GESTERN - HEUTE - MORGEN : Viele Grüße aus Mexiko

von George Lapierre, 02.09.2004, Veröffentlicht in Archipel 117

Die folgende Chronik schickte uns George Lapierre von seinem derzeitigen Wohnort, dem Bundesstaat Oaxaca. In mehreren Kapiteln * schildert er das Leben in Mexiko und wirft anhand philosophischer und politischer Betrachtungen Fragen zum heutigen Europa auf.

Das Fest der Schnecken

Einen Monat vor Cancun, am 8., 9. und 10. August, feierten die Zapatisten in Oventik den Tod von Aguascalientes und die Geburt der Caracoles. Für mich war es eine Gelegenheit, viele Freunde wieder zu sehen, in der drückenden Mittagssonne, im kühlen Nebel bei Tagesanbruch und unter dem prasselnden Regen des Abends. Die Elemente waren mit von der Partie, beim Fest des Todes und der Geburt, beim Fest der Schnecken.

Die Schnecke, caracol, ist ein wichtiges Symbol der Maya, obwohl die Archäologen sehr vorsichtig sind bei seiner Deutung. Sie – die Archäologen - haben Strandschneckenhäuser in einem kürzlich entdeckten Grab in der Mondpyramide der Teotihuacan gefunden und daraus geschlossen, dass zwischen den Maya und den Teotihuacan enge Beziehungen bestanden. Ich bin kein Archäologe und gehe das Risiko ein, mich zu irren: Der caracol ist sicherlich ein Symbol der Götterwelt, die feuchte, kühle Welt des Chac, des Regengottes der Maya. Er versinnbildlicht die Fruchtbarkeit und das Wachstum. Er hat auch einen anderen Sinn in Bezug auf Raum und Zeit, auf die Jahreszeiten und den Kalender und auf die rituelle Wahrnehmung des Raumes. Mit einem bisschen Phantasie könnte man behaupten, dass er die zeitliche Wahrnehmung des Raumes darstellt: den Weg des Herzens, die Rückkehr zu sich selbst, die gleichzeitig eine Öffnung gegenüber der Welt ist. Das ist der Hintergrund der Vorgehensweise der Zapatisten.

Kehrtwendung in der Strategie

Die Stadt Aguascalientes nimmt einen wichtigen Platz in der revolutionären Mythologie ein. Sie war der Sitz der zapatistischen Revolutionäre, des Konvents, welcher die revolutionären Armeen, die dem Regime von General Victoriano Huerta ein Ende bereitet hatte, und die Zivilgesellschaft vereinten. Die zapatistischen Aguascalientes repräsentierten auch das Zusammentreffen zwischen den revolutionären Kräften und der Zivilgesellschaft, zwischen der EZLN und den fortschrittlichen Kräften der mexikanischen Gesellschaft anlässlich des Nationalen Demokratischen Konvents in Guadalupe Tepeyac, wo 1996 das intergalaktische Treffen zwischen der EZLN und den verschiedensten oppositionellen Strömungen der ganzen Welt stattfand.

Der Bezug zur mexikanischen Geschichte und zum Zusammentreffen einer revolutionären Armee mit der Zivilgesellschaft ist verschwunden. Es handelt sich um eine wichtige Veränderung und um eine Kehrtwendung in der Strategie. Die Revolution beginnt mit dem Aufbau und der Stärkung der Autonomie der Indios. Die caracoles beziehen sich auf die Maya-Ursprünge der Bauern dieser Region, sie bedeuten eine Rückkehr zu den Quellen einer dynamischen, kreativen, konstruktiven und der mexikanischen Gesellschaft gegenüber offenen Kultur. In La Realidad heißt er Madre de los caracoles del mar de nuestros suenos (Mutter der Schnecken des Meeres unserer Träume), in Morelia Torbellino de nuestras palabras (Wirbelsturm unserer Worte) in La Garrucha Resistencia hacia un nuevo amanecer (Widerstand bis zu einem neuen Tagesanbruch), in Roberto Barrios El caracol que habla para todos (Die Schnecke, die für alle spricht) und schließlich in Oventik Resistencia y rebeldia por la humanidad (Widerstand und Rebellion für die Menschheit).

Juntas de buon gobierno

Die Caracoles sind die Zentren der Juntas de buon gobierno (Räte der guten Regierung). Es gibt fünf dieser Zentren, die jeweils mehrere Gemeinden umfassen. Die Namen dieser Räte sind auch bezeichnend: Hacia la esperanza mit vier autonomen Gemeinden, Corazon del arcoiris de la esperanza (Herz des Regenbogens der Hoffnung) mit sieben Gemeinden, El camino del futuro (Der Weg der Zukunft) mit vier Gemeinden und Nueva semilla que va producir (Neues Saatgut, das aufgehen wird) mit sieben Gemeinden und Corazon céntrico de los zapatistas delante del mundo (Zentrales Herz der Zapatisten vor der Welt) mit ebenfalls sieben Gemeinden. Der erste Rat gehört zu La Realidad, der zweite zu Morelia, der dritte zu La Garrucha, der vierte zu Roberto Barrios und der letzte zu Oventik.

Die Schaffung von regionalen Regierungen ist ein wichtiger Schritt im Aufbau der Autonomie. Unmittelbar entspricht sie der Notwendigkeit, eine große Offensive der Regierung zu kontern. Die Zeitschrift von San Cristobal, Tiempo, veröffentlichte in ihrer Nummer von August 2003 einen Aktionsplan des Staates, um die zapatistische Bewegung zu schwächen. Es geht darum, so genannt soziale Programme oder Entwicklungshilfe zu finanzieren und sie der Bevölkerung aufzuschwatzen. Alle Institutionen sind aufgerufen, bei diesem Plan zur Spaltung der Bewegung mitzuarbeiten. Er beginnt bei den Ortschaften, in denen die zapatistische Präsenz schwach ist, um allmählich bis zu den autonomen Gemeinden vorzudringen. Vor einem Jahr wurde mit der Umsetzung dieses Planes begonnen. Er hat zweifellos nicht die erwartete Wirkung wegen der Nachlässigkeit der Funktionäre, Korruption und wegen dem Widerstand der Bevölkerung. Doch er hat zahlreiche Konflikte hervorgerufen innerhalb der autonomen Gemeinden zwischen den Zapatisten und den Organisationen, die von den Entwicklungsprogrammen der Regierung profitieren. Es wurde immer unerträglicher für eine autonome Gemeinde, in dieser Art von Konfrontation, die langfristig zur Isolierung der Zapatisten führen kann, gleichzeitig Richter und Partei zu sein. Man musste dringend Lösungen finden, um die Konflikte zu entschärfen, die autonomen Gemeinden zu entlasten und gleichzeitig die Autorität der Zapatisten in der Region zu stärken, die Autorität einer «guten Regierung», d.h. einer Regierung, die an Vernunft, Dialog und Verhandlung appelliert, einer Regierung, die eher Versöhnung als Kräftemessen anstrebt.

Während der Staat Öl ins Feuer gießt, versuchen die Zapatisten, das Spiel zu entlarven, dessen Ziel es ist, die Bevölkerung gegen sie aufzuhetzen. Um ihren guten Willen zu bekunden, kündigten sie anlässlich des Festes von Oventik an, dass sie die Straßensperren aufheben und die Maut abschaffen würden, die sie bis dahin in der Region erhoben, die unter ihrer Kontrolle steht.

Die Aufgaben dieser Räte der guten Regierung sind vielfältig. Sie werden im sechsten Teil der Dreizehnten Stele im Detail beschrieben (siehe Brief des Subcomandante Marcos, Juli 2003): Gleichgewicht in der Entwicklung der autonomen Gemeinden, Regelung der Konflikte zwischen den autonomen Gemeinden, zwischen den autonomen Gemeinden und den anderen Gemeinden, Achtung der Menschenrechte, Betreuung der gemeinsamen Projekte, Respekt der Gesetze, die auf der Grundlage eines Abkommens in den zapatistischen Gemeinden herrschen, Kontaktstelle zwischen der Zivilgesellschaft (national und international) und den Gemeinden, Förderung der Beteiligung der companeros und companeras der autonomen Gemeinden an Aktivitäten außerhalb der rebellischen Gemeinden, im Einverständnis mit dem geheimen Revolutionskomitee, dem Oberkommando der EZLN.

Autonomie als Emanzipation

Die autonomen Gemeinden sind verantwortlich für Justiz, Gesundheitswesen, Erziehung, Unterkunft, Land, Arbeit, Ernährung, Handel, Information, Kultur und Kommunikation.

Es scheint mir interessant, dass das geheime Revolutionskomitee der Indigenas in allen Regionen das Funktionieren der Räte überwachen wird, um Willkür, Korruption, Intoleranz, Ungerechtigkeiten und Abweichungen vom zapatistischen Prinzip: «kommandieren, indem man folgt», zu vermeiden.

Wenn die Schaffung dieser Räte einerseits Bruch und Marginalisierung vermeiden soll - vor allem in den Regionen, in denen die Zapatisten neben anderen Organisations- und Regierungsformen leben - so bedeutet sie vor allem eine wichtige Etappe auf dem Weg der politischen Autonomie.

Die Zapatisten setzen das Abkommen von San Andrés bezüglich der Autonomie der Indios in die Tat um, sind dabei aber sehr bedacht darauf, nicht von den internationalen Konventionen abzuweichen, die von der mexikanischen Regierung unterzeichnet wurden, wie zum Beispiel die Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), die das Recht der Völker auf Selbstbestimmung festschreibt. Dieses Abkommen sieht eine territoriale Autonomie vor, ohne auf das Recht, regionale Regierungsorgane einzusetzen, einzugehen. Dies ist eine wichtige Forderung der Indigena-Bewegungen, die Möglichkeit, die Autonomie über die Gemeinde hinaus zu erweitern. Diese zentrale Frage wurde vom mexikanischen Staat stets übergangen.

Bis heute waren die Indigenas auf der Ebene der Dörfer politisch und sozial autonom. Die Frage wird komplizierter, wenn es um Gemeinden geht, die mehrere Dörfer umfassen. Pablo Gomez schreibt in der Zeitung Milenio vom 15. August: «Was wir autonome Gemeinde nennen, gibt es nicht, angesichts der Tatsache, dass die Gemeindeautonomie in allen mexikanischen Gemeinden existiert, nicht nur bei den Indigenas.» Es gibt im Land Gemeinden, in denen die Mehrheit der Bevölkerung Indigenas sind, in Chiapas, in Oaxaca, in Guerrero, in Michoacan, in Tarahumara etc., was nicht unbedingt heißt, dass sie von Indigenas regiert werden. Im allgemeinen werden sie von lokalen Bonzen beherrscht, die meistens mit den institutionellen Parteien verbunden sind. Die Aufteilung in Gemeinden in den Indigena-Regionen begünstigt Städte und größere Ortschaften, meist mit gemischter Bevölkerung, zum Nachteil des ländlichen Raums. Die Zapatisten haben eine neue Karte gezeichnet und Gemeinden geschaffen, die es nicht gab, die «autonomen zapatistischen Gemeinden».

Wenn die Gemeindegewalt in den Händen der Indigenas liegt, dann ist das oft nur Schein. Dahinter stehen die politischen Parteien mit ihrer Politik, die überhaupt nicht auf die Bedürfnisse und Wünsche der Bevölkerung eingeht.

Die Autonomie eines Weilers marginalisiert die Indigena-Gemeinschaften und isoliert sie in gewissem Maße, zumindest in ihren Beziehungen zum Staat. Jede Gemeinde steht alleine dem Staat gegenüber, vertreten durch den Gemeinderat, um administrative Probleme und Zwistigkeiten mit den Nachbarn zu regeln sowie um Projekte zu finanzieren.

Autonome Gemeinden werden gewöhnlich manipuliert und unter Druck gesetzt: Man lässt die lokale Bevölkerung ihre Notlage innerhalb eines von Vetternwirtschaft dominierten Systems, das sie von politischen und privaten höheren Interessen abhängig macht, alleine verwalten. Die Verfassung von Oaxaca zum Beispiel gibt der Indigena-Gemeinschaft das Recht, den Gemeindepräsidenten und –rat nach ihren «Sitten und Bräuchen» zu wählen. In diesem Fall ist es die Generalversammlung aller Bürgerinnen und Bürger, die nach einer Diskussion den Präsidenten und den Rat wählt. Ich kann vom Druck des Staates Oaxaca, des Gouverneurs und der politischen Parteien zeugen, vom Gewicht der Bonzen und ihren Versuchen, die Bevölkerung zu kaufen oder zu manipulieren (die glücklicherweise nicht immer darauf eingeht).

Wenn die Indigenas von Autonomie sprechen, heißt das für sie Emanzipation. Es geht ihnen darum, sich von der Einmischung der westlichen Welt zu befreien, vertreten durch die politischen Parteien und den Interessensgruppen, die hinter ihnen stehen, um sich selbst zu verwalten, nach ihren eigenen Interessen und Bedürfnissen und im Rahmen ihrer kulturellen Traditionen und ihrer Bräuche.