GESTERN - HEUTE - MORGEN: Extreme Radikale

von Wolfgang Wippermann, 20.06.2010, Veröffentlicht in Archipel 183

Was ist eigentlich ein «Extremist»? Antifaschisten sollten nicht gedankenlos von «Extremismus» reden. Bei den Bezeichnungen «radikal» und «extremistisch» handelt es sich nicht um Begriffe des Rechts. Zweiter Teil.

«Rechts- und Linksextremisten brauchen mithin einander. Letztlich sind sie also gar nicht daran interessiert, dass die andere Variante des Extremismus, die sie zu bekämpfen vorgeben, gänzlich von der Bildfläche verschwindet. Sie wollen vielmehr das hervorrufen, was sie so heftig attackieren.»

Diese Äußerung enthält drei Behauptungen, die alle fragwürdig und falsch sind. Zunächst sollen linke und rechte Parteien einen extremistischen Charakter haben, weil ihre Vertreter an den äußersten linken und rechten Rändern eines halbrunden Parlamentssaals sitzen. Doch dies war und ist nicht immer und überall so. Im britischen Parlament sitzen sich Linke und Rechte bzw. die Vertreter der Regierungs- und der Oppositionspartei gegenüber. In der ersten französischen Nationalversammlung von 1790 haben dagegen die Linken auf den oberen Sitzreihen des ebenfalls halbrunden Sitzungssaals Platz genommen. Sie bildeten die so genannte Berg-Partei (montagne), und ihre Mitglieder wurden montagnards (wörtlich: Gebirgler) genannt. Die Sitzordnung in den Parlamenten folgt also keiner festen und universal geltenden Regel.
Weiterhin sitzen keines-wegs immer die ganz linken oder ganz rechten Parteien auch am linken oder rechten Rand. Im heutigen Bundestag sitzen zum Beispiel die Vertreter der FDP dort, wo eigentlich die der CDU sitzen müssten– ganz rechts. Aus der Tatsache, dass die Abgeordneten der FDP rechts von der CDU Platz nehmen, wird nun niemand schließen wollen, die FDP sei rechter als die CDU oder sei gar als «rechtsextremistisch» einzuschätzen.
Linke und rechte Parteien sind also keineswegs deshalb als links- oder rechtsextremistisch zu bezeichnen, nur weil ihre Vertreter an den linken und rechten Rändern der Parlamente Platz nehmen oder Platz nehmen müssen. Andererseits können auch Parteien, die weiter in der Mitte sitzen, eine extremistische, oder genauer, antidemokratische Zielsetzung haben. In der Weimarer Republik war dies ohne Zweifel der Fall. Denn hier saßen die Vertreter der antidemokratischen DNVP links von denen der NSDAP. Andererseits haben sich keineswegs alle Abgeordneten der SPD, die wiederum rechts von der KPD saßen, zu den Prinzipien der parlamentarischen Demokratie bekannt. «Republik, das ist nicht viel – Sozialismus ist das Ziel!» lautete ihre Losung. Kurz: Wer oder was die demokratische Mitte ist oder sein soll, ist relativ und veränderbar, was den sich selbst zu dieser demokratischen Mitte rechnenden Parteien natürlich sehr zugute kommt.
Die zweite Behauptung von Backes und Jesse ist noch problematischer: Ihre durch nichts bewiesene These, «Links-» und «Rechtsextremisten» bekämpften gemeinsam die demokratische Mitte, wobei sie sich in politischer und ideologischer Hinsicht einander annäherten und schließlich anglichen. Zum Beweis dieser fantastischen These wird gern das Schicksal der Weimarer Republik bemüht. Sie sei von links und rechts bzw. von Kommunisten und Nationalsozialisten zerstört worden. Das ist sie keines-wegs. Stattdessen wurden ihre demokratischen Bestandteile schrittweise und von oben (unter anderem durch die missbräuchliche Anwendung des Artikels 48*) eingeschränkt, bevor die Republik dann durch ein Bündnis von Konservativen und Faschisten gänzlich beseitigt wurde. Von einer nationalsozialistischen «Machtergreifung» kann daher nicht gesprochen werden – von einer «nationalsozialistisch-kommunistischen» am allerwenigsten. Der Führer der KPD, Ernst Thälmann, wurde verhaftet und nicht wie jener der Konservativen, Alfred Hugenberg, Minister.
Die Angleichungsthese entbehrt jeglicher historischen und empirischen Grundlage. Suggeriert wird sie mit dem Fingerzeig auf einen imaginären Halbkreis, dessen linke und rechte Ränder sich annäherten, was Backes und Jesse mit der Verwendung eines weiteren grafischen Symbols zu beweisen trachteten – einem Hufeisen. Einmal in Schwung, formten sie in ihrer Fantasie bzw. auf dem Zeichentisch aus dem Hufeisen einen Kreis und nannten diesen «Extremismus».
Übertroffen wurde die Zeichenspielerei von dem Bonner Politologen Manfred Funke, der die Existenz des real nicht tragenden Extremismusphänomens durch ein Doppelkreis-Modell zu beweisen trachtete. Dabei sitzen die guten Demokraten in einem inneren Kreis, der von -einem äußeren Kreis umgeben ist, in dem sich lauter Extremisten tummelten.
All dies klingt mehr als komisch, war jedoch ernst gemeint und wurde als wissenschaftlich, genauer, politikwissenschaftlich ausgegeben. Tatsächlich handelte es sich um bloßen Schwindel, der an den von den Aufklärern entlarvten «Schwindel der Priester» erinnert, mit dem verschiedene Klerikale den Wahrheitsgehalt von verschiedenen frommen Legenden zu beweisen gesucht haben. Beim Extremismus ist die Sachlage ähnlich. Extremismus ist eine Legende, die mit einem «Politologen-Schwindel» bewiesen werden soll.
Hierbei handelt es sich um einen in der Wissenschaftsgeschichte fast einmaligen Vorgang. Es muss weit zurückgreifen, wer etwas Ähnliches finden will. Ein Beispiel wäre da der Hexenwahn der Frühen Neuzeit. Hexen gab es zwar genauso wenig wie Extremisten, dennoch wurde ihre Existenz durch alle möglichen Tricks und Dokumente vorgeblich bewiesen, und zwar ganz «wissenschaftlich». Keineswegs nur durch fanatische Exorzisten wie den Verfasser des berüchtigten Hexenhammers, Heinrich Kramer, sondern auch durch Gelehrte wie Jean Bodin, der die theoretischen Grundlagen des Absolutismus gelegt hat.

Begriffe

Einige der heutigen Extremismusforscher haben mehr Ähnlichkeiten mit dem Exorzisten Kramer als mit dem Gelehrten Bodin. Hier ist noch einmal Manfred Funke zu erwähnen, der «den Extremisten» zu-nächst psychologisiert, um ihn dann einem strengen Exorzismus zu unterziehen. Strebe doch der «Extremist» danach, «das soziale Paradigma, in dem er lebt, bis zur Vernichtung hin verächtlich» zu machen. Er, «der Extremist», sei «insgeheim ein Minderheits-Massenmensch», der die «Abschaffung der gegebenen Verhältnisse unter prinzipieller Bejahung des Gewalteinsatzes zur Durchsetzung der neuen Wertvorstellungen» befürwortete und anstrebe, bei richtiger politologischer bzw. exorzistischer Behandlung aber noch von seinem verderblichen Weg abzubringen sei, sei er doch noch von «Skrupeln» befangen, «die Umkehr und Kompromiss nicht ausschließen».
Ich erspare mir hier weitere Beispiele dieser exorzistischen Rituale und kabbalistischen Zeichenspielchen, mit denen Existenz und Austreibung des Extremismus begründet und gefordert werden. Warum nur wurde dieser Missstand bisher nicht durchschaut? Aus welchem Grunde wenden sich auch heute noch linke Antifaschisten gegen Rechtsextremisten, obwohl sie damit doch den Verdacht auf sich ziehen, selbst Linksextremisten zu sein, die sich nur wenig von der anderen faschistischen Variante des Extremismus unterscheiden?
Die Antworten sind offensichtlich. Der Extremismusbegriff ist gerade wegen seiner Vagheit eine vorzügliche Waffe in der Hand der Rechten. Sie müssen nichts weiter als sich der Mitte zugehörig deklarieren, um sich von ihren rechtsextremen Bundes- und Gesinnungsgenossen formal abgrenzen und von den wahren Gefahren ablenken zu können, die von oben und aus eben dieser Mitte der Gesellschaft drohen. Damit können sie zugleich ihre eigenen antidemokratischen Gesinnungen und Taten vertuschen, weil die Gefahren, die der Demokratie drohen, nur von rechts und natürlich sehr viel stärker von links kommen und dem Halbkreis-Modell nach auch kommen können. Im Umkehrschluss muss die angebliche antidemokratische Zielsetzung der Linksextremen gar nicht erst bewiesen werden – es reicht, sie an den äußersten linken Rand zu verweisen.
Andererseits werden die Gefahren, die handfest vom «rechten Rand» drohen, in einer unverantwortlichen Weise verkannt. Schließlich war und ist das, was als Rechtsextremismus bezeichnet wird, keineswegs nur antidemokratisch. Gemeint sind der klassische und der neue Faschismus, denn der war und ist außerdem antifeministisch, antikommunistisch, antisemitisch und generell rassistisch – vertrat und vertritt also Ideologien, die auch in der Mitte der Gesellschaft, aber eben weit weniger unter den Linken anzutreffen sind. So dürfte, um nur ein Beispiel zu nennen, die antisemitische Einstellung, die heute in der Bevölkerung auf mindestens 20 Prozent geschätzt wird, keineswegs nur bei den Menschen anzutreffen sein, die aus welchen Gründen auch immer als ganz rechts stehend gesehen werden. Antisemiten gibt es überall, leider auch bei einigen Linken, die diesen ihren Antisemitismus meist als Antizionismus tarnen, weil sie lediglich Vorbehalte gegen die Zionisten oder den Staat Israel hegten.
Dass die Extremismusforscher und sonstigen so staatstreuen Politikwissenschaftler den Faschismusbegriff meiden wie der Teufel das Weihwasser, hat auch mit seiner politischen Gefährlichkeit zu tun. Wer von Faschismus statt von Extremismus spricht, weist zugleich auf seine kapitalistischen Strukturen und Voraussetzungen sowie auf seine Bundesgenossenschaft mit dem Konservativismus hin. Erstere liegen immer noch vor, Letzteres – das historische Bündnis mit den Konservativen – kann sich wiederholen. So gesehen ist der Faschismus- bzw. Antifaschismusbegriff tatsächlich eine politische Waffe, der mit der des Extremismus begegnet werden soll.
Daher sollten Antifaschisten nicht von (Rechts-)Extremismus reden. Dass sie es dennoch tun und in der Öffentlichkeit generell der Faschismus durch den Extremismusbegriff verdrängt worden ist, hat jedoch einen weiteren Grund. Bei der Debatte um Extremismus (und Totalitarismus) geht es keineswegs nur um Wissenschaft, nicht einmal bloß um Politik – hier geht es um etwas ganz Entscheidendes, aber häufig Übersehenes: um die Staatsideologie der alten Bonner Republik, die wieder die Staatsideologie der neuen Berliner Republik geworden ist oder zumindest werden soll.

«Wehrhafte Demokratie»

Anders als die Weimarer Republik wollte die Bundesrepublik eine «wehrhafte Demokratie» sein. Wehrhaft gegen wen oder was? Gegen die konservativen Kräfte aus der Mitte der Gesellschaft, welche die Demokratie von Anfang an bekämpft haben, um sie schließlich im Bündnis mit den Faschisten zu zerschlagen? Weit gefehlt! Gemeint waren die antidemokratischen Kräfte vom rechten und linken Rand des Parteienspektrums, die getrennt und teilweise auch gemeinsam die Demokratie von Weimar zerstört hätten.
Wie zuvor bereits erwähnt, ist diese These falsch. Die Weimarer Republik ist nicht von links und rechts, sondern von oben und aus der Mitte zerstört worden. Schon 1930 war sie keine funktionsfähige Demokratie mehr, weil alle Reichskanzler seit Brüning ohne Zustimmung des Parlaments regierten und sich mehr und mehr auf den Diktaturparagrafen 48 der Weimarer Reichsverfassung stützten. Am 30. Januar 1933 kam es schließlich zu einem Bündnis und einer Koalitionsregierung aus Faschisten und Konservativen und eben nicht aus Faschisten und Kommunisten.
Das Konzept der wehrhaften Demokratie beruht also auf der mehr als fragwürdigen Behauptung, wonach die Weimarer Republik von den rechten und linken «extremistischen» Parteien zerstört worden sei. Aus diesem einseitigen, ja im Grunde falschen historischen Deutungsmuster des Unterganges der Weimarer Republik wurden und werden bis heute sehr einseitige verfassungsrechtliche Schlussfolgerungen gezogen, die sich möglicherweise als ebenso falsch wie für den Bestand der Demokratie als wahrhaft fatal erweisen können.
So sieht sich die «wehrhafte Demokratie» doch vornehmlich, ja fast ausschließlich von «Vereinigungen» und «Parteien» bedroht, die sich laut Artikel 9.2 Grundgesetz «gegen die verfassungsmäßige Ordnung» richten oder die nach Artikel 21.2 GG «ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitlich demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen». Eine Gefährdung der Demokratie von oben durch den allmählichen Abbau demokratischer Rechte scheint schon für die Verfassungsväter unvorstellbar gewesen zu sein, obwohl sie genau dies kurz zuvor in der Endphase der Weimarer Republik selbst erlebt hatten.
Stattdessen wollten sie eine «demokratische Verfassung schaffen, in der vor allem der Gedanke der persönlichen Freiheit gegen totalitäre Staatsbestrebungen gesichert werden» müsse. Dies führte dazu, dass der im Artikel 18 Grundgesetz erwähnte verfassungsrechtliche Kern-begriff der «freiheitlich demokratischen Grundordnung» nicht positiv, sondern negativ durch die Abgrenzung von irgendwelchen «extremistischen» oder «totalitären» Bestrebungen definiert wurde.
Deutlich ausgesprochen worden ist dies von dem sehr einflussreichen Staatsrechtler und Verfassungsrichter Gerhard Leibholz. In verschiedenen Publikationen hat er den «Totalitarismus» nationalsozialistischer und kommunistischer Provenienz als «negatives Gegenbild» zur «freiheitlich demokratischen Grundordnung» bezeichnet.