GESTERN - HEUTE - MORGEN Viele Grüße aus Mexiko...

von Georges Lapierre, 08.06.2004, Veröffentlicht in Archipel 115

Die folgende Chronik schickte uns George Lapierre 1 von seinem derzeitigen Wohnort, dem Bundesstaat Oaxaca. In mehreren Kapiteln, die wir in den folgenden Nummern veröffentlichen werden, schildert er das Leben in Mexiko und wirft anhand philosophischer und politischer Betrachtungen Fragen zum heutigen Europa auf.

Völlig naiv setzen wir unseren Fuß auf mexikanischen Boden und befinden uns sofort im Brennpunkt der Inkohärenz, im ruhigen Zentrum des Sturms. Es gibt zwar keinen riesigen Unterschied zwischen der Alten und Neuen Welt, aber hier ist alles ausgeprägter. Wir leben auf einer Höhe von 2.000 Metern, die Gipfel der Vulkane, die uns umgeben, erreichen über 5.000 Meter.

Wir sind mit einer sehr ähnlichen Lebensweise konfrontiert, jedoch mit einem kleinen Etwas, das die Inkohärenz und den Wahnsinn ahnen lässt. Wir werden in einen Strudel gerissen; eine Art Implosion des sozialen Lebens, ein rasender Zusammenfall der Gesellschaft in sich selbst. Und dieser Zusammenbruch im Inneren der Gesellschaft breitet sich aus, gewinnt an Boden und nimmt apokalyptische Züge an, die ich in dieser Form in Europa noch nie beobachten konnte.

Die Propheten der Jahrtausendwende haben voll Schrecken die Vorherrschaft von Krieg jedes gegen jeden angekündigt, den entsetzlichen Verfall der Beziehungen, einen abgrundtiefen Niedergang, als müsse das ganze soziale Leben in sich selbst einstürzen. Hier, wo Freigiebigkeit Seite an Seite mit dem schmutzigsten Verbrechen existiert und die Einfachheit der Beziehungen mit dem heftigen Ausbruch der Leidenschaft, werden die Voraussagen der Jahrtausendpropheten für uns zur bitteren Realität. So als bräuchten wir diesen Kontrast, diese kleine intime Entfremdung, um die ganze Grässlichkeit unserer Situation begreifen zu können. «Es ist ein Krieg gegen die Menschlichkeit», sagt Marcos, ein Genozid, der sich nicht gegen ein spezielles Volk, sondern gegen alle Völker richtet, gegen jegliche Form des autonomen sozialen Lebens. Dieser Prozess des Zerfalls geht mit einer gewissen Langsamkeit vor sich. Er stößt auf Widerstand, nagt hier und dort kaum sichtbar und plötzlich fällt eine Mauer um, die man für solide hielt.

Wir konnten im Geld, wie Hegel, eine «List der Vernunft» sehen, welche die Menschen trotz allem dazu bringt; über den Umweg völlig egoistischer Motivationen miteinander zu kommunizieren, ohne es zu merken. Das genügt nicht, wir müssen das Paradoxon bis zum Äußersten führen: Geld ist sowohl ein Kommunikationsmittel als auch sein Gegenteil. Es ist gleichzeitig Ausdruck der Humanität als objektivierter Gedanke der Vermittlung, und das ganze Gegenteil, indem es den Menschen dazu bringt, nur noch eine unmittelbare Beziehung mit dem Geld anzustreben und sich damit zufriedenzugeben. Was ursprünglich als eine Vorstellung von Vermittlung gedacht war, entwickelt sich in der Praxis zu einem unmittelbaren Bedürfnis, das heißt, ein Bedürfnis, das ich mit meinen eigenen Mitteln zu befriedigen versuche, ohne auf die Vermittlung eines anderen angewiesen zu sein. Darüber hinaus ermöglicht es mir, all meine Bedürfnisse zu befriedigen, zumindest im Prinzip, ohne andere einschalten zu müssen. Das Geld bedeutet den Todesstoß für jegliche Ethik, wenn wir meinen, dass Ethik auf dem Respekt der Grundsätze von Wechselbeziehungen beruht.

Vom Gedanken der Wechselseitigkeit und den «natürlichen Rechten» des Menschen

Das soziale Leben der Völker beruht auf der Befriedigung von Bedürfnissen, vermittelt durch andere; auf der Gegenseitigkeit also, deren Grundsätze sich überaus komplex gestalten können. Es sind diese Grundsatzregeln, welche die Sitten und Bräuche eines Volkes ausmachen, und es ist der Respekt vor diesen Sitten, der uns auf die Stufe menschlicher Wesen erhebt. Der Begriff der Wechselseitigkeit ist für ein bewusstes soziales Leben von essentieller Bedeutung.

Das Prinzip der Wechselseitigkeit beschränkt sich im allgemeinen nicht auf den Mikrokosmos, den eine Gesellschaft formt, sondern erstreckt sich auf den gesamten Makrokosmos, den Lebensraum einer Gesellschaft. Die Huicholes beispielsweise fühlen sich für die Nahrung, die sie zu sich nehmen, den Göttern verpflichtet:

«Während seines ganzen Lebens ist der Mensch den Göttern etwas schuldig. Letztere haben die Aufgabe, ihre Geschöpfe zu versorgen – und ihre Hände symbolisieren die Macht zu erschaffen und zu ernähren – doch alles, was der Mensch konsumiert, ist dem Prinzip der Gegenseitigkeit unterworfen. Sich zu ernähren, schließt letztendlich für den Menschen ein Engagement mit ein. Die Götter borgen ihm nur die Speisen. Die Göttin Nacawé sagt den Menschen ausdrücklich, dass der Mais sowie die Süßkartoffeln ihr gehören und sie diese ihnen als Nahrungsmittel nur borge.» 2**

Von diesem Standpunkt aus gesehen, erwirbt jede Gabe der Götter, den Sinn eines Gegendienstes, einer Gegengabe. «Die Menschen sterben immer als Schuldner gegenüber den Göttern.

Das Geld untergräbt nach und nach diesen Grundgedanken der Wechselseitigkeit, löst ihn auf, und schlussendlich verschwindet er ganz aus dem Bewusstsein der Menschen. Der Mensch kennt nur noch zwei Bestrebungen: die nach Macht und nach dem Überleben. Alle beide treiben ihn in die Isolation; allein gegen alle. Wie in einer Endlosschleife wird der Gedanke, indem er sich materialisiert, zum sofortigen Objekt meiner Bedürfnisse, was mich in einen annähernden Naturzustand zurückfallen lässt, wenn wir Naturzustand als direkte Beziehung zwischen Bedürfnis und Befriedigung definieren. Die Bourgeoisie war, als sie sich von den Regeln des kollektiven Lebens befreite, nicht sehr überzeugt davon, es richtig auszudrücken, wenn sie von den «Naturrechten» des Menschen sprach. Aber ohne Zweifel ahnte sie, dass dessen Forderungen, die eines von sozialen Zwängen befreiten Individualismus sein würden. Und dieser abstrakte «Mensch» wurde von der Bourgeoisie zum universalen Menschen erhoben.

Mit einer egoistischen Akribie, fernab jeglicher Gegenseitigkeit und eines Engagements gegenüber anderen sowie der Gesellschaft fallen wir tatsächlich in einen Naturzustand zurück. Selbstverständlich handelt es sich nicht um einen «natürlichen Naturzustand», denn einem Tier würde es niemals in den Sinn kommen, mit Kreditkarte zu zahlen oder in all die Fehler und fixen Ideen, die wir kennen, zu verfallen. Es ist vielmehr ein zweiter Naturzustand; deshalb spreche ich von einer Implosion, einem Zusammenbrechen der Gesellschaft in sich selbst, so wie es für Kalkregionen, die in sich zusammenstürzen, üblich ist. Diese formen dabei tiefe Krater oder wieder ein Universum, das nicht zu einem «vor» Urknall zurückkehrt, jedoch bis zur Unendlichkeit in sich zusammenfällt und auf diese Weise in sich selbst versiegt, bis es schwarze Löcher formt.

Von Mexikanern und Toten der Stadt Juárez

Die Mexikaner fühlen sich ihrem «Indianersein» noch sehr verbunden, obwohl man sie drängt, es zu vergessen. In Europa ist eher eine fortschreitende Absage an die Sitten, deren langsamer Untergang zu beobachten. Die Welt mütterlicherseits wurde preisgegeben, um definitiv auf die andere Seite, die Seite des Vaters, des Eroberers, des Widersachers zu gelangen. In Europa kann man dies an den Kindern von Einwanderern beobachten, die oft gezwungen werden, eine einschneidende Wahl zwischen ihrer ursprünglichen Kultur und einer entkultivierten Welt zu treffen. Darin steckt bereits eine Gewalt an sich, die als innere, unterdrückte Wut wahrnehmbar ist.

Hier bei uns ist alles noch in höchstem Maße verschlimmert, das Gerangel um die Macht ebenso wie der Hang zur Revolution. Wir werden an die äußersten Extreme gestoßen. Es gibt die gleichen Korruptionsgeschichten und Skandale wie in Frankreich, die selbe Straflosigkeit für angesehene Persönlichkeiten und Leute an der Macht. Der Skandal des Crédit Lyonnais steht jenem um die Fobaproa (so nennt man hier das eingeführte System, um die betrügerischen Konkurse der Banken von den Steuernzahlern tragen zu lassen) in nichts nach. Die furchtbaren Serienmorde (während zehn Jahren mehr als 300 Frauen, die in den maquiladoras 3 der Grenzstadt Juárez arbeiteten, aus armen Verhältnissen stammten und somit für die Machtoberen unsichtbar) erinnern an die Tragödien von Belgien und von Toulouse.

Ab und an taucht die dunkle, blutige Seite der Macht auf, dass, was sie in Wahrheit darstellt: eine Perversion der Beziehungen, gekoppelt mit dem Bewusstsein von Straffreiheit. Die Tragödien von Belgien und Toulouse waren außergewöhnlich, eine Ausnahme, ein Beispiel verdorbener Macht. Das ist zumindest, was man uns erzählt. Als ob die Macht an sich nicht bereits eine Verderbtheit der menschlichen Beziehungen bedeutet, wie es der Marquis de Sade eindrücklich gezeigt hat. Mehr als 370 ermordete Frauen in der Stadt Juárez; das ist keine Ausnahme, sondern die Regel. Hier unternimmt die Macht nicht einmal den Versuch, sich schockiert zu zeigen. Im Affekt begangene Verbrechen, Verbrechen im Zuhältermilieu, Initiationsverbrechen, um Mitglied einer Bande im Drogengeschäft zu werden, Verbrechen auf Sexpartys, bei denen laut Informationen eines Hintergrundjournalisten sechs über jeden Verdacht erhabene Geschäftsleute beiderseits der Grenze verstrickt sind, Serienverbrechen, 90 umgebrachte Frauen als Opfer von wenigstens zwei Serienmördern, Verbrechen im Zusammenhang mit Herstellung und Verkauf von Pornofilmen – wir reden hier nicht von Los Angeles in den 1950er Jahren, sondern von der Stadt Juárez im Jahre 2003, der letzte Kreis, das Nichts.

Der Kriminologe Oscar Máynez arbeitete an einem Fall von acht Leichen, die am 6. November 2001 in einem Baumwollfeld gefunden worden waren. Er trat zurück, denn die Staatspolizei wollte ihn zwingen, Beweise gegen zwei Mitglieder der Choferesbande (Chauffeure), Victor Gonzáles Meza und Javier Garcia zu streuen. Schlussendlich brauchten die Polizisten gar keine Beweise, denn Victor Gonzáles und Javier Garcia bezichtigten sich selbst der acht Morde... mit ein wenig Nachhilfe der Polizei. Etwas später, am 5. Februar 2002, kommt Mario Escobeda Anaya, der Anwalt von Gonzáles Meza, zu Tode. Durch «einen Irrtum» wird er von der staatlichen Kriminalpolizei ermordet; genauer gesagt ist er in einen wahren Hinterhalt getappt. Ein Jahr später, genau im Februar 2003, wird Gonzáles Meza tot in seiner Zelle aufgefunden und zwar nach einem höchst ominösen chirurgischen Eingriff. Was wussten der Anwalt und der Angeklagte? Welch dunklen Geheimnissen sind beide auf die Spur gekommen, vielleicht ohne dass sie davon wussten?! In dieser Geschichte liest sich die Triple Jornada wie ein Kriminalroman von James Ellroy.

Alle, die bis zum jetzigen Zeitpunkt angeklagt oder festgenommen wurden, sind nichts weiter als Sündenbökke. Wir können sogar mit Sicherheit davon ausgehen, dass die Arbeit der Polizei einzig darin bestand, fieberhaft nach Sündenböcke zu suchen. Denn in dieser Angelegenheit stecken die reichsten Familien aus Chihuahua, der Stadt Juárez und d’El Paso, Staatsanwälte und Polizisten bis zum Hals mit drin. Alles begann mit Inkrafttreten des nordamerikanischen Freihandelsabkommen (NAFTA). Die Grenzstadt versank in der Hölle: in der Hölle der maquiladoras, in der Hölle des Handels jeglicher Art – mit Drogen, Menschen, Frauen – in der Hölle von Korruption, Macht und Unterdrückung. Wie Alejandra Sánchez es in ihrem Dokumentarfilm Ni una mas (Nicht auch nur eine mehr) sagt: «Frauen sind in einer maquilera-Stadt Wegwerfware».

Und dieser Krieg gegen das weibliche Geschlecht breitet sich aus. Er erreicht heute die weiter südlich gelegene Stadt Chihuahua, Mexico-City und Guatemala-Stadt, noch weiter im Süden.

Von der totalitären Macht der Gedanken und Sandwichs mit Erdnussbutter

In Mexiko wie in Frankreich existiert dasselbe fieberhafte Streben einer Minderheit, sich des Gemeingutes zu bemächtigen, dieselbe Ungeduld, den kollektiven Rechten ein Ende zu setzen (sei es das Recht von Gemeinschaften und Völkern, wie das Recht auf Boden oder die in erbittertem Kampf erworbenen Rechte der Arbeiter).

In Frankreich gab es Widerstand gegen diesen Abbau der Rechte und es gibt ihn noch immer. Aber mit der fortschreitenden Dekadenz der Kulturen ist eine gewisse Müdigkeit zu spüren, denn so neu ist dieser brutale Wille nicht. Seit der französischen Gegenrevolution mit Abschaffung des Gemeindebodens und kirchlicher Domänen hat sich dieses Streben als einziger Motor dessen erwiesen, was man soziales Leben nennt. In Mexiko stößt diese brutale Herrschsucht noch auf Widerstandsnester.

Es ist wichtig, in dieser privaten Wiederaneignung von Gemeingut eine Bewegung zu sehen, die einer kollektiven Organisation ein Ende setzt. Diese private Wiederaneignung ist nicht nur eine äußere Erscheinung; dahinter verbirgt sich eine Veränderung der Denkweise, die Ausübung einer totalitären Macht, die der Denkweise: die totalitäre Macht der Entfremdung der Gedanken. Diese Macht schafft um sich eine Leere in dem Sinne, dass jede Spiritualität aus der Welt des Menschen verschwindet, um sich in den Dingen zu konzentrieren. Das ist seit Marx ein altbekanntes Phänomen. Wenn es die Waren sind, die einen Geist haben, wird die Welt der Menschen, in der man auf den französischen Autobahnen immer öfter Rovers begegnet, die auf Büffeljagd sind, zu einer extremen Banalität.

Eliot Weinberger ist ein amerikanischer Intellektueller und einer der wenigen seiner Sorte, die eine kritische Haltung zur Regierung der Vereinigten Staaten einnehmen. Er sagt, dass die «größte Bedrohung für das Volk der Vereinigten Staaten in seiner Regierung läge». Ich bin völlig mit ihm einverstanden, obwohl er der Zeit ein wenig hinterherhinkt, denn bereits seit Jahrzehnten stellen die Staaten eine Bedrohung für die Völker dar. Eliot Weinberger ist der Autor eines Essais «Der 12. September», eine Sammlung von Texten, die seit diesem Tag im Internet zu finden sind. Er schreibt zum Beispiel:

«Gerade mit den Tomahawk-Missiles und den Bomben, welche die F-14, F-16, die B-52 sowie B-1 abwarfen, schickten die USA auch 37.5000 Pakete mit ‚humanitären Tagesrationen’ (eine individuelle Mahlzeit mit allem Notwendigen bis hin zu feuchten Tüchlein, um sich nach dem Essen die Hände zusäubern), in ein Land, wo vier Millionen Menschen Hungers sterben. Die Pakete enthielten auch Sandwichs mit Erdnussbutter und Konfitüre. Erstere sind wie Ikonen für die Familie Bush. Bush jr. erklärte, dass er Sandwichs mit Erdnussbutter am meisten liebe. Bush sen. entwarf kurz nach der Wahl zum Präsidenten seine Zukunftsvision auf folgende Weise: Wir müssen die Vereinigten Staaten so erhalten, wie es einmal ein Kind beschrieben hat: als Ort, der dem Paradies am nächsten kommt. Viel Sonne, Plätze zum Baden und Sandwichs mit Erdnussbutter».

Georges Lapierre

  1. Mitautor des Buches «L’incendie millénariste, erschienen bei

«Os Cangaceiros»

  1. Zingg, Robert M., Los Huicholes . Una tribu de artistas , trad. Celia Paschero, 2 vol., Mexiko, INI, 1982, zitiert von Alfredo López-Austin in: Les Paradis de brume. Mythes et pensée religieuse des anciens Mexicains, trad. Carmen Val Julián, Paris Maisonneuve et Larose, 1997.

  2. Maquiladora: Konfektionsatelier; Wort, das die Bedeutung eines Betriebes (oder Atelier) angenommen hat, von Zolltaxen befreit ist und auf mexikanischem Boden agiert. Der ausländische Unternehmer (im allgemeinen ein Multinationaler) profitiert von den Vorteilen, welche ihm die mexikanische Regierung anbietet und vor allem von sehr niedrigen Löhnen sowie stark eingeschränkten Rechten der Arbeiter. Stadt maquilera: Stadt, in der dieser Art von Betrieben in hoher Konzentration vorliegen. Aufgrund der schlechten Bezahlung wird vor allem weibliches Personal eingestellt.