GESTERN - HEUTE - MORGEN: Im Gedenken an John Berger

von Herma Ebinger Longo maï, 04.03.2017, Veröffentlicht in Archipel 256

John Berger war ein genauer, sensibler und geduldiger Beobachter, konnte noch im hohen Alter staunen angesichts des vielfältigen Reichtums der Welt. Und stand – trotz seiner sehr realistischen Sicht der Welt – zu Hoffnung und Bejahung des Lebens.

«Henry Fords Bemerkung ‚Geschichte ist Humbug‘ ist allgemein unterschätzt worden; er wusste genau, was er sagte. Die Zerstörung der Bauernschaften in der Welt könnte ein letzter Akt historischer Eliminierung sein.» Diesen letzten Satz des «Historischen Nachworts» im Buch «Sauerde»1 von John Berger im Kopf, fuhren wir zu zweit vor nunmehr einem Jahrzehnt in das Dorf in den Bergen Savoyens, unangemeldet, um ihn zu treffen, ihm zu danken für seine Bücher und besonders für die Denkanstösse des oben erwähnten Nachworts. Wir hatten ein paar Kleinigkeiten aus der Produktion der Longo-maï-Kooperativen eingepackt. Eine alte Frau auf der Strasse fragten wir nach dem Haus von Monsieur Berger. Sie zeigte auf ein Haus, das eher dem eines Hirten (frz. berger) ähnelte, als dem eines Schriftstellers. Doch sie bestand darauf, dass es der «écrivain» und nicht der «berger» (Schäfer) sei. Also klingelten wir.
Eine Begegnung in Savoyen
Eine schöne, ältere Frau öffnete uns, sah die Unbekannten fragend an. Das Zauberwort «Longo maï» öffnete uns die Tür, sie rief John, er kam, begrüsste uns wie alte Freunde und bat uns in die Küche. Bei einem Tee, gesüsst mit Preiselbeeren nach russischer Art, forderte er uns auf, vom Leben in den Kooperativen zu erzählen. «Das klingt alles sehr komfortabel, ich hoffe, ihr streitet Euch noch immer», meinte er lachend. Wir beeilten uns, die aktuellen Auseinandersetzungen aufzuzählen, in denen wir uns in den jeweiligen Ländern befanden. John telefonierte und kurz danach traf sein Sohn ein, mit einem gereiften runden Käse und einer Salami seiner Produktion. Auch seine Gedichte hatte er mitgebracht. Es war eine Begegnung, einen Nachmittag lang, deren Intensität bis heute wirkt. Zum Abschied schenkte uns John Berger sein Buch «Gegen die Abwertung der Welt», mit Essays und seinem Briefwechsel mit Subcommandante Marcos.
Zu Hause fanden wir in einem kleinen Bändchen mit Gedichten und Zeichnungen von John Berger das Porträt von Theodor Shanin, und entdeckten so erst nach unserem Besuch, dass beide sich kannten. Theodor Shanin, ein Soziologe, dessen Forschungsthema die Landwirtschaft ist, war während der Wirren des Zweiten Weltkriegs aus der Sowjetunion nach Palästina geflohen, wo er sich für die Schaffung des israelischen Staates einsetzte. Entsetzt über die Entwicklung Israels, für dessen Entstehung er gekämpft hatte, kehrte er dem Land den Rücken und zog Anfang der 1950er Jahre nach Grossbritannien. Seit Ende der 1980er-Jahre war er regelmässig in Russland, um den dortigen Landwirtinnen und Landwirten ihre bäuerlichen Traditionen wieder bewusst zu machen. Theodor besuchte die Longo-mai-Kooperativen öfters und sprach über seine Erfahrungen in Russland. Leider fragten wir John Berger nicht nach seiner Begegnung mit Theodor. Nun ist es zu spät – er ist nicht mehr.
Maler und Dichter
John Berger starb am 2. Januar 2017 in Paris, mit 90 Jahren. Geboren wurde er 1926 in London, studierte Kunstgeschichte und Malerei. In den fünfziger Jahren schrieb er seinen ersten Roman, «Die Spiele»2, in dessen Nachwort von 1988 er schrieb: «Ungefähr vier Jahre, bevor ich mit der Arbeit an dem Buch begann (drei Jahre habe ich für die Niederschrift gebraucht), hörte ich auf, als Maler zu arbeiten. Irgendwie ist dieses Buch also ein Lebewohl an die Kunstrichtung, die ich kurz vorher aufgab. Ich hatte die Malerei nicht eingestellt, weil ich glaubte, ich hätte kein Talent, sondern weil das Malen von Bildern in den frühen fünfziger Jahren kein ausreichender Weg zu sein schien, die Vernichtung der Welt durch einen Atomkrieg aufzuhalten. Das gedruckte Wort war ein klein wenig effektiver. Heute ist es schwer, den Menschen verständlich zu machen, welch kurze Zeit wir damals noch zu haben glaubten, diese letzte Katastrophe zu verhindern.»
Inzwischen habe ich alle Bücher von John Berger, die auf Deutsch erschienen sind, gelesen, nehme aber immer wieder das Buch «Sauerde» in die Hand, um seine Überlegungen im Nachwort neu zu lesen und zu überdenken: «Die bemerkenswerte Beständigkeit bäuerlicher Erfahrung und bäuerlicher Weitsicht gewinnt im Moment, da sie von der Auslöschung bedroht ist, eine beispiellose und unerwartete Wichtigkeit. Es ist nicht allein die Zukunft des Bauern, für die diese Beständigkeit eine Rolle spielt. Die Kräfte, die heute fast überall auf der Welt das Bauerntum eliminieren und zerstören, stellen die Aufhebung fast aller Hoffnungen dar, die einst in dem Prinzip des geschichtlichen Fortschritts enthalten waren. Es ist nicht so, dass die grössere Produktion den Mangel verringerte. Die Ausbreitung von Wissen führt nicht eindeutig zu einem Anwachsen der Demokratie. Die Errungenschaft der Freizeit – in den Industriegesellschaften – hat nicht individuelle Erfüllung, sondern grössere Manipulation der Massen gebracht. Die ökonomische und militärische Einigung der Welt hat nicht Frieden, sondern Völkermord gebracht. Der Argwohn des Bauern gegenüber dem ‚Fortschritt‘, wie ihn schliesslich die Geschichte des Aktienkapitals über die ganze Welt gebracht hat mitsamt der Macht, den diese Geschichte auch noch über die hat, die eine Alternative anstreben, ist gar nicht so ganz unangebracht oder gegenstandslos.» Wir haben uns John Berger immer sehr nahe gefühlt. Neben seiner Bindung zum Bauerntum und seiner Liebe zum Landleben, war John einer der Ersten, der auf die Realität der Gastarbeiter_innen hingewiesen hat. Gemeinsam mit dem Schweizer Photographen Jean Mohr, arbeitete er 1973 und 1974 an dem Buch «Der siebte Mensch»3 (siehe Kasten), das 1975 veröffentlicht wurde.
Die Geschichte dieses Buches wirft noch ein anderes, wesentliches Licht auf den Autor und bringt ihn uns näher: 1972 erhielt John Berger den «Booker Prize» (renommiertester Literaturpreis in Grossbritannien) für sein Buch «G». Er beschliesst, die Hälfte des Geldes den Black Panthers zu geben und mit der anderen Hälfte in die Forschungsarbeit für sein Buchprojekt «Der siebte Mensch» zu investieren. Angewidert von dem Skandal, den seine Unterstützung der Black Panthers in England auslöst, verlässt er das Land für immer und zieht in das französische Savoyen, wo er sich jahrzehntelang dem Genuss des – bäuerlichen – Lebens und dem Schreiben widmet. Seine Romane und Essays sind in zahlreiche Sprachen übersetzt.

  1. Erstes Buch der Triologie «Von ihrer Hände Arbeit», 1979.
  2. «A Painter of Our Time», Secker and Warburg, London, 1958.
  3. «Der siebte Mensch», eine Geschichte über Migration und Arbeit in Europa, Text: John Berger, Photos: Jean Mohr, Neuausgabe als Taschenbuch im November 2016 mit einem Vorwort von John Berger, Fischer Verlag.