GESTERN - HEUTE - MORGEN: Utopische Ideen sind heute politisch notwendig

von Caroline Meijers, 18.01.2015, Veröffentlicht in Archipel 233

Warum genügt es nicht, den Kapitalismus zu kritisieren, so wie es die «Neo»-Marxisten und so manche Anarchisten tun?1 Dieser Artikel ist der dritte und letzte einer Serie, in der es um Marx und Maurus sowie um Kritik und Gefahren der Utopie geht.

Zunächst ist das für mich eine Frage der Taktik. Ich glaube nicht, dass es in unserer Gesellschaft möglich ist, so viele Leute zu mobilisieren, wie es nötig wäre, um den Kapitalismus zu überwinden, wenn man sich allein auf das Kritisieren konzentriert. Um mit Begeisterung gegen etwas anzukämpfen, muss man davon überzeugt sein, dass etwas anderes wünschbar und möglich ist. Sonst lohnt es sich nicht zu kämpfen. «Die Schwäche unserer heutigen Gesellschaft liegt eben darin, dass sie keine Ideale mehr zu bieten hat, dass sie keinen Glauben verlangt, dass sie keine Vision mehr kennt – ausser die des Mehr-Haben-Wollens. Wir Sozialisten schämen uns nicht, uns zu einem tiefen Glauben an den Menschen und zur Vision einer neuen, humanen Gesellschaft zu bekennen.»2
Wie ist es zum Beispiel möglich, dass arme Leute für rechte politische Parteien stimmen, was ganz und gar ihren Interessen widerspricht? Dieses Phänomen ist der wichtigste Grund für den Erfolg der rechten Parteien und für die Pleite der so genannt «sozialistischen» Parteien: Mona Chollet, Schweizer Journalistin und Essayistin, beschreibt in ihrem Buch Rêves de droite («Rechte Träume»), sehr trefflich den Kern des Problems: «Im marxistischen Modell ist der Arbeiter dazu aufgerufen, die Unterwürfigkeit und das mangelnde Selbstvertrauen abzulegen, die verhindern, dass er sein Los mit dem der Vermögenden vergleicht, um so ohne Komplexe zu fordern, dass die Reichtümer aufgeteilt werden. Gleichzeitig identifiziert er sich mit seinesgleichen, ob Beschäftigte oder Arbeitslose, Einheimische oder Ausländer, und empfindet ihnen gegenüber Empathie und Solidarität. Das Geniale am Liberalismus war, dass er dieses Schema umkehrte. Von da an identifizierte sich der Arbeiter mit den Reichen und verglich sich mit denen, die sein Geschick teilen. Der Ausländer erhält Sozialhilfe, nicht er. Der Arbeitslose schläft aus, während er am frühen Morgen aufsteht, um sich abzurackern.
Der durchschnittliche Amerikaner betrachtet die Reichen nicht als seine Klassenfeinde. Er bewundert ihren Erfolg, der überall als Lohn der Tugend und des Glücks herumgereicht wird. Und er ist entschlossen, so wie sie zu werden.»3.
Wie kommen wir weg von diesem Streben nach einer individuellen «Utopie», die für die meisten völlig illusorisch ist, heute mehr denn je? Wie finden wir zurück zu einem kollektiven Streben nach einer Utopie, ohne die damit verbundenen Gefahren in den Wind zu schlagen? Ohne die Gefahren zu vergessen, die im Begriff «kollektiv» stecken. Ich zitiere Mona Chollet:«Im Gegenteil, die Linke ist der Ansicht, dass das Individuum, obschon es gerade aus der Militanz oft am meisten persönliche Genugtuung erfährt, bereit sein muss, sich ganz in den Dienst eines höheren Ideals zu stellen, auch wenn nur geringe Chancen bestehen, dessen Verwirklichung auch zu erleben. Das Individuum müsse sich deshalb damit begnügen, ein guter Soldat zu sein. Die Linke verwechselt manchmal die Gabe des politischen Engagements, unangenehme Konsequenzen in Kauf zu nehmen, mit der morbiden Faszination für die Hinopferung, die dem Ruf nach Repression Vorschub leisten kann. Die Zeit, die man mit seinen Nächsten verbringt, das einsame Streben nach Weiterentwicklung oder die Suche nach Erholung, nach Vergnügen ist, wenn es nicht schlicht Selbsterhaltungstrieb ist, in ihren Augen Verrat an der gemeinsamen Sache.»3
Wirtschaftliche und politische Krise
Die Wirtschaftskrise wird in ganz Europa schlimmer. Die Arbeitslosigkeit steigt weiter. Die Angst vor Armut und Elend, für eine steigende Zahl der Bevölkerung in Ländern wie Griechenland und Spanien zur Wirklichkeit geworden, macht auch vor anderen europäischen Ländern nicht Halt.4 Diese Situation wird sich noch verschlimmern. Eine Besserung ist nicht in Sicht. Die Lage erinnert an die wirtschaftliche und politische Krise im Europa der 30er Jahre. Wir wissen, wohin das geführt hat: zu Hitlers Machtergreifung in Deutschland, zum Nazitum, zum Genozid an den Juden und zum Zweiten Weltkrieg. In Griechenland kommt die offen nazistische Partei «Goldene Morgenröte» bereits zu Macht und Einfluss. Erneut muss überall in Europa der Fremde die Rolle des Sündenbocks übernehmen und gerät mehr und mehr unter Druck.
Doch was hat das mit unserem Thema zu tun? Ganz einfach: In Krisensituationen wird es unerlässlich, seine Haut und die seiner Kinder zu retten – auch moralisch, aber zunächst wirtschaftlich. Wie konnte Hitler die Massen verführen? Indem er den Arbeitslosen Stellen versprach, vor allem aber auch anbot.
Welche politische Partei schlägt heute eine Alternative zur Austeritätspolitik vor – und zwar eine echte Alternative? Nicht eine Alternative à la François Hollande oder seiner «sozialistischen» Kameraden in anderen europäischen Ländern. Denn was er vorschlägt – Stellen schaffen und «die Wirtschaft wieder ankurbeln» –, ist für ein Land wie Frankreich kaum umsetzbar, ein Land, das nicht wie die Schweiz oder Deutschland hauptsächlich vom Export lebt. Nochmals Mona Chollet: «Das ganze mentale Universum der Linken, ihre Ideen, Träume, die Sprache, ihr Erscheinungsbild, ist heute blutleer. Das hat interne und externe Gründe. Die Linke ist nicht nur Opfer des erpresserischen Totalitarismusvorwurfs, der den Sieg des Liberalismus über das Sowjetsystem und das sozialdemokratische Modell legitimiert. Sie zahlt auch dafür, dass sie die notwendige Selbstkritik zu lange aufgeschoben hat. Das hat zur Folge, dass ausgerechnet in dem Augenblick, in dem jene es zu einer gewissen Raffinesse und Virtuosität gebracht haben, welche die Regungen der mittleren und unteren Klassen so manipulieren, dass sie gegen die eigenen Interessen zu denken, zu träumen und abzustimmen beginnen – dass ausgerechnet in dem Augenblick jene, welche die Interessen dieser Klassen verteidigen, sich kein Gehör verschaffen können.»3
Heute ist der Kapitalismus globalisiert. Der Konkurrenzkampf zwischen den gegenwärtigen Weltmächten (Vereinigte Staaten und Europa) und denen von gestern und womöglich auch von morgen (China und Indien) wird erbittert geführt und sich noch zuspitzen. Nach einer Zeit des Kapitalismus mit menschlichem Antlitz – dies allerdings nur für Europa – kehren wir zu einem ungezügelten Kapitalismus zurück.
Und es sind keine Alternativen in Sicht: Die «sozialistischen» Parteien haben ausser ihren Namen alles Sozialistische über Bord geworfen. Ich glaube, die Frucht der sozialistischen Ideen ist schon lange vom Wurm befallen. Ich würde sogar sagen, seit die französischen und deutschen Sozialisten 1914 den Krediten für den Ersten Weltkrieg zugestimmt haben und damit über die Leichen derjenigen gegangen sind, die dagegen waren (Jean Jaurès wurde am 13. Juli 1914 ermordet), und auch derjenigen, die für Solidarität zwischen den Arbeitern der verschiedenen Länder eingestanden sind, wie Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, die am 14. Januar 1919 ermordet wurden. Eine Alternative ist aber nach meinem Dafürhalten dringend notwendig, denn sonst wird der Hass, orchestriert von Parteien, die aus der Wirtschaftkrise und der zunehmenden Orientierungslosigkeit Kapital schlagen, in der Bevölkerung grösser und grösser.5
Die Bewegungen zur Verteidigung der Rechte von Ausländern und Migranten werden daran nichts ändern können. Sie selber sind womöglich bald das Ziel von Anfeindungen durch Bevölkerungsgruppen, die durch Hass und Hoffnungslosigkeit blind geworden sind. Wenn das nicht heute schon der Fall ist.
Wenn wir wirklich auf die zunehmend destabilisierten und panisch werdenden Gesellschaften Einfluss nehmen wollen, genügt es nicht, eine «Kritik des Kapitalismus» zu lancieren. Denn die Menschen müssen wissen, wovon sie und ihre Kinder morgen leben werden. Sie müssten Visionen einer anderen Welt vor Augen haben, um die Kraft zu finden, sich der aktuellen Lage entgegenzustellen und sich zu wünschen, zusammen mit anderen für diese Gesellschaft zu kämpfen, in der es für alle Platz hat. Sie bräuchten dann nicht Roma, Migranten und andere «fremdartige» Personen oder «Profiteure» (Studenten, Arbeitslose, Invalidenrentner) anzugreifen oder für eine rechtsextreme, vielleicht gar nazistische Partei zu stimmen wie zum Beispiel bei der Europawahl vom 25. Mai 2014.
Es folgen einige weitere Beispiele aus der Geschichte, die meine Äusserungen stützen: Die grossen historischen Umwälzungen wurden immer von mehreren Faktoren beeinflusst. Folgen wir den Thesen von Marx, nach denen die Welt durch den Materialismus und nicht durch den Idealismus determiniert ist, ist einer der Auslöser von Revolten oder Revolutionen – im Unterschied zu Revolten führen Revolutionen zu tief greifenden politischen Veränderungen –ganz klar zunehmende Armut, gefolgt von wirtschaftlichem Elend.
Oft wird dieses Elend durch Kriege hervorgerufen. So etwa im Jahr 1870 vor dem Aufstand der Mitglieder der Pariser Kommune, aber ebenso 1916 bei Beginn der Russischen Revolution. Im Allgemeinen reicht allerdings wirtschaftliches Elend allein nicht aus, um Revolten oder Revolutionen auszulösen. Sonst wären viele afrikanische Länder, die zu den ärmsten der Welt gehören, zwangsläufig und anhaltend von Revolutionen erschüttert. Und das ist nicht der Fall. Es hatte also auch Hegel, der philosophische Gegenspieler von Marx, Recht, als er die These vertrat, die Welt sei durch die Idee bestimmt. Statt die beiden Weltbilder gegeneinander auszuspielen, sollten wir meiner Auffassung nach beiden Denkern Recht geben. Denn revolutionäre Momente werden im Allgemeinen auch durch zeitaktuelle Ideen angetrieben. So stützen sich antikolonialistische Bewegungen seit dem Ersten Weltkrieg einerseits auf die Erklärung des Selbstbestimmungsrechts der Völker durch Winston Churchill und anderseits auf die antiimperialistischen Ideen Lenins. Die Vordenker der Französischen Revolution von 1798 liessen sich von Jean-Jacques Rousseaus Ideen inspirieren, aber auch – und das ist weniger bekannt – von den politischen Impulsen der amerikanischen Revolution. Um meine These zu stützen, wie wichtig Zukunftsvisionen sind, können wir auch die Kraft der Ideen von Martin Luther King anführen und seinen Einfluss auf die Bürgerrechtsbewegungen der Schwarzen in den Vereinigten Staaten. Er seinerseits war übrigens stark beeinflusst von Mohandas Karamchand Gandhis Ideen des zivilen Ungehorsams. Indien war eines der ersten Länder, die ihre Unabhängigkeit erlangt hatten, und Mahatma Gandhi – so liess er sich nennen – hat dabei eine entscheidende Rolle gespielt. Am Schluss dieser Reihe von Beispielen sei noch ein geschichtlich jüngeres angeführt: Damit sich der ANC weiterentwickeln und einen Grossteil der südafrikanischen Bevölkerung im Kampf gegen die Apartheid hinter sich scharen konnte, war es entscheidend, dass eine gemeinsame Charta mit Forderungen und Zukunftsvisionen erarbeitet wurde.6
Natürlich gibt es in ganz Europa Linksaussenparteien. Angesichts der Wirtschaftskrise nimmt ihre Unterstützung sogar zu. Aber was sind – neben dem Austritt aus der Eurozone und dem Ende der Austeritätspolitik – ihre Ideen? An einer Diskussionsveranstaltung im Oktober 2013 an der Universität Fribourg mit Mitgliedern der linken griechischen Partei Syriza bekam ich auf diese Fragen die Antwort, dass genau hier der Schuh drücke und es an Ideen fehle, wie das kapitalistische System grundsätzlich in Frage gestellt werden kann. Genau die gleiche Antwort erhielt ich an allen Zusammenkünften der antikapitalistischen äussersten Linken, die ich in den letzten Jahren besucht habe.
Deshalb, denke ich, ist es dringlicher denn je, Vorschläge für ein anderes Wirtschaftssystem, eine Alternative zum Kapitalismus zu erarbeiten, und zwar in aller Gründlichkeit. Denn es ist unmöglich, das System mit einem grünen oder rosa Anstrich zu verbessern.
Am Schluss möchte ich Jacques Sapir zitieren: «Die besten Propagandisten für Marine le Pen sind heute François Hollande und alle anderen Abgeordneten, die uns glaubhaft machen wollen, dass wir aus der Krise herauskommen werden. Wir werden von Politikerinnen und Politikern ohne jegliche Visionen regiert, die den tragischen Sinn der Geschichte aus den Augen verloren haben. Sie werden ihren Preis dafür zahlen – und wir mit ihnen.»6

  1. In diesem Artikel wurde die Genderform nicht angewendet – wir haben es dabei belassen, Anm. d. Redaktion
  2. Erich Fromm, Über den Ungehorsam und andere Essays, München 1988
  3. Mona Chollet, Rêves de droite, défaire l’imaginaire sarkozyste, Paris 2008
  4. «Erinnern wir uns: Es gibt [in Europa] 26 Millionen Arbeitslose, und der Anteil der unter 25-Jährigen ohne Arbeit erklimmt erschreckende Höhen (52% in Portugal, 56% in Spanien, 61% in Griechenland ...). Viele Bürger weisen das Projekt EU erbittert zurück. Der Euroskeptizismus explodiert ebenso wie die Europhobie. Oft genug führt das dazu, dass man in gewissen Punkten mit den Programmen der äussersten Rechten einverstanden ist.» Ignacio Ramonet, «Objectif déclaré: arriver au pouvoir» in Le Courrier, 20.05.2014
  5. «In Frankreich attackiert zum Beispiel Marine le Pen in ihren Reden den ‹entfesselten Kapitalismus› weitaus radikaler als alle führenden linken Politiker, ebenso das ‹ultraliberale Europa›, die ‹Schäden der Globalisierung› und den ‹wirtschaftlichen Imperialismus der Vereinigten Staaten›», in Nouveaux visages des extrêmes droites, manières de voir Nr. 134, Paris, April–Mai 2014, zitiert durch Ignacio Ramonet.
  6. «Der National Action Council lud alle teilnehmenden Organisationen und ihre Anhänger ein, Vorschläge für eine Freiheits-Charta einzusenden. Rundschreiben wurden an die Townships und Dörfer im ganzen Land verschickt. ‹Wenn ihr die Gesetze machen könntet ... Was würdet ihr tun?› hiess es dort. ‹Wie würdet ihr es anstellen, Südafrika zu einem glücklichen Land zu machen für alle Menschen, die dort leben?› [...] Der Aufruf sprach die Phantasie der Menschen an. Vorschläge trafen ein von Sport- und Kulturclubs, Kirchengruppen, Mietervereinigungen, Frauenorganisationen, Schulen, Gewerkschaften. Sie standen auf Servietten, auf Fetzen von Schreibpapier, auf den Rückseiten unserer eigenen Flugblätter. Es war beschämend zu sehen, dass die Vorschläge einfacher Menschen häufig denen der Führer weit überlegen waren. Die am häufigsten erhobene Forderung war die nach One-Man-One-Vote, nach dem gleichen Stimmrecht für alle. Anerkannt wurde die Tatsache, dass das Land all denen gehört, die es zu ihrer Heimat gemacht haben.» Nelson Mandela, Der lange Weg zur Freiheit, Frankfurt am Main 1994, S. 237f.
  7. J. Sapir, langjähriger Direktor der Hochschule für Sozialwissenschaften, Paris: «Nous allons vers une crise politique majeure», in Le Courrier, vom 3.11.2012