwicklung schwere politische Folgen, die auch unter rechtlichen Aspekten als bedenklich zu betrachten sind. Man denke nur an die vielen Opfer der so genannten Radikalenerlasse, die ihren Beruf verloren oder Stellen gar nicht erst antreten konnten, weil sie als radikal bzw. späterhin als extremistisch eingeschätzt worden sind. Dabei handelte es sich bei „radikal“ und „extremistisch“ keineswegs um Begriffe des Rechts, tauchen sie doch weder im Grundgesetz noch überhaupt in irgendeinem Gesetz auf, weshalb sie zu keinerlei juristischen Konsequenzen führen und führen dürften. Nur solche Personen und Organisationen, die als „verfassungsfeindlich“ eingeschätzt werden, können vom Verfassungsschutz „beobachtet“ werden. Eine als „verfassungsfeindlich“ bezeichnete Partei im Sinne des Grundgesetzes, der eine „fundamentale Ablehnung des demokratischen Verfassungsstaates“ nachgewiesen wird, kann sodann auf Antrag des Bundestages, des Bundesrates und der Bundesregierung vom Bundesverfassungsgericht als „verfassungswidrig“ eingestuft und verboten werden.

Wer definiert die freie Welt?

Doch dies ist nicht alles. Extremismus ist nicht nur kein Rechtsbegriff, er ist ein politischer Begriff für ein real nicht existentes Phänomen, das von einigen Politologen erfunden wurde, die ihre Erfindung überdies völlig unzureichend begründet haben. Dazu noch einige weitere Beispiele, welche die bereits erwähnten – unzureichenden – Definitionen ergänzen.
Der Politikwissenschaftler Hans Günther Merk definierte „Extremismus als eine gegen die Wertvorstellungen einer Gemeinschaft von Menschen gerichtete Verhaltensweise“. Welche „Gemeinschaft“ – auch die „Volksgemeinschaft“ in der NS-Zeit? lautet die unumgängliche Frage. Sind die Widerstandskämpfer daher als Extremisten einzuordnen? So weit wollte Merk dann doch nicht gehen, weshalb er seine eigene Definition etwas einschränkte und behauptete, Extremisten seien solche Personen, die sich „gegen die Wertvorstellungen zumindest der gesamten freien Welt“ ausgesprochen und oder sich als „Gegner einer freiheitlich demokratischen Grundordnung (im Sinne des Grundgesetzes)“ betätigt hätten. Es ist unfassbar. Hier beanspruchte ein westdeutscher Politologe, was die „Wertvorstellungen“ der „freien Welt“ sind oder zu sein haben, um dann noch anzufügen, diese sollten sich gefälligst an denen des Grundgesetzes orientieren. Die „Welt“, zumindest die „freie“, sollte hier wieder einmal „am deutschen Wesen genesen“.
Nicht ganz so kühn waren und wollten die Extremismusforscher Uwe Backes und Eckhard Jesse sein. Für sie ist Extremismus eine „Sammelbezeichnung für unterschiedliche politische Gesinnungen und Bestrebungen“, die „sich in der Ablehnung des demokratischen Verfassungsstaates und seiner fundamentalen Werte und Spielregeln einig wissen“. Dies gelte, wie Uwe Backes in einem weiteren Aufsatz ergänzte und präzisierte, für alle „Verfassungsstaaten“, womit er eine Deutungshoheit nicht allein für die deutsche Demokratie beanspruchte.
Hier ist zunächst noch einmal daran zu erinnern, dass eine bloße „Ablehnung des demokratischen Verfassungsstaates“ nach unserer Verfassung noch nicht einmal „verfassungsfeindlich“ oder gar „verfassungswidrig“ ist. Gegen seine, wie auch immer diese sich gerieren sollen, „Spielregeln“ zu verstoßen, indem ein Bürger sich zum Beispiel nicht an Wahlen beteiligt, ist zwar zu beklagen, aber auf keinen Fall in irgendeiner Weise zu verurteilen.
Zu kritisieren ist ebenso die weitgehende Identifikation von Anarchismus und Kommunismus, zumal beide politische Erscheinungen nicht einmal im Ansatz definiert und voneinander differenziert werden. Daher ist außerdem fraglich, ob tatsächlich alle Kommunisten genau wie die Anarchisten (die tatsächlich allen politischen Organisationen misstrauen) den „demokratischen Verfassungsstaat“ ablehnen würden. Gänzlich unbewiesen und letzten Endes auch unverantwortlich ist die Behauptung, Rechtsextremisten und die als linksextremistisch bezeichneten Kommunisten und Anarchisten gingen gemeinsam gegen den „demokratischen Verfassungsstaat“ vor. Dies liest sich dann folgendermaßen: „Rechts- und Linksextremisten brauchen mithin einander. Letztlich sind sie also gar nicht daran interessiert, dass die andere Variante des Extremismus, die sie zu bekämpfen vorgeben, gänzlich von der Bildfläche verschwindet. Sie wollen vielmehr das hervorrufen, was sie so heftig attackieren.“