GESTERN - HEUTE - MORGEN : Wissenschaft und Kapitalismus

von Bertrand Louart, 13.10.2003, Veröffentlicht in Archipel 109

Wir veröffentlichen hier einen weiteren Auszug aus Quelques éléments d’une critique de la société industrielle (Einige Elemente einer Kritik an der Industriegesellschaft) von Bertrand Louart *.

Wir können feststellen, dass die wissenschaftlichen Erkenntnisse seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts in den Dienst eines sehr speziellen wirtschaftlichen und technischen Systems gestellt wurden.

Der "Wissenschaft" wird oft vorgeworfen, sie verberge hinter ihrer Objektivität, ihren Vereinfachungen und hinter ihrem Anspruch auf Universalität eine Haltung, die jegliche Sensibilität verachtet, sie verberge ihre Ambition zu dominieren und zu herrschen 1. Man vergisst leicht, dass sich am Anfang die wissenschaftliche Methode auf einen sehr begrenzten Bereich beschränkte, der nur ein Teil der gesamten Realität war, sie kümmerte sich um Sachen , das heißt um "leblose" Gegenstände. Sie erlaubte es, dank Messungen und Berechnungen, über die primäre und elementare Beschaffenheit von Materie und über die verschiedensten Formen von Kraft und Bewegung Aussagen zu machen. Sie ist nur dann objektiv und universell, solange sie von den unterschiedlichsten Sichtweisen der Menschen auf ihre Welt abstrahiert und dies auch nur, solange die Materie, aus der die Welt beschaffen ist, überall die Gleiche ist. Und so untersucht die exakte Wissenschaft (Mathematik, Mechanik, Physik, Chemie) so genannt "tote" Sachen. Die Naturwissenschaft allerdings beschäftigt sich mit lebendigen Geschöpfen als wären sie Sachen, sie nimmt Inventar auf und klassifiziert ihre verschiedenen Formen und Bestandteile (Botanik, Zoologie, Anatomie, Biologie, Biochemie, etc.).

Man tendiert dazu, unter einem generellen Oberbegriff "Wissenschaft" die wissenschaftlichen Erkenntnisse und Methoden , die in der Tat nützlich sind, um gewisse Aspekte der Realität kennen zu lernen, gleichzusetzen mit der sozialen Institution der Wissenschaft , das heißt mit der "Wissenschaftsgemeinschaft" und ihrem Gefolge von Laboratorien, Schulen, Instituten, Universitäten usw. Die Wissenschaftler halten diese Konfusion seit dem 19. Jahrhundert bewusst aufrecht, um sich selbst jeglicher Verantwortung zu entziehen, was den sozialen Gebrauch ihrer Erfindungen und Erkenntnisse und deren Anwendung betrifft.

Neutral?

Ihnen zufolge bedeutet "Wissenschaft" die neutrale und objektive Erkenntnis, unabhängig von menschlichen Interessen und Passionen. Daraus folgt, dass sie auf keinen Fall dafür verantwortlich gemacht werden können, was die Menschen aus ihrer "Wissenschaft" machen. Dies ist spätestens dann scheinheilig, wenn man einerseits alles Positive, was die wissenschaftliche Erkenntnis gebracht hat, der "Wissenschaft" gutschreibt, andererseits unterschiedslos alles Negative im Umgang mit ihr dem "Menschen" anlastet. Man sieht hier, dass sich die "Wissenschaftler" nicht nur für etwas anderes halten als für ganz normale Menschen, einen Teil der Gesellschaft wie jeder andere auch. Sie geben nicht einmal zu, dass sie als Ganzes eine soziale Körperschaft bilden, eine zwar sehr anerkannte und bewunderte, die aber für alles, was sie hervorbringt, auch Verantwortung tragen sollte. Diese Herren leben ganz einfach auf einem anderen Planeten und dies erklärt vielleicht, wie sie dazu beitragen konnten, den unseren in seinen jetzigen Zustand zu versetzen… 2

Verantwortung

Es scheint einleuchtend, dass niemand danach trachten würde, die Gleichungen der Nuklearphysik für die Bombardierungen von Hiroshima und Nagasaki zur Verantwortung zu ziehen; wissenschaftliche Erkenntnisse sind ja keine handelnden Personen oder unabhängige Mächte, die man für etwas verantwortlich machen könnte. Trotzdem scheint es genauso evident, dass "die Wissenschaft" als Institution sehr wohl dafür verantwortlich ist, was die Menschen aus ihr machen. Denn es waren ebenfalls Wissenschaftler, welche die Atombomben entwickelten und schließlich zusammenbauten, um sie Militär und Politik zur Verfügung zu stellen. Und genauso stehen hinter jeder Anwendung der Wissenschaft Forscher, Ingenieure und Experten, die innerhalb der wissenschaftlichen Institutionen ausgebildet wurden und die ihre Kompetenz und Autorität aus dieser "Wissenschaftsgemeinschaft", in Form von Patenten, Diplomen und Ehrenurkunden, mit der diese ihre Mitglieder auszuzeichnen pflegt, beziehen.

Kompetenz, Autorität und Zugang zu wissenschaftlichen Problemstellungen, dies spricht "die Wissenschaft" den andern Mitgliedern der Gesellschaft ab. In einer Gesellschaft, die auf industrieller Produktion und industriellem Wachstum beruht, werden jedoch mehr und mehr Bereiche von diesen Kompetenzen abhängig, die politische Kontrolle und eine kritische Beurteilung durch die öffentliche Meinung werden in die hinteren Ränge verwiesen, wo jene sitzen, die "ohnehin nichts verstehen".

Lebewesen als Sachen

Das wirtschaftliche und industrielle System des Kapitalismus hat "die Wissenschaft" in seine Dienste genommen, um mit ihrer Hilfe die Welt zu erobern. Ihre spezielle Methode entspricht dem Weltverständnis dieses Systems und hilft ihm dabei, sein politisches Projekt zu verwirklichen 3. Der Kapitalismus sieht die Welt als eine immense Anhäufung von Sachen, natürliche und menschliche Ressourcen, die nur darauf warten, ausgebeutet und in Ware verwandelt zu werden. Die wissenschaftliche Methode erlaubt, sich des Lebens und seiner Erscheinungsformen zu bemächtigen, Lebewesen und Menschen als Sachen zu sehen, um sie von diesem Standpunkt aus zu manipulieren, zu verändern und zu instrumentalisieren und sie so zu einem Handelsgut in einem gigantischen Prozess von Warenproduktion und -umlauf zu machen.

Die wissenschaftliche Methode wurde also außerhalb ihrer Domäne, in der sie ihre objektive Gültigkeit hat, eingesetzt; ihr Anwendungsgebiet wurde im Rahmen des herrschenden Wirtschaftssystems missbräuchlich (mit der aktiven Komplizenschaft der Wissenschaftler) 4 auf alle Aspekte des Lebens ausgeweitet, und hat in der Folge die wirtschaftliche und technische Macht dieses Systems vergrößert. Der grundlegende Irrtum der "modernen Wissenschaft" - und dies verursachte einen Großteil der Desaster, mit denen wir heute konfrontiert sind - liegt darin, sich anzumaßen, Lebewesen, also auch die Menschen, studieren und nach ihren Vorstellungen verändern zu können, so wie sie es in ihren Laboratorien zu tun pflegt. Lebewesen und Menschen können jedoch nicht zu einer Sache reduziert werden, ohne dass man sie aufs schwerste verstümmelt und ohne sie ihrer Sensibilität und ihres Denkens, ihrer wesentlichen Eigenschaft als Lebewesen, zu berauben. Wesen haben die Eigenschaft, mannigfaltige Beziehungen in unendlich vielen Formen untereinander und zu ihrer Umgebung zu entwickeln. Dies unterscheidet sie von Sachen. Sie haben ebenfalls die Fähigkeit, ihre Umgebung zu nutzen und zu transformieren, um sie ihrem Leben anzupassen. Indem man Wesen wie eine Sache behandelt, spricht man ihnen nicht nur ihre Autonomie und ihre Freiheit ab, man gerät unweigerlich in Versuchung, ihnen diese zu entziehen, da sich Lebewesen sonst kaum wie Sachen manipulieren ließen.

"Scientismus"

Die wissenschaftliche Methode wurde im 19. Jahrhundert zur Ideologie und wird seither entsprechend angewandt. Sie beteiligte sich, zuerst in der westlichen Gesellschaft und bis heute im Rest der Welt, am Prozess der Industrialisierung. Dadurch dass sie in der bürgerlichen und kapitalistischen Gesellschaft zu einer Institution wurde, erschuf sie eine neue Ideologie, den "Scientismus" (Scientismus ist der uneingeschränkte Glaube an Veränderung und Fortschritt. Er macht sich eine ausschließlich optimistische Sicht der Zukunft zum Programm. Der Scientismus geht davon aus, dass die Wissenschaft der wahre und beste Weg ist, die Probleme der Natur und des Menschen zu lösen. In diesem Sinne ist er eine Art Religion, Anm. d. Ü.). Diese Ideologie fühlt sich nicht dazu berufen, direkt Macht oder politischen Einfluss auszuüben, im Gegenteil, sie neigt dazu, alles Politische auf wissenschaftliche oder technische Probleme zu reduzieren. Dieser "Scientismus" beruht auf dem Glauben, die "Wissenschaft" würde früher oder später die Geheimnisse aller Dinge ans Licht bringen, alle Probleme lösen, und seine Methoden könnten auf alle Lebensbereiche ausgeweitet werden. In der Tat, alle politischen Ideologien gaben vor, auf der Grundlage der Wissenschaft zu stehen und, wenn man heute vom "Ende der Ideologien" redet, so stellt man fest, dass die einzige Ideologie, die übrig bleibt, der Glaube in die Fähigkeit der Wissenschaft ist, alle Probleme zu lösen… Sie selbst hat mächtig dazu beigetragen, diesen Glauben hervorzubringen.

Annahmen und Vorurteile

Als Beispiel für diese ideologische Anwendung der wissenschaftlichen Methode seien hier die "Humanwissenschaften" (Soziologie usw.) oder auch die berühmt berüchtigte "Wirtschaftswissenschaft" zitiert. Meistens versuchen diese "Wissenschaften", menschliche Angelegenheiten zu erklären. Sie versuchen dies auf Grund statistischer Erkenntnisse, mit Berechnungen und der Extrapolation zu allgemeingültigen Gesetzen oder – am anderen Ende der Skala – in der Reduktion des Verhaltens auf einige universelle Gesetzmäßigkeiten. Sie bestätigen sehr oft die Annahmen der Epoche und des sozialen Milieus, aus dem die Forscher stammen. Annahmen, die sich oft als Vorurteile entpuppen, denn ihre Zahlen sind Zeichen, die es nicht erlauben, den tieferen Sinn einer historischen und sozialen Situation, in der eine Bevölkerung lebt, zu verstehen. Um dies zu illustrieren, führe ich gerne das Beispiel einiger so genannter naturwissenschaftlicher Theorien an, um die Kontinuität zwischen dem 19. Jahrhundert und heute, wo die "Biotechnologie" scheinbar unsere Existenz revolutionieren soll, aufzuzeigen.

Darwin

Die "Evolutionstheorie" von Darwin stand am Anfang einer der größten wissenschaftlichen Verirrungen. Der Darwinismus ist im Grunde genommen eine reine ideologische Projektion der englischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts auf die Welt der Pflanzen und der Lebewesen. Damals bewirkten die beschleunigte Industrialisierung und der Siegeszug des Liberalismus, dass der "Kampf ums Überleben" und der "Krieg aller gegen alle" zur vorherrschenden Beziehungsform unter den Menschen wurde. Die Selektion des Fähigsten wurde zum einzigen Kriterium für den sozialen Aufstieg. Zahlreiche Wissenschaftler haben sich in der Folge dieser Theorie bedient, um den Wirtschaftsliberalismus wissenschaftlich zu rechtfertigen und seinen "natürlichen" Ursprung zu belegen. Auf dieser Grundlage entwickelten sich auch die eugenischen Spekulationen, die zum Ziel hatten, durch eine Unterwerfung der "minderwertigen Rassen" (Rechtfertigung von Kolonialismus und Rassismus) und die Eliminierung der "Schwächsten", die menschliche Spezies zu "verbessern". Dies alles geschah im Namen "wissenschaftlicher Kriterien", die, welch glücklicher Zufall, die "weiße Rasse" und insbesondere ihre Vertreter im industrialisierten Europa an die Spitze der biologischen Evolution erhoben. Die eugenische und rassistische Doktrin wurde durchaus als wissenschaftlich betrachtet, es wurden Kredite vergeben, öffentliche und private Studien durchgeführt, die später in den verschiedensten Institutionen doziert und mit Eifer studiert wurden und die schlussendlich in Gesetzen und Verordnungen ihren Niederschlag fanden (in den USA seit 1907). Alle politischen Tendenzen hatten diese wissenschaftliche Verirrung unterstützt, welche innerhalb der Industrieländer dazu führte, dass soziale und politische Probleme (insbesondere die miserablen Lebensbedingungen der Arbeiterschicht) hinter einer biologischen Problematik verwischt wurden. Eugenische Maßnahmen (insbesondere die Sterilisation) wurden in den Industrieländern mit dem Segen zahlreicher Wissenschaftler und Ärzte zwischen 1920 und 1930 durchgeführt (in Schweden bis 1970). Die Vernichtungspolitik des Naziregimes mit industriellen Methoden in den Jahren von 1930 bis 1940 war die schrecklichste Anwendung dieser Doktrin und dieser Ideen, die immer einen "wissenschaftlichen Hintergrund" hatten.

Nach dem II. Weltkrieg war seitens der "Wissenschaftsgemeinschaft" nicht der geringste Hauch einer Selbstkritik zu vernehmen, was ihre Komplizenschaft mit den vergangenen Verbrechen, die manchmal ideologischer (cf. Alexis Carrel) aber all zu oft durchaus praktischer Natur war, betraf. Die rassistischen und eugenischen Theorien und alle, die mithalfen, diese Theorien aus der Taufe zu heben, wurden nicht öffentlich angeklagt und der "Scientismus" nicht in Frage gestellt. Im Gegenteil, der Fortschrittsoptimismus triumphierte über alle Zweifel, war es nicht "die Wissenschaft", mit ihrer vielseitigen technischen Perfektion (Atombombe, Radar, usw.), die dazu beigetragen hatte, den Krieg schneller zu beenden? Alle Affären ideologischer Komplizenschaft wurden rasch im Keim erstickt und unsere Herren der Wissenschaft schritten zum nächsten Kapitel, jenem der Genetik auf der Basis der vor kurzem entdeckten Molekularbiologie 5.

Vor einigen Jahren versicherten uns Wissenschaftler, durch die Entschlüsselung des menschlichen Genoms würde das "Rätsel des Lebens" bald gelöst, was erlaube, das "Leben zu meistern" und in der Folge eine ganze Reihe von Krankheiten zu heilen. Heute, wo noch keines dieser wunderbaren Versprechen auch nur im Ansatz eingelöst ist, verlangt diese Forschung Kredit um Kredit, und verspricht immer phantastischere Umsetzungen. Schon wenn man zur Kenntnis nimmt, was sich rund um die genmanipulierten Pflanzen herum abspielt, gibt es genügend Grund, sich über die Versuche unserer brillanter Forscher, "das Leben zu meistern", ernsthaft Sorgen zu machen. Hinter diesen maßlosen Ansprüchen finden wir wieder die Konstante des "Scientismus", der bereits seit dem 19. Jahrhundert am Werk ist, gemeint ist das mechanistische Funktionsmodell des Lebens 6. In vielen Bereichen hatte diese Ideologie, die davon ausgeht, dass alles Lebendige, wie eine Sache oder eine Maschine funktioniere, eine sterilisierende Auswirkung: "Die Wissenschaft" trachtet nicht mehr danach, eine umfassende Theorie aufzustellen, sie gibt sich damit zufrieden, von Fall zu Fall Erklärungsmodelle zu basteln. Gleichzeitig wird auch in den Labors eifrig gebastelt, ohne dass man sich erklären kann, warum die eine oder andere Manipulation nicht geht. Was herauskommt, ist eine so genannte Nekrotechnologie 7: Pflanzen, die sich selbst nicht mehr fortpflanzen aber die verschiedensten Biozide produzieren und verbreiten.

In ihrer Unfähigkeit, das Leben als solches besser zu verstehen oder zu meistern, entwickelt "die Wissenschaft" immer perfektere Techniken, um es zu zerstören…

*Quelques éléments d’une critique de la société industrielle – juin 2003. Broschüre, 3,60 Euros, Beilage zu Notes et morceaux choisis, Bulletin, Kritik der Wissenschaften, der Technologien und der Industriegesellschaft (52, rue Damrémont, F-75018 Paris)

  1. Pierre Thuillier hat diese Argumente in verschiedenen Artikeln über die Geschichte der Wissenschaften entwickelt: La grande implosion , Fayard, 1995.

  2. Dieses Bild wurde zum ersten Mal von Jonathan Swift in Gullivers Reisen (1726) benützt

  3. Zu bestimmen, inwiefern der Kapitalismus selbst das Ergebnis einer strikt wissenschaftlichen und rationalen Sichtweise der Welt ist, würde den Rahmen dieses Artikels sprengen.

  4. Siehe das Referat von Marcellin Berthelot, En l’an 2000, gehalten 1896, zitiert in Aveux complets des véritables mobiles du crime commis au CIRAD... von René Riesel, Ed. De l’Encyclopédie des Nuisances, 2001

  5. Cf. André Pichot, La société pure – De Darwin à Hitler , ed. Flammarion, 2000

  6. Cf. Le modèle mécanique de la vie , Artikel in Notes & Morceaux choisis Nr. 4, Juli 2001

  7. Cf. Jean-Pierre Berlan, La guerre au vivant , Agone, 2001