GESTERN - HEUTE - MORGEN: Zomia oder die Kunst, sich nicht regieren zu lassen

von Jacques Berguerand, EBF, 16.07.2014, Veröffentlicht in Archipel 228

Seit 2000 Jahren weigern sich die Gemeinschaften einer weitläufigen Gebirgsregion in Südostasien, sich in einen Staat zu integrieren. Zomia: So lautet der Name dieser widerständigen Gegend, die auf keiner Landkarte verzeichnet ist und in der rund 100 Millionen Menschen Zuflucht gefunden haben, um der Überwachung durch die Regierungen zu entgehen.

Von den Staaten, die versuchten sie zu unterwerfen, werden diese Nomadenvölker als «Barbaren» beschimpft. Sie haben teils erstaunliche Widerstandsstrategien entwickelt, um sich der staatlichen Kontrolle zu entziehen, die für sie mit Zwangsarbeit, Steuern, Wehrpflicht und Unterwerfung gleichzusetzen ist. Sie bevorzugen selbstverwaltete politische Modelle, einige gehen sogar soweit, auf Schrift zu verzichten, um jegliche Möglichkeit der Vereinnahmung ihrer Erinnerungen und ihrer Identität zu verhindern. Es handelt sich hier um eine Gegengeschichte zur Modernität. Wie Pierre Clastres 1 erzählt uns James C. Scott die Geschichte einer «Gesellschaft gegen den Staat». Denn die Zomia widersetzt sich den traditionellen geographischen Abgrenzungen und politischen Gewissheiten und wirft wesentliche Fragen auf: Was bedeutet «Zivilisation»? Was lehren uns die Völker, die sich ihr entziehen wollten? Haben Gesellschaften ohne Staat je existiert und existieren sie noch? Kann sich eine Gesellschaft auf dem Widerstand gegen den Staat begründen? Die Geschichte der Rebellin Zomia ruft uns in Erinnerung, dass «Zivilisation» Synonym von Unterdrückung sein kann.
Die Zomia Zomia bedeutet «Bergleute», der Begriff ist mehreren tibeto-burmesischen Sprachen gemein, die im Grenzgebiet zwischen Indien, Bangladesch und Burma gesprochen werden. Es handelt sich um eine 2,5 Millionen Quadratkilometer große Region, die ungefähr der Fläche Westeuropas entspricht und die an den Rändern von neun Staaten liegt (China, Burma, Indien, Bangladesch, Bhutan, Thailand, Laos, Vietnam, Kambodscha), aber das Zentrum von keinem ist, und die von Minderheiten bewohnt wird, welche eine verblüffende ethnische und sprachliche Vielfalt aufweisen: fünf Sprachfamilien und Hunderte von ethnischen Identitäten auf einem Raum zwischen 300 und 4000 Höhenmetern. Die Zomia ist die letzte Region der Welt, deren Bewohner_innen noch nicht vollständig in Nationalstaaten integriert wurden. Diese Bevölkerung muss als Gemeinschaft von Zufluchtsuchenden verstanden werden, die im Laufe der vergangenen zwei Jahrtausende versuchten, sich den unterschiedlichen Formen der Unterdrückung zu entziehen, welche die Staatenbildung in den fruchtbaren Tälern mit sich brachte. Zu Beginn versuchten die meisten von ihnen, sich der Kontrolle eines einzelnen Staates zu entziehen wie des chinesischen Staates Han in seiner frühen Form seit dem ersten Jahrtausend vor JC. Aber es ist noch nicht so lange her, da stellten Völker, die sich selbst ohne staatliche Strukturen regierten, den überwiegenden Teil der Menschheit dar. Und man kann davon ausgehen, dass jeder Kontinent seine Zomia hatte oder noch hat.
Es wäre falsch, diese Bevölkerung als Überbleibsel primitiver, archaischer oder gar steinzeitlicher Bevölkerungen zu sehen, als Überreste früherer Gesellschaftsformen. Es scheint vielmehr, dass eine gewisse Anzahl indigener Gruppen in Mittel- und Südamerika und auch in einigen südostasiatischen Regionen früher sesshafte Bauern waren, die sich unter dem Druck der sich bildenden Staaten gezwungen sahen, ihre Gesellschaften neu zu organisieren.
Man sollte erkennen, dass es sich für diese Menschen um eine politische Antwort handelte, um eine Strategie, dem Staat zu entkommen. Die Besiedlung der Hügel muss als langer Migrationsprozess in einen staatsfernen Raum verstanden werden, mit demographischen Überlagerungen und der Neudefinierung von Identitäten. Die meisten Merkmale, die zur Stigmatisierung der Bergbewohner_innen als «primitive» Menschen führen, zeugen im Gegenteil davon, dass es sich bei diesen Eigenschaften um intelligente, langfristige Anpassungsstrategien handelt, um der Ergreifung durch einen Staat zu entkommen und um die Bildung jeglicher staatlicher Form innerhalb ihrer Gemeinschaften zu vermeiden.

Agrar- und Seereiche In Südostasien scheint die Sesshaftwerdung des größten Teils der Bevölkerung nicht vor der Bildung der auf Getreideanbau basierten Agrarstaaten, wie derjenige von der ersten Han-Dynastie in China, stattgefunden zu haben. Die ersten Staaten konnten sich auf ein bewässertes Reisanbausystem stützen, das vorher sehr langsam über Generationen in Familien entwickelt worden war. Die meisten dieser Bewässerungsanlagen überdauerten den Zusammenbruch der Staaten, die politisch noch sehr instabil waren; davon zeugen die archäologischen Funde von unzähligen Ruinen in der Region.
Bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts war die geografische Ausweitung der Staaten durch Transportschwierigkeiten, mangelnde Militärtechnologie und demografische Verhältnisse begrenzt. Seit gut 50 Jahren hat sich das verändert: Nationalstaaten und Grenzen beherrschen die Welt. Um 1600 gab es in Südostasien 5,5 Bewohner_innen pro Quadratkilometer, 35 in Indien und China, 11 in Europa. Auch die demografisch und räumlich marginale Bedeutung der ersten Staaten, wie China, Ägypten, Indien, das alte Griechenland und Rom, sollte nicht vergessen werden. Es gab also viel Raum, in den sich widerständige Bevölkerungen zurückziehen konnten.
Ein Kontinentalreich konnte höchstens über ein Gebiet im Umkreis von 300 km herrschen. Alles was darüber hinaus lag, entzog sich seiner Kontrolle. Zu Fuß kann man 25 km pro Tag zurücklegen, wesentlich weniger in Gebirgsregionen, und Transporte fanden vor allem mit Rindern statt. In der vormodernen Zeit verband Wasser Menschen. Berge, vor allem wenn sie hoch und schwer zugänglich waren, stellten ganz im Gegenteil eine Trennungslinie dar. Mitte des 18. Jahrhunderts brauchte ein englischer Bürger die gleiche Zeit, um zu Fuß von London nach Edinburgh zu gehen, wie ein Schiff für die Überfahrt von Southampton zum Kap der guten Hoffnung.
See- oder Küstenreiche, wie das Malaysische Reich im 15. und 16. Jahrhundert, waren mobiler, und selbst wenn sie Zölle für die strategischen Handelsrouten eintrieben, kontrollierten sie selten das Landesinnere. Darin lag ihre Schwäche: Es war schwierig, große Armeen zu mobilisieren und für den logistischen Nachschub zu sorgen. Während der Peleponnesischen Kriege war Athen in jeder Hinsicht dem Meer zugewandt und wurde von seinen stärker auf Agrarwirtschaft ausgerichteten Rivalen Sparta und Syrakus besiegt, die langen Belagerungen länger standhalten konnten. Am Meer lagen allerdings die wichtigsten vor-kolonialen Staaten Südostasiens, wichtige Knotenpunkte für Kultur und Handelswesen. Dort existierten ebenfalls mobile Piraten-Zomias auf See, die die südlichen Meere durchkämmten und die man dort noch heute am Horn von Afrika trifft.

Zomia überall In Südostasien flohen widerständige Bevölkerungen vor den angehenden Staaten aus den reicheren Tälern und begaben sich in die Berge. In Lateinamerika flohen die Menschen von den reicheren Hochebenen, auf denen sich die Staaten der Inka, Azteken und Maya gebildet hatten, und besiedelten die Wälder. Pierre Clastre verweist darauf, dass es sich bei den sogenannten primitiven indigenen Gesellschaften Südamerikas nicht um alte Gesellschaften handelte, die daran gescheitert waren, eine sesshafte Landwirtschaft oder eine staatliche Form hervorzubringen, sondern die vielmehr von einem ehemals sesshaften Bauerntum gekennzeichnet waren, das Landwirtschaft und feste Dörfer aufgegeben hatte, als Reaktion auf die Erstarkung dieser großen Reiche oder auf die spanischen Eroberungen. Genau-so sieht Ernest Gellner, ebenfalls Ethnologe, in dem Konflikt zwischen Arabern und Berbern, die große Teile einer sehr weitreichenden Kultur und den islamischen Glauben gemein haben, einen expliziten politischen Konflikt. Er betont, dass die politische Selbstbestimmung und der Tribalismus der berberischen Bevölkerung aus dem Hohen Atlas kein vor-staatlicher Tribalismus 2 ist, sondern die strategische und partielle Ablehnung einer bestimmten Regierungsform.
Um 1600 war das südostasiatische Kontinentalmassiv sieben Mal weniger bevölkert als China. Daher verlieh dort die Macht über die Menschen auch Macht über das Land, während es sich in China eher andersherum verhielt. So war es von größter Notwendigkeit für die Staaten der mit Reis bepflanzten Täler, hohe Bevölkerungszahlen aufrechtzuhalten. Diese Menschen waren im Allgemeinen Sklav_innen, oft stammten sie aus Plünderungszügen in den Bergen oder aus Kriegen mit anderen Staaten. In den reichen Gebieten der bewässerten Reiskulturen wurden sie dicht zusammengehalten, waren somit leicht kontrollierbar und konnten den Steuern unterworfen werden. In diesen Regionen der bewässerten Reisfelder war die Bevölkerungsdichte zehn Mal so hoch wie in den Reisanbau- und Brandrodungsgebieten auf den Hügeln. In den von Spanien beherrschten Philippinen konnte man die gleiche Entwicklung beobachten. In Europa waren zum Beispiel die Kosaken ursprünglich Leibeigene, die aus dem europäischen Teil Russlands flohen und sich an den Grenzen des Reiches sammelten. Das Gleiche gilt für Roma und Sinti, die im Mittelmeerbecken in Galeeren versklavt oder zum Kriegsdienst in der preußischen Armee gezwungen wurden: Sie ließen sich im Balkan nieder. Im französischen Raum kann man die Besiedlung des Rouergue bei Albi im 12. Jahrhundert als Reaktion auf die blutige Niederschlagung des katharischen «Ketzertums» auslegen. Ebenso verhält es sich mit der Besiedlung gewisser Bergregionen im Süden Frankreichs, dem Lubéron, den franco-italienischen Voralpen durch die Waldenser, die im 13. Jahrhundert von der Inquisition verfolgt wurden, oder des südöstlichen Zentralmassivs durch die von Ludwig XIV verfolgten Hugenotten im 17. Jahrhundert. Zur Zeit der Ausbeutung Amerikas durch die Europäer flohen zahlreiche afrikanische Sklaven in die Wälder, so z.B. in Brasilien, wo 20.000 von ihnen das Quilombo dos Palmares gründeten. Noch heute existieren «Schwarze Gemeinschaften» in Kolumbien. Auch der zapatistische Aufstand der letzten zwanzig Jahre in Mexiko kann als Wiederaufleben einer modernen Zomia in diesem Land gesehen werden. Es gab noch weitere, bescheidenere Zufluchtsorte, Moor- und Sumpfgebiete, wie die weite Moorlandschaft am Unterlauf des Euphrats, die 2000 Jahre lang eine Zufluchtsstätte bot. (Sie wurde von Saddam Hussein trockengelegt). Der an der Grenze zwischen North Carolina und Virginia gelegene Great Dismal Swamp, der «Große Küstensumpf» bzw. der «Große düstere Sumpf», bot im 17. Jahrhundert vielen Menschen Zuflucht - seien sie europäischer, afrikanischer oder indigener Herkunft -, die unter der Eroberung dieser Region erst durch die Franzosen und dann die Engländer litten. In Polen, an den aktuellen Grenzen zu Weißrussland und der Ukraine, kam den Pripjatsümpfen diese Rolle zu, so wie die Pontinischen Sümpfe in der Nähe von Rom Sklav_innen aufnahmen, die vor dem Römischen Reich flohen. (Sie wurden von Mussolini trockengelegt). Die Liste könnte hier noch sehr lang fortgeführt werden.

Zentren und Peripherien Tatsächlich handelt es sich um eine symbiotische Geschichte von Höhenzügen und Tälern, um eine über die Zeit entstandene Gemeinsamkeit, eine Ko-Evolution zweier antagonistischer und dennoch zutiefst verbundener Räume. Die Zomia befindet sich auf den Grenzen der staatlichen Zentren. Sie entsteht im Widerstand gegen sie.
Von der Ming-Dynastie Mitte des 14. Jahrhunderts und bis in die Qing-Dynastie im 19. Jahrhundert war das südliche China von massiven Aufständen und Auswanderungen als Reaktion auf die Ausbreitung der Han geprägt. Die Han wurden ihrerseits von den aus dem Norden und dem Nordwesten kommenden Mongolen vertrieben. Im Westen kam es von Indien zu einem Vorstoß nach Osten, der ebenfalls die Zomia anwachsen ließ. Die Neuankömmlinge mischten sich mit den Bergbewohner_in-nen, die aus vorangegangenen Vertreibungen stammten. Die Bevölkerung in den Tälern kommt oftmals aus ehemaligen Bergvölkern und umgekehrt. Auf diese Weise entstanden sehr gemischte Gesellschaften.

Hybride Identitäten Diese Gesellschaften brachten hybride Identitäten hervor und waren politisch nicht oder nur sehr vorübergehend geeint. Im Allgemeinen bestanden sie aus kleinen Gruppen, die auf Einheiten wie Klein- und Großfamilien, Parentelen, Weilern, Dörfern und seltener Städten und Verbänden aufbauten. Die politische Organisation in Kleingruppen trug dem Bedürfnis Rechnung, auf die andauernden Razzien der entstehenden Staaten flexibel reagieren zu können. Mal lehnten sie sich auf, mal zogen sie sich auf die einfachste Ebene zurück, in die Familie oder das Dorf, die am besten in der Lage waren, ihr Überleben zu sichern. Man muss beachten, dass ihre ethnischen Hauptidentitäten reine Fiktionen sind. Tatsächlich sind diese «Zerstückelungsgebiete» ein Patchwork aus komplexen kulturellen und sprachlichen Identitäten. Diese Gesellschaften waren alles andere als der Rohstoff, aus dem Staaten und «Zivilisationen» errichtet wurden, sie waren vielmehr ein Abfallprodukt des Prozesses der Staatenbildung. Diese Völker sind ein historisches Archiv der Glauben und Rituale ihrer Vorfahren oder von jenen, die sie sich die im Zuge der Migration angeeignet haben. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts konnte man im Südwesten Chinas interethnische Koalitionen gegen den wachsenden Einfluss der kolonisierenden Han und das kaiserliche Tee-Monopol beobachten. Die Aufstände wurden von «Propheten» christlichen oder buddhistischen Glaubens angeführt. Die Bergvölker waren eher animistisch, und sind heute christlich im Gegensatz zu den eher buddhistischen oder islamischen Tälern. Aber der Animismus bleibt oft in all diesen Religionen präsent.
Marx sagte: «Religiöse Verzweiflung ist einerseits Ausdruck einer tatsächlichen Verzweiflung und andererseits der Protest gegen die tatsächliche Verzweiflung. Die Religion ist der Seufzer der unterdrückten Kreatur, die Seele einer Welt ohne Herz und gleichzeitig ist sie Seele der sozialen Bedingungen, aus denen der Geist ausgeschlossen ist.» Für Max Weber «findet das Bedürfnis nach Heil seinen sichersten Hort in den bedürftigen Klassen».

Nomadische Landwirtschaft Die Einheit dieser Gesellschaften lag eher in ihrer landwirtschaftlichen Praxis: Wanderfeldbau auf brandgerodeten Flächen, die man als «flüchtige Landwirtschaft» verstehen kann (und die heute noch an sehr vielen Orten betrieben wird), Anbau von Jams, Maniok, Hirse, Süßkartoffeln, später dann Mais und Kartoffeln, die bis zur Ernte wenig sichtbar in der Erde bleiben und zum gewünschten Zeitpunkt ausgegraben werden können. Wenn nötig der Rückgriff auf Sammeln, Jagen, Fischen sowie gelegentliche und vorübergehende Zusammenschlüsse mehrerer Gruppen. Manche dieser Gesellschaften betrieben auch nomadische Tierhaltung.
Heutzutage ist die Brandrodung unter dem Vorwand verboten, sie sei eine umweltschädliche Technik, die die oberste Erdschicht zerstöre, zur Bodenerosion führe und den Wald bedrohe. Solche politischen Maßnahmen lassen sich größtenteils damit erklären, dass der Staat sich das Land aneignen will, um es dauerhaft zu bevölkern, um an der Ausbeutung der natürlichen Ressourcen zu verdienen und um die staatenlosen Bevölkerungsgruppen unter seine Macht zu bringen. In Vietnam wurde die Bevölkerung riesigen Umsiedlungs- und Sesshaftigkeitsprogrammen unterzogen. Die französische Kolonialherrschaft auf dem südostasiatischen Festland legte es für ihren Teil vor allem darauf an, das fruchtbare Land in Gummiplantagen umzuwandeln.

Trotz allem verbunden Trotz ihrer Verachtung für die Bergvölker waren die Staaten der Täler mit ihnen durch ökonomische Abhängigkeit tief verbunden und auch dadurch, dass die agro-ökologischen Nischen, die sie besetzten, sich gegenseitig ergänzten. Die Täler waren in Monokulturen von Reisfeldern verwandelt worden und viele Produkte für ihren eigenen Gebrauch und auch für den Küstenhandel mussten sie aus dem Bergland beziehen. Dabei handelte es sich um Walderzeugnisse, Edelhölzer, Sandelholz und Kampfer, Harz und Latex, Heilpflanzen, Honig, Bienenwachs, Tee, Tabak, Opium, Pfeffer und vor allem ab dem 15. Jahrhundert, Edelsteine und Edelmetalle, Vieh und Leder, Baumwolle, Buchweizen, Mais, Süßkartoffeln. Die Aufzählung ist nicht vollständig. Umgekehrt versorgten die Märkte in den Tälern die Bergbewohner_innen mit Produkten, die es bei ihnen nicht gab: Salz, getrockneter Fisch, Metalle, Keramik, Stoffe, Werkzeuge und Waffen aus Metall. Insbesondere fanden die Staaten der Täler bei den Bergvölkern die Arbeitskraft von bei großen Razzien gefangen genommenen Sklav_innen, die systematisch mit einem Brandmal in der Haut versehen wurden. Für die griechische Gesellschaft waren Sklav_innen, vor Wein, Olivenöl und Weizen, das erste Handelsgut. Um die Bergvölker zu besänftigen, vergaben manche Staaten, wie beispielsweise Java im 10. Jahrhundert, Nutzungsrechte an Begünstigte, die sich verpflichteten, den Wald zu roden und vormals für den Wanderfeldbau brandgerodete Flächen in ständige bewässerte Reisfelder umzuwandeln.

Die «versteckten Dörfer» der Karen Der Autor, der sich besonders mit der Karen-Volksgruppe in Burma beschäftigte, zeichnet die Geschichte dieses Volkes nach, das Ende des 18. Jahrhunderts in den burmano-siamesischen Kriegen entwurzelt wurde und das bis heute von den Militärs in Burma mit massiven Aufstandsbekämpfungsstrategien verfolgt wird. Die Armee von Burma nennt die von ihr kontrollierten Gebiete in der Karen-Region «Friedensdörfer» und die, in denen «Rebellen» leben, «versteckte Dörfer». Die Armee befriedigt ihre Bedürfnisse auf Kosten der Bevölkerung. Die unterworfenen Menschen werden mit einem Personalausweis versehen. Wohnsiedlungen werden in der Nähe von Militärstützpunkten gebaut. Viele fliehen nach Thailand. Andere fliehen in die Wälder, schließen sich in Kleinstgruppen zusammen, vor allem als Familien, und kehren zum Sammeln oder zum Anbau von Bananen, Jams, Maniok und Süßkartoffeln zurück. Um Festnahmen zu entgehen, sind Personen, angebaute Kulturen und Felder weit verteilt. Die Briten versuchten am Anfang des 20. Jahrhunderts ohne Erfolg, die Berge der Karen zu «befrieden». Südostasien war während des größten Teils seiner neueren Geschichte bis ins 18. Jahrhundert geprägt von einer relativen Abwesenheit von Staaten. Seit sie in Erscheinung traten, waren die Staaten eher erstaunlich kurzlebig und außerhalb des kleinen und veränderbaren Einflussgebiets ihrer Zentren relativ schwach. Aus dieser Perspektive lässt sich sagen, dass die Staaten die Stämme geschaffen haben. Die von der Ethnographie aufgezeichneten Stammesgesellschaften sind vorwiegend Nebenerscheinungen, die sich in ihren Widerstandsformen gegen die Einverleibungsversuche der Staatsapparate unterscheiden. Für Letztere gilt als «zivilisiert» das dem Staat unterworfene Subjekt, die «Nicht-Subjekte», die «Nicht-Unterworfenen» gelten als «unzivilisiert». Es ist heute möglich, einen Teil der aktuellen Widerstände gegen unsere Gesellschaften mit diesen konzeptuellen Werkzeugen zu analysieren, indem man sie als Versuche sieht, sich der Unterwerfung durch einen Staat zu entziehen, auch wenn der Nationalstaat mittlerweile an Einfluss verliert und nach und nach andere politische Organisationsformen und Strukturen die Aufgabe übernehmen, Individuen und Gruppen zu kontrollieren und zu unterdrücken.

James C. Scott: Zomia ou l’art de ne pas être gouverné, Editions du Seuil, Paris,
The art of Not Being Governed, Yale University Press, 2009

  1. Stammesbewußtsein, - zugehörigkeitsgefühl