GESTERN - HEUTE - MORGEN: Musterschüler und Zauberlehrling. Wie viel Westen steckt im modernen Islam? 3.

von Thomas Bauer*, 25.10.2011, Veröffentlicht in Archipel 197

In der Debatte über den Islam ist oft die Rede von einer Identität, die mit den westlichen Werten unvereinbar sei. Thomas Bauer, Professor für Islamwissenschaft und Arabistik an der Universität von Münster, zeigt im Folgenden auf, dass der moderne Islam, radikal oder gemäßigt, nicht als Fortsetzung des traditionellen Islam angesehen werden kann und dass er mehr von der Kolonisierung als von seinen historischen Quellen geprägt ist. Dritter Teil.

Schließlich noch das islamische Recht: Die Existenz von vier sunnitischen Rechtsschulen wurde als Bereicherung empfunden, und dass es innerhalb jeder Rechtsschule eine Vielzahl verschiedener Meinungen nebeneinander gab, wurde nicht als Problem, sondern als Chance zur Profilierung angesehen. Noch der an und für sich äußerst rechthaberische Universalgelehrte as-Suyuti (gest. 1505) verfasste ein Traktat darüber, dass die Meinungsverschiedenheit unter den Gelehrten eine Gnade Gottes für seine Gemeinde sei. Heute ist von einer solchen Begeisterung für die traditionelle Meinungspluralität wenig zu spüren. Schon im späten 19. Jh. gab es Versuche, das islamische Recht – ganz wider seiner Natur – zu kodifizieren. Moderne Staaten verlangen nach klaren Regeln, und weder «liberale» Muslime noch ihre fundamentalistischen Konkurrenten werden zugeben, dass es unmöglich sein kann, dass zwei scheinbar widersprüchliche Aussagen gleichzeitig wahr und richtig sein können.

Doch alles deutet darauf hin, dass genau diese Haltung über einen langen Zeitraum charakteristisch war für einen großen Teil der vormodernen islamischen Welt. Man erwartete keineswegs, dass innerhalb eines einzigen Diskurses – etwa im islamischen Recht – eine einzige und eindeutige Antwort gegeben wurde. Auch wurden einzelne Lebensbereiche keines-wegs ausschließlich von einem einzigen Diskurs beherrscht.

Verschiedene Diskurse

Stets gaben verschiedene Diskurse – sowohl religiöse als auch nichtreligiöse – verschiedene Antworten. Dass sich diese Antworten häufig nicht miteinander in Einklang bringen ließen, hat offensichtlich kaum jemanden gestört. So hat etwa Ibn Nubata im Jahre 1332 – also genau zweihundert Jahre vor dem Erscheinen des Principe von Machiavelli – einen Herrscherratgeber verfasst, der mindestens genauso machiavellistisch ist wie derjenige Machiavellis. Religion spielt in ihm keine Rolle. Der Koran und der Prophet kommen nicht vor. Der moderne Islamdiskurs hat diesen Text nicht beachtet – übrigens auch nicht die Zigtausende von Gedichten auf Herrscher, die den wichtigsten Politikdiskurs des vormodernen Islams überhaupt repräsentieren und so gut wie nie zur Rekonstruktion politischen Denkens in der islamischen Vormoderne herangezogen werden. Stattdessen wird überall der religiöse Diskurs privilegiert – oder gar zum einzig relevanten erklärt. Der historischen Realität wird diese einseitige Sicht nicht gerecht. Sie hat nun ihrerseits aber auf das moderne islamische Denken abgefärbt, und so kommt es zu einem der kuriosesten Fälle von Asynchronizität, dass heißt der merkwürdigen Übereinstimmung des Islambildes von einigen Orientalisten und der westlichen Öffentlichkeit einerseits sowie dem radikalen Islam der Gegenwart andererseits. Beide Gruppen abstrahieren von der historischen Wirklichkeit und imaginieren eine Kultur, die gänzlich von religiös-normativen Texten geformt wird. Sie glauben, dass es eine einzige, eindeutige, ambiguitätsfreie Auslegung dieser Texte gibt.
Ein besonders trauriges Beispiel für diese Entwicklung sind die spektakulären Fälle von Ehebrechern und Ehebrecherinnen in islamischen Ländern, denen man die Steinigung androhte oder tatsächlich gesteinigt worden sind. Der Fall der Iranerin Sakine Ashtiani und die westliche Berichterstattung darüber bieten ein drastisches Beispiel. In der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» wurde der Fall ausführlich dargestellt und von unserem Kollegen Tilman Nagel kommentiert.
Nagel begnügt sich nun ganz und gar damit, die tatsächlich existierenden Vorschriften, wonach Ehebrecher gesteinigt werden sollen, darzustellen. Daraus entsteht der Eindruck, dass er und die islamischen Hardliner sich im Prinzip einig sind: Im Islam müssen Ehebrecher gesteinigt werden. Was er und die iranischen Richter nicht sagen: Im Islam wurden Ehebrecher und Ehebrecherinnen nicht gesteinigt – jedenfalls nicht vor dem 20. Jahrhundert. Ich will es erläutern: In islamischen normativen Rechtstexten finden sich nicht nur Vorschriften, Ehebrecher zu steinigen, sondern auch so viele Verfahrenshindernisse, die vor eine Steinigung gesetzt sind, dass es in den meisten Rechtsschulen so gut wie unmöglich wird, ein Steinigungsurteil tatsächlich zu verhängen. Hinzu kommt, dass in der islamischen Geschichte Shari’a-Regeln als Richtschnur verstanden wurden, die in der Rechtspraxis aber flexibel gehandhabt und mit anderen Rechtstraditionen abgeglichen wurden – auch hier gab es eine Diskurspluralität. Und so kommt es, dass es aus den Kernländern des Islams (und nur für diese bin ich ausreichend kompetent) keine Berichte von Steinigungen nach den mehr oder weniger legendären Fällen der Frühzeit des Islams gibt. Es gab Rebellen und Räuber, die gekreuzigt wurden – die Dichter stürzten sich darauf und dichteten spektakuläre Gedichte - Sensationslust ist ja kein modernes Phänomen. Es gab Machthaber, die folterten und hinrichten ließen – die Chronisten berichten es in aller Ausführlichkeit – aber nirgendwo wird von einer Steinigung berichtet.
Mit einer einzigen Ausnahme. Meines Wissens gab es in der Zeit zwischen 800 und dem 20. Jahrhundert nur einen einzigen sicher bezeugten Fall einer Steinigung wegen Ehebruchs aus dem Kernbereich des Islams. Er trug sich um das Jahr 1670 im osmanischen Reich zu, war – wie die modernen Fälle ja auch – politisch motiviert – und sorgte für einen handfesten Skandal. Der verantwortliche Richter wurde abgesetzt. Der Chronist, der von dem Fall berichtete, zeigte sich ebenfalls empört.
Von dieser skandalträchtigen Ausnahme abgesehen, gab es also offensichtlich keine Steinigungen. Stattdessen wurden andere rechtliche Regelungen gefunden. Elyse Semerdjian hat 360 Jahrgänge Gerichtsakten aus Aleppo durchforstet, und festgestellt, dass es zwischen 1507 und 1866 zu 121 Anklagen wegen illegitimer sexueller Akte gekommen ist. Natürlich ist nie jemand gesteinigt worden. Das einzige, was regelmäßig über den ganzen Zeitraum hinweg geschehen ist: Frauen, die der Prostitution angeklagt wurden, wurden dazu verurteilt, aus dem Stadtviertel wegzuziehen.
Er hält Steinigungen keineswegs für islamisch. So etwas sei seit der Frühzeit des Islams nie mehr vorgekommen, stellt er entrüstet fest. Auch für ihn waren Steinigungen etwas Atavistisches und Unmenschliches.

Juristische Mehrdeutigkeit

Man kann also feststellen, dass es im klassischen Islam Fälle gibt, in denen eine gesetzliche Vorschrift gleichzeitig gilt und nicht gilt. Wenige haben die Strafe der Steinigung grundsätzlich in Zweifel gezogen, aber alle haben ihre Durchführung ebenso grundsätzlich abgelehnt.
Diese Duldung juristischer Mehrdeutigkeit ist heute unverständlich geworden. Und so kommt es, dass jetzt, anders als in den tausend Jahren zuvor, in islamischen Ländern Ehebrecher und Ehebrecherinnen tatsächlich gesteinigt werden, obwohl man, um ein Todesurteil zu fällen, gegen andere Normen und Vorschriften des islamischen Rechts verstoßen muss. Doch scheinen diese Vorschriften wohl zweitrangig, wenn es darum geht, der Welt ein eindeutiges – und ein eindeutig islamisches – Recht zu präsentieren. Es scheint, als ließe sich selbst ein so vermeintlich typisch islamisches Phänomen wie die Steinigungsstrafe nicht direkt und ohne Umschweife aus traditionellen islamischen Normen herleiten. Vielmehr muss es gleichzeitig zu einem Verlust von traditioneller Ambiguitätstoleranz kommen, der dazu führt, dass traditionelle Normen neu eingeordnet und bewertet werden. Natürlich soll damit nicht gesagt werden, dass Steinigungen im Islam ein Import aus dem Westen sind. Sie sind aber – so schrecklich sich das anhört – ein Modernisierungsphänomen.
Die Folgen, die der Verlust von traditioneller Ambiguitätstoleranz für den Islam hatte, sind nicht zu überschätzen. Während ein Großteil des islamischen Erbes in einer Gesellschaft höchster Ambiguitätstoleranz verfasst wurde, in der es einem strengen Hadithgelehrten wie Ibn Adjar al-Asqalani zur Ehre gereichte, dass er auch homoerotische Liebesgedichte verfassen konnte, wird genau dieses Erbe heute in einer Gesellschaft mit weitgehend fehlender Ambiguitätstoleranz neu geordnet.
Auslegungen und Normen, die einst gleichberechtigt nebeneinander standen, gelten heute als absolut und – auf Kosten anderer – als einzig richtig. Die Strukturen, in die diese traditionellen Elemente eingepasst werden, sind aber keine genuin islamischen, sondern Strukturen westlicher Weltanschauungen und Ideologien.

Umstrukturierung

Der Verlust der traditionellen Ambiguitätstoleranz im Islam lässt sich aus der islamischen Geschichte allein nicht erklären. In Europa, so hat Stephen Toulmin gezeigt, waren es die Konfessionskriege zwischen der Ermordung Heinrichs IV. von Frankreich und dem 30-jährigen Krieg, die dem toleranten Klima der Renaissance und des Humanismus ein Ende setzten. In die islamische Welt drang diese Entwicklung erst während des 19. Jahrhunderts vor, und zwar als Reaktion auf Anpassung an einen Westen, der sich als wirtschaftlich und technisch überlegen erwies, jedoch eine dem klassischen Islam vergleichbare Ambiguitätstoleranz nicht bzw. nicht mehr kannte. Dies führte dazu, dass sich auch der Islam nach diesen neuen Parametern vollständig umstrukturierte. Doch was damals eine bedeutende Anpassung an ein verändertes kulturelles und politisches Umfeld darstellte und der islamischen Welt ermöglichte, der westlichen Expansion eine eigene kulturelle Identität entgegenzusetzen, endete in einer «Identitätsfalle» (so der Titel eines Buches von Amartya Sen). Allerdings ist man nicht nur in der islamischen Welt in diese Falle getappt, sondern auch im Westen, wo man mehr denn je bereit ist, einen nach westlichen Mustern neustrukturierten Islam des späten 19. und 20. Jahrhunderts für den eigentlichen und wahren Islam zu halten und auf die gesamte islamische Geschichte zurück zu projizieren.
Der moderne Islam, so muss man feststellen, ist nicht eine kontinuierliche Fortsetzung des traditionellen Islams, sondern ein Cluster höchst diverser moderner Weltanschauungen und Ideologien. Vielen Ausprägungen des modernen Islams ist gemeinsam, dass sie der modernen, ursprünglich westlichen Forderung nach Eindeutigkeit gehorchen. Traditionelle Elemente werden je nach Ausrichtung selektiv in diese Systeme eingefügt. Das Neue, das entsteht, ist mindestens ebenso sehr westlich, wie es islamisch ist. Gerade dort, wo wir vermeintlich rein Islamischem begegnen, erblicken wir oft nur unser eigenes Spiegelbild, und sei es auch in zeitlicher Verschiebung. Und so kommt es, dass wir hier, egal ob wir traditionelle oder moderne Phänomene fremder Kulturen erforschen, immer auch uns selbst erforschen.

*Thomas Bauer, geboren 1961 in Nürnberg, Promotion (1989) und Habilitation (1997) an der Universität Erlangen. Seit 2000 Professor für Islamwissenschaft und Arabistik an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. 2002-2006 Direktor des «Centrums für Religiöse Studien» der Universität Münster. 2006-2007 Fellow am Wissenschaftskolleg Berlin. Forschungsschwerpunkte: Kultur- und Mentalitätsgeschichte der arabisch-islamischen Welt, klassische arabische Literatur. Im kommenden Frühjahr erscheint sein Buch «Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams» im Verlag der Weltreligionen.